1967: Die lange, lange Besatzung
Im Juni 1967 überschritt Israel seine provisorischen Grenzen und machte sich unter dem Schutz einer militärischen Besatzung an ein weitreichendes koloniales Projekt in den neu eroberten Gebieten.
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Im Juni 1967 überschritt Israel seine provisorischen Grenzen und machte sich unter dem Schutz einer militärischen Besatzung an ein weitreichendes koloniales Projekt in den neu eroberten Gebieten. Der historische Zeitpunkt ist bedeutsam: In den späten 1960er Jahren hatte es den Anschein, als gingen die Krisen der Dekolonisierung ihrem Ende entgegen. Während der 1950er und 1960er Jahre trotzten antikoloniale Bewegungen in Asien und Afrika den alten Kolonialmächten die Reste ihrer Weltreiche ab, die sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in einigen Fällen schon in der Frühen Neuzeit errichtet hatten. Manch ernüchternde Erfahrungen mit den Folgen der Dekolonisation standen den befreiten Völkern allerdings noch bevor: die Ablösung direkter politischer Kontrolle durch indirekte Herrschaft, die Unfähigkeit der neuen Eliten, die mit der politischen Befreiung verknüpften Hoffnungen zu realisieren, und die Desillusionierung über „Modernisierung“ und ungehemmte „Entwicklung“ (in dieser Hinsicht hätte man/frau viel von den langen, bitteren Erfahrungen Lateinamerikas lernen können).
Doch 1967, drei Jahre nach Frankreichs endgültigem Abzug aus Algerien, als die USA sich in Vietnam immer tiefer in den Krieg verstrickten, eröffnete Israel ein neues Kapitel in der Geschichte des Konflikts: Es zwang anderthalb Millionen Palästinenser*innen seine militärische Herrschaft auf, unterließ es aber, die meisten der Gebiete zu annektieren – mit Ausnahme Ost-Jerusalems (1967) und der Golanhöhen (1981). Die militärische Besatzung hatte begonnen.
Die Gewaltsamkeit der Besatzung verdeckt den Prozess der Besiedlung
Israel wurde zur Regionalmacht. Es machte die „Schande von 1956“ – Israels erzwungener Abzug aus dem Sinai, nur wenige Wochen nach Ben-Gurions triumphaler Erklärung der Gründung von „Israels Drittem Königreich“ – wieder wett. Der militärische Sieg blendete viele – nicht nur die siegestrunkenen Führer Israels, sondern auch Kritiker*innen der Besatzung. Die militärische Eroberung und die anschließende repressive Herrschaft mit ihren Schrecken und brutalen Praktiken zogen die Aufmerksamkeit auf sich und verdeckten das neue koloniale Projekt.
Rückblickend ist es leicht zu erkennen, dass die israelische Besatzung im Grunde ein unter der Ägide einer militärischen Herrschaft durchgeführtes koloniales Projekt ist. Die Besatzung liefert ideale Bedingungen für den Prozess der Enteignung und Besiedlung: Dieser richtet sich gegen eine rechtlose Bevölkerung unter dem Schutzschild einer militärischen Besatzung, die mit Notstandsverordnungen und ungezügelter Willkür herrscht. Ein großes Durcheinander von militärischen Anordnungen, Überbleibseln jordanischen und osmanischen Rechts, militärischer Gerichtsbarkeit und israelischer Gesetzgebung ermöglicht es dem kolonialen Prozess, effektiv und rasch voranzuschreiten, natürliche Ressourcen, Land und Wasser an sich zu reißen und vollendete Tatsachen zu schaffen. Die Siedlungen sind kein bloßer Zusatz zur Besatzung, kein Missgeschick, das unter dem Druck der messianischen und nationalistischen Rechten zustande kam; sie sind ihr Herz und ihre Seele, ihre eigentliches raison d’être.
Israels koloniales Projekt in den besetzten Gebieten hat drei Grundpfeiler: eine Kette von Siedlungen, ein Straßennetz und ein System von Straßensperren und Checkpoints. Die Siedlungen kontrollieren lebensnotwendige Ressourcen, zerschneiden das besetzte Gebiet und schaffen dynamische Grenzräume („Frontiers“), die sich ständig ausdehnen und den Enteignungsprozess weiter vorantreiben. Die Straßen trennen die kolonialen Herren von ihren Untertan*innen; sie erlauben der Armee und den Siedler*innen, die Gegend effektiv zu kontrollieren und sich schnell zu bewegen, und dienen darüber hinaus als ein Netzwerk zusätzlicher Barrieren, die palästinensische Dörfer und Städte voneinander trennen. Das System der Straßensperren und Barrieren, der Passierscheine und Terminals, Betonmauern und eingezäunter Enklaven hält die einheimische Bevölkerung eingeschlossen, unter ständiger Beobachtung, mit der einzigen Freiheit, ihre Not selbst zu verwalten.[1]
Im Jahr 1967 erschien das Siedlungsprojekt in den besetzten Gebieten als ein Hirngespinst, eine Fantasie, heraufbeschworen von wenigen Propheten der extremen Rechten und einer Handvoll Fanatiker. Im Gegensatz dazu war die militärische Unterdrückung greifbar und dramatisch. Selbst unter den Linken nahmen nur wenige die neu gegründete „Bewegung für Groß-Israel“ ganz ernst, obwohl ihre Zusammensetzung die politische Koalition vorwegnahm, die die Politik Israels in den folgenden Jahren bestimmte. Es war damals eine außergewöhnliche Koalition: altgediente Persönlichkeiten der Arbeiterpartei, Verfechter*innen der alten zionistischen Maxime „Noch ein Stück Land hier, noch ein Stück dort“[2], nationalistische, messianische Rechte, Dichter und Intellektuelle, sowohl säkulare Persönlichkeiten aus Kibbuzim als auch religiöse Zionist*innen, vom Glauben beseelt, dass Gott Abraham das ganze Land versprochen habe. In der Kritik der Linken an der Besatzungspolitik blieb das Siedlungs- und Enteignungsprojekt relativ marginal. Tatsächlich war es schwierig, in der Handvoll Siedler im Park Hotel in Hebron (Pessach 1968) die Anfänge einer großen Siedlungsbewegung zu erkennen.[3] Die Annexion Ost-Jerusalems schien ein symbolischer und juristischer Akt zu sein und wurde als Verstoß gegen das Kriegs- und Völkerrecht verstanden – nicht als Beginn einer umfassenden Umwandlung der Landschaft im Herzen der Westbank (die Zerstörung palästinensischer Häuser gleich nach dem Krieg, um den Platz vor der Klagemauer zu schaffen, war allerdings ein Unheil verkündendes Vorzeichen). Viele vergaßen bald die syrischen Dörfer auf den Golanhöhen, die unmittelbar nach dem Krieg demoliert und deren Bewohner*innen vertrieben wurden. Schätzungsweise zwischen 130.000 und 145.000 syrische Bürger*innen lebten vor dem Krieg auf den Golanhöhen; drei Monate später zählte man/frau gerade noch 6.011 syrische Menschen in vier verbliebenen Dörfern und der Stadt Quneitra.[4] Die Kolonisierung des fruchtbaren Jordantals und der Golanhöhen unter der Führung der eingeschworenen Verfechter der Besiedlung in der Arbeiterbewegung, Israel Galili und Yigal Alon, wurde mit Sicherheitsargumenten gerechtfertigt.
Zehn Jahre später war die Situation wesentlich klarer geworden. Der Schwerpunkt des kolonialen Prozesses verschob sich von landwirtschaftlichen Plantagen – viele von ihnen von neu entstandenen Kibbuzim in den besetzten Gebieten – auf halb städtische Siedlungen; radikale messianische Siedler*innen (aber auch nationalreligiöse Mittelstandsfamilien) traten an die Stelle der Siedler*innen aus dem linkszionistischen säkularen Spektrum. Im Jahr 1978 stellten Matityahu Drobless, Chef der Siedlungsabteilung der Zionistischen Weltorganisation (WZO), und Ariel Scharon, damals Minister für Landwirtschaft und Vorsitzender des ministeriellen Siedlungskomitees, ihre Pläne für die Kolonisierung der Westbank vor. Im Frühjahr 1983 veröffentlichten das Landwirtschaftsministerium und die Zionistische Weltorganisation einen für den Zeitraum bis 2010 angelegten „Masterplan“ für Siedlungen in der Westbank, den „Plan der 100.000“. Bis 1986, so hofften sie, sollten 100.000 Siedler*innen in der Westbank wohnen.[5] Das System der Checkpoints, der Enklaven und der Jüdinnen und Juden vorbehaltenen Straßen in der heutigen Westbank trägt die unverkennbare Handschrift dieses Plans.
An Konflikten über taktische Angelegenheiten, an Streitigkeiten über Geschwindigkeit und Prioritäten mangelte es unter den Partner*innen des Siedlungsprojekts nicht, doch alles in allem wurde das Projekt seit seiner Konzipierung in enger Zusammenarbeit von politischen zionistischen Bewegungen (Gusch Emunim und die Zionistische Weltorganisation) und Regierungsorganen (Verteidigungs- und Landwirtschaftsministerium, Ministerium für Bau- und Wohnungswesen, die Israelische Landverwaltung,[6] die Armee mit ihrer eigenen Siedlungsabteilung) durchgeführt. Was der Staat sich selbst nicht gestatten durfte, übernahmen die Siedlerorganisationen. Sie brachen das Gesetz, der Staat beugte es. Bestritten etwa die Behörden offiziell, dass eine Hauptstraße entlang dem besetzten Jordantal gebaut wird, so überließen sie die Bauarbeiten dem Jüdischen Nationalfonds.[7]
Wie in anderen kolonialen „Frontier“-Zonen wurde der Widerstand der einheimischen Bevölkerung von den Kolonialherren oft dazu benutzt, ihre Herrschaftsbereiche weiter auszudehnen. Um die Sicherheit der bestehenden Siedlungen zu garantieren, mussten Pufferzonen um sie herum eingerichtet werden, die für Palästinenser*innen gesperrt waren; jeder Zusammenstoß war zugleich ein Anlass, bestehende Kolonien durch neue zu verstärken. Ebenfalls darf nicht übersehen werden, dass die beiden massiven Schübe der Besiedlung Ende der 1970er und Mitte der 1990er Jahre stattfanden — zur Zeit von separaten/partiellen Friedensabkommen (mit Ägypten, mit Jordanien, die Oslo-Abkommen und der „Friedensprozess“), die unter vielen Besatzungskritiker*innen die Illusion nährten, hochtrabende Worte und formelle Reden, Symbole und Zeremonien würden neue Realitäten schaffen. Doch eine koloniale Wirklichkeit wird zuallererst durch die Tatsachen am Boden bestimmt, durch Bulldozer und Zäune. Kolonialismus erschöpft sich weder in diplomatischen Manövern noch in spektakulären Gewaltakten. Er ist vor allem ein sozialer und ökonomischer Prozess, der das soziale Gefüge und die Landschaft selbst radikal verändert, mit einer Umverteilung von Ressourcen einhergeht und Menschen enteignet zurücklässt. Seine Folgen sind in gewissem Sinn immer unumkehrbar: Soziale Realität kann nicht ohne Weiteres in ihren vorherigen Zustand zurückverwandelt werden. Diese Erkenntnis darf kein Vorwand sein, sich damit abzufinden; mit diesen Folgen müssen wir uns hart auseinandersetzen, doch dies ist ein langer und schmerzhafter Kampf gegen neu entstandene soziale und wirtschaftliche Realitäten.
Die soziale Dynamik der Kolonisierung
Das größte Versagen der Linken in Israel und aller Gegner*innen der Besatzung besteht in der unzureichenden Auseinandersetzung mit dem Siedlungsprojekt. Massiver politischer Protest begleitete nur die allerersten Schritte des Siedlungsprozesses, etwa gegen wenige, damals spektakuläre Siedlungsprojekte, die große Aufmerksamkeit erregten (Hebron, Elon Moreh in der Nähe von Nablus, Abu Ghneim/„Har Homa“ südlich von Jerusalem). Doch in den 1980ern betraten die „bösen Siedler“ (Mitglieder des jüdischen terroristischen Untergrunds) die Bühne und ließen die ordentlichen „guten Siedler*innen“ vergleichsweise harmlos, ja sogar respektabel erscheinen. Die Schwäche des politischen Protests gegen den israelischen Kolonialismus erinnert an die europäischen Anti-Atom-Bewegungen in den 1970er und 1980er Jahren: Je geringer die Zahl der sich bereits im Betrieb befindlichen Atomkraftwerke, desto stärker war der Protest. In den Ländern, in denen die nukleare Option bereits fest etabliert war, war der Protest deutlich schwächer. Das ist typisch für eine Politik der vollendeten Tatsachen, die einen rasanten Wandel im sozialen Gefüge bewirkt und traditionelle Formen des politischen Protests hinterherhinken lässt. Als Sharon 100.000 Siedler*innen in den besetzten Gebieten versprach, wurde er verspottet. Der Einrichtung des Checkpoint-Regimes in den 1990ern wurde keine angemesse Aufmerksamkeit geschenkt. In den Artikeln der Journalistin Amira Hass, die die sich abzeichnende Wirklichkeit in den besetzten Gebieten eingehend beschrieb, sahen manche das Kleinklein der Menschenrechtsverletzungen und übersahen die frühzeitige Warnung vor einer umfassenden politischen Strategie. Die Straßen, die in den Jahren des „Friedensprozesses“ in den besetzten Gebieten gebaut wurden, wurden als bittere Pillen betrachtet, die zum Wohle „des Prozesses“ geschluckt werden müssten. Wichtiger noch: Ein verkürztes Verständnis der Besatzung als eine nur „politische“ und nicht als soziale Angelegenheit, als bloße Frage von Grenzen und Menschenrechtsverletzungen, unter Ausblendung der Radikalität der sozialen und wirtschaftlichen Transformationen, die jedem kolonialem Prozess zugrunde liegen, hielt die Linke davon ab, sich mit ihr auseinanderzusetzen.
In den 1990er Jahren wurden viele, insbesondere aus der ehemaligen Sowjetunion kommende neue Einwander*innen sowie viele andere Israelis, die ihren Lebensstandard verbessern wollten, in das Siedlungsprojekt einbezogen. Beschleunigte Privatisierung – die zunehmende Tendenz des Staates, sich seiner sozialen Verpflichtungen zu entledigen – ging Hand in Hand mit einem kolonialen Projekt, das von demselben Staat stark subventioniert wurde, der sich innerhalb der Grünen Linie von öffentlichen Investitionen im sozialen Sektor zurückzog. Neoliberale Strukturreformen in Israel, kombiniert mit massiven staatlichen Subventionen in den besetzten Gebieten, führten mehr und mehr arme und entrechtete Menschen (kinderreiche ultraorthodoxe Familien, diskriminierte Mizrachim/Mizrachijot, Neueinwander*innen) in die Westbank-Kolonien. 2003 klagte noch der ultraorthodoxe Bürgermeister der städtischen Kolonie Betar Illit, die Ultraorthodoxen würden gegen ihren Willen als „Kanonenfutter“ in die besetzten Gebiete geschickt werden. Doch auch wer nicht als überzeugte/r SiedlerIn dorthin gekommen war, näherte sich allmählich durch die unausweichliche Frontstellung den ideologisch motivierten Kolonist*innen an.[8] Die Linke nahm kaum Notiz davon, wie wirtschaftliche Benachteiligung und soziale Misere in der israelischen Gesellschaft dazu benutzt wurden, den kolonialen Prozess voranzutreiben. Daher hat sie auch nicht nach Wegen gesucht, diesem Prozess entgegenzuwirken und die sozialen Bündnisse zu untergraben, auf die er angewiesen ist. „Geld für arme Stadtviertel, nicht für Siedlungen“ war ein Slogan, der in den 1980er Jahren einen bescheidenen und oberflächlichen Beginn eines solchen Bewusstseins ausdrückte.
Die fast durchgängige Abriegelung (closure, Hebr. Seger) der Westbank und des Gazastreifens – erstmals 1991, dann nach der Unterzeichnung des Oslo-Abkommens 1993 ganz regelmäßig –, die Hunderttausende Palästinenser*innen daran hinderte, Israel einschließlich des annektierten Ost-Jerusalems zu betreten, war der nächste Schritt und hatte ebenso weitreichende Folgen: Der israelische Kapitalismus machte die palästinensischen Arbeiter*innen überflüssig und verurteilte sie und ihre Familien zu Armut und Not, während er dabei war, sich rasch zu modernisieren und den eigenen Platz im globalen Markt neu auszuhandeln. Auf der einen Seite wurde die Abriegelung zu einem permanenten Zustand, und die besetzten Gebiete wurden fortan dem Regime der Checkpoints und Straßensperren unterworfen, was ihre vollständige Fragmentierung nach dem Ausbruch der Zweiten Intifada im Oktober 2000 vorwegnahm. Gleichzeitig gaben sowohl die zahlreichen Neueinwander*innen aus der ehemaligen Sowjetunion als auch der Import billiger Arbeitskräfte – rechtlose Arbeitsmigrant*innen aus China, Rumänien, Thailand und anderen Ländern – der kapitalistischen Wirtschaft Israels neuen Schwung. Am anderen Ende des rapiden Privatisierungsprozesses und der sozialen Polarisierung in Israel entstand in den 1980er und 1990er Jahren eine neue obere Mittelschicht, die nach Lebensqualität und sozialer Abgrenzung verlangte. „Lebensqualitäts-Siedlungen“ am Rande der Westbank wurden zu einer respektablen, scheinbar apolitischen Option, die das Siedlungsprojekt der oberen Mittelschicht näherbrachte: eingezäunte und bewachte Gemeinden (gated communities) in den besetzten Gebieten, direkt hinter der Grünen Linie, komfortabel mit dem Zentrum verbunden, von Araber*innen und armen Leuten gesäubert, in die koloniale Landschaft eingepflanzt. Ariel Scharon war nicht nur derjenige, der den „Masterplan“ der Kolonien entwarf; er war auch derjenige, der strategisch das Ziel verfolgte, die soziale Basis des Siedlungsprozesses über die Kreise der messianischen Siedler*innen hinaus zu erweitern.
Der israelische Kolonialismus ist kein fossiles Relikt, sondern ein zentraler Aspekt des lokalen Kapitalismus. Kapitalist*innen und Kolonist*innen haben sich auch gleichzeitig gewandelt: Beide haben massive staatliche Unterstützung genossen und es zugleich verstanden, den Staat bei Bedarf abzuschütteln, nur um wieder von ihm unter die Fittiche genommen zu werden, wenn die Umstände es verlangten. Der israelische Kapitalismus ist ein kolonialer Kapitalismus.
Die Beseitigung der Überbleibsel von 1948 aus der Landschaft
Während die Siegesfeiern nach dem Krieg von 1967 noch andauerten und Tausende Israelis ins neu besetzte Hebron und Nablus eilten, war fern der öffentlichen Aufmerksamkeit eine kleine namenlose Einheit bei einer Operation zugange, die zwei Jahre vor dem Krieg, im Frühjahr 1965 oder sogar noch früher, begonnen hatte. Ihre Gründung wurde geheim gehalten, die entsprechende Regierungsentscheidung nie veröffentlicht. Ihr Auftrag lautete, die Landschaft Israels zu „säubern“ – systematisch alle Überbleibsel der palästinensischen Dörfer, die seit dem Krieg von 1948 und der Nakba verlassen lagen, aus der Landschaft auszuradieren.[9] Das Außenministerium behauptete, die Ruinen an den Straßen verursachten „unnötige Fragen“ von Tourist*innen. Nach Ansicht der „Gesellschaft für Landschaftsverschönerung“ sollten lediglich außerordentlich schöne arabische Bauten erhalten bleiben, wie etwa die in Achziv (al-Zeeb). Die Israelische Landverwaltung behauptete, die „Einebnung“ der Dörfer erspare Israels arabischen Bürger*innen Leid – die Frustration darüber, dass sie in die Dörfer ihrer Geburt, in die sie sich zurücksehnten, nicht zurückkehren konnten.
Die Einheit, die von einem ehemaligen Fallschirmjägeroffizier, Hanan Davidsohn, angeführt wurde, machte über 100 Dörfer dem Erdboden gleich. Archäolog*innen wurden herangezogen, um an jedem Ort eiligst eine umfassende Bestandsaufnahme zu machen, bevor die Bulldozer anrückten. Die Gesellschaft für die archäologische Bestandsaufnahme Israels (Society for Archaeological Surveys in Israel) wurde 1964 gegründet und erhielt das Budget für dieses Unterfangen von der Israelischen Landverwaltung. Erfassung und Zerstörung, Dokumentierung und Auslöschung gingen Hand in Hand. Die Archäolog*innen beschwerten sich von Zeit zu Zeit, dass die Bulldozer nicht auf sie warteten und dass es schwierig war, „wilde Ausbrüche“ zu kontrollieren. Ein Mitglied der Knesset, Tawfik Toubi (KPI), erfuhr davon und protestierte dagegen vergeblich im Parlament. Die Wochenzeitschrift Ha’Olam Hazeh veröffentlichte Leserbriefe zum Thema, doch alles in allem geriet das Projekt fast vollständig in Vergessenheit.
Die Operation der „Einebnung“ palästinensischer Dörfer beschränkte sich nicht auf das Gebiet innerhalb der Grünen Linie. Mit dem militärischen Sieg 1967 bekamen Archäolog*innen und Zerstörer ein breites Betätigungsfeld. Schon vier Tage nach Kriegsende entschied die Gesellschaft für die archäologische Bestandsaufnahme Israels, die besetzten Gebiete einer umfassenden archäologischen Erschließung zu unterziehen. Die Zerstörungsoperation wurde ausgeweitet und beschleunigt. Die Archäolog*innen eilten nach Yalou, Beit Nouba und 'Imwas den drei palästinensischen Dörfern im Gebiet von Latrun, deren Bewohner*innen gleich nach dem Krieg 1967 vertrieben worden waren. Die Dörfer wurden zerstört.[10] Die Zerstörung von mehr als 100 Dörfern auf den Golanhöhen wurde ebenfalls von Davidsohns Leuten in Kooperation mit der israelischen Armee durchgeführt.
Diese Operation ist nicht nur ein aufschlussreiches Beispiel für eine Allianz von Wissen und Macht, für die ironische Verflechtung von gründlicher Ausradierung und akribischer Dokumentation. Sie demonstriert darüber hinaus die institutionelle und personelle Kontinuität zwischen dem nach innen gerichteten Kolonialismus innerhalb Israels und dem kolonialen Projekt jenseits der Grünen Linie, in den besetzten Gebieten. Es scheint, als sei Israels Stabilisierung in den Grenzen von 1949 nur vorübergehend gewesen: Die über die arabischen Bürger*innen Israels verhängte Militärregierung wurde erst 1966 (partiell) abgeschafft, bevor die koloniale Expansion 1967 wieder aufgenommen wurde. Die Geheimoperation der Auslöschung der Reste der palästinensischen Dörfer innerhalb der Grünen Linie muss im Kontext der Lockerung der Militärregierung gesehen werden und der Befürchtung, zu denen dies Anlass gab – nämlich dass palästinensische Bürger*innen in die unbewohnten Häuser einziehen könnten. Und gleichzeitig deutet sie die Versuche an, die Besiedlung und Enteignung innerhalb Israels mit neuen, zivilen Mitteln fortzuführen.
Der nach innen und der nach außen gerichtete Kolonialismus
Es ist leicht, weitere Kontinuitäten aufzuzeigen. Die Notstandsverordnungen, ein Sammelsurium repressiver Maßnahmen, die die britische Mandatsregierung dem Staat Israel hinterlassen hatte, dienten als ideales Schutzschild für den nach innen gerichteten Kolonialismus – den andauernden Kleinkrieg, den der Staat Israel gegen seine arabischen Bürger*innen führte. Sie ermöglichten nicht nur die Unterbindung politischer Aktivitäten, sondern auch die Konfiszierung von Eigentum und die Deklaration ganzer Gegenden zu „geschlossenen militärischen Sperrgebieten“. Die Notstandsverordnungen wurden mit dem Ende der Militärregierung innerhalb Israels nicht abgeschafft; vielmehr kamen sie nach 1967 in den besetzten Gebieten zur Anwendung. Des Weiteren wurde die Militärregierung vor dem Krieg 1967 nicht wirklich aufgelöst: Militärische Kontrolle wurde durch strenge polizeiliche Überwachung ersetzt. Die Kontrolle wurde während des Krieges 1967 intensiviert und erst im Oktober 1972 abgeschafft. Darüber hinaus war die offizielle Abschaffung der Militärregierung innerhalb Israels von Premierminister Levi Eschkols Proklamierung einer Operation zur „Judaisierung Galiläas“ begleitet, das heißt zur Ansiedlung jüdischer Bürger*innen in dem Gebiet, in dem die Mehrheit der palästinensischen Bürger*innen Israels leben. Auf sie folgten weitere solcher Kampagnen.
Weitere Beispiele für die innere Verbindung zwischen dem nach innen gerichteten Kolonialismus und dem militärisch gedeckten Kolonialprojekt in den besetzten Gebieten lassen sich mühelos anführen, etwa die Verknüpfung zwischen den Mechanismen der Enteignung arabischen Landes, die im Zuge der „Judaisierung Galiläas“ in den 1960er Jahren perfektioniert wurden, und der massiven Anwendung derselben juristischen Mittel nach 1978 zur Inbesitznahme von „Staatsland“ in der Westbank für die Errichtung neuer Siedlungen. Akteure und Techniken der Enteignung wanderten hin und her zwischen den neu besetzten Gebieten und dem Territorium Israels vor 1967.
Das gilt zum Teil auch für den Protest gegen den nach innen und den nach außen gerichteten Kolonialismus. 1972 erregte die Enteignung der Beduinen aus Pithat Rafiah (südlich von Rafah, am nordöstlichen Ende der Sinai-Halbinsel) und die Zwangsräumung von 1.500 Familien zwecks Errichtung von Siedlungen Aufsehen in der israelischen Öffentlichkeit. Es war eigentlich Ariel Scharons erstes, noch halb geheimes Siedlungsprojekt. Hier wurde zum ersten Mal der Zusammenhang zwischen Besatzung und Kolonisierung, zwischen Vertreibung und Besiedlung so sichtbar, dass von kolonialer Herrschaft gesprochen wurde. Im selben Jahr fand aber auch die erste bedeutende Kampagne statt, in der die Folgen von 1948 und das Los der palästinensischen „anwesenden Abwesenden“(present absentees), die zwar vertrieben und enteignet, aber innerhalb Israels geblieben sind, im Zentrum standen. Die 1948 aus ihren Dörfern vertriebenen Bewohner*innen von Ikrit und Bir’am, Staatsbürger*innen Israels, verlangten, endlich in ihre Dörfer zurückkehren zu dürfen. Die Feldoffiziere von 1948 waren die Generäle der 1960er und 1970er Jahre. Jeder Versuch, die koloniale Dimension der Besatzung herauszuarbeiten, erfordert, dass wir über die Beziehung zwischen Kolonialismus innerhalb Israels und dem kolonialen Projekt in den besetzten Gebieten nachdenken. Sie sind eng miteinander verflochten.
Das bedeutet nicht, dass sie identisch wären. Der nach innen gerichtete Kolonialismus operiert unter politischen und sozialen Bedingungen, die sich von denen, die unter einer militärischen Besatzung vorherrschen, beträchtlich unterscheiden. Vor allem muss er in einem zivilen Rahmen dem Widerstand der palästinensischen Bürger*innen Israels und ihrer politischen Verbündeten entgegenwirken. Bei diesem Widerstand geht es nicht lediglich um einen Kampf um Gleichberechtigung, sondern darum, den Charakter der israelischen Gesellschaft zu verändern, eine umfassende Demokratisierung und Dekolonisierung herbeizuführen.[11] Dies ist für uns alle, jüdische und arabische Frauen und Männer, lebenswichtig, Vorbedingung und Grundlage des Zusammenlebens. Es stimmt: Dieser Kampf hat viele Niederlagen gezeitigt, aber auch einige beachtliche Siege. Zu einem großen Teil ist die partielle Demokratisierung der israelischen Gesellschaft das langfristige Ergebnis dieses Kampfes. Viele Bürger*innen Israels sind sich heute der enormen Schuld nicht bewusst, die sie gegenüber der palästinensischen nationalen Minderheit innerhalb Israels tragen, deren Kampf für ihre Rechte die Kontrollmechanismen der israelischen Gesellschaft herausgefordert und die demokratischen Rechte aller Bürger*innen ausgeweitet hat. Der Kampf gegen das koloniale Projekt in den besetzten Gebieten findet unter wesentlich härteren Bedingungen statt.
1967 als Wendepunkt in der gesellschaftlichen Entwicklungen
Über die Beziehung zwischen der Besatzung und der israelischen Gesellschaft innerhalb der Grenzen von vor 1967 nachzudenken, das erfordert mehr als nur einen statischen Vergleich der Prozesse, die sich auf den beiden Seiten der Grünen Linie vollziehen. 1967 müsste als Moment einer historischen Dynamik verstanden werden, als ein zentraler Knotenpunkt von Prozessen, der zwar auf vorangegangenen kolonialen Phasen aufbaut, zugleich aber tief greifende strukturelle Veränderungen mit sich bringt. Tatsächlich stellt 1967 ein Wendepunkt in der sozialen und politischen Geschichte Israels dar, wie es der kritische Soziologe Shlomo Swirski in einem bedeutenden Artikel gezeigt hat.[12] Mit dem Wandel Israels zur Regionalmacht im Jahr 1967 förderte der Staat die Entstehung von Großkonzernen und von einem riesigen industriell-militärischen Konglomerat. Ausgerechnet nach dem großen Sieg erhöhte der Staat den Sicherheitsetat und subventionierte damit massiv neue Wirtschaftssektoren, vor allem die Rüstungsindustrie. Diese neue Bourgeoisie, erklärt Swirski, gewann an Macht und Selbstvertrauen und betrachtete sich letztendlich selbst als Alternative zur altgedienten politischen Elite der Arbeitspartei. Sie spielte bei den Wahlen von 1977 eine entscheidende Rolle, als sie sich dem rechten Likud anschloss und ihm die Macht übertrug (man/frau denke an die hochrangigen Offiziere, Ökonom*innen, Firmenchefs, Akademiker*innen und Medienleute, die sich zur Gründung der kurzlebigen Dasch-Wahlliste zusammenfanden). Doch für das Tagesgeschäft der Politik waren die meisten von ihnen nicht geschaffen. Mit der Zeit zogen ihre Mitglieder eher die indirekte Kontrolle durch Interessengruppen und Lobbys, Expert*innen und Sonderberater*innen, Ökonom*innen und hochrangige Beamt*innen vor, statt direkt in die Parteipolitik einzusteigen.
Dieses industriell-militärische Konglomerat wurde zum Brutkasten von Israels neuen Technologien. Im Kontrast dazu wurden die „Entwicklungsstädte“ in Israels Peripherie schnell zu historischen Relikten, basierend auf „traditionellen Industrien“, obwohl viele von ihnen erst in den nicht so fernen 1960er Jahren gegründet worden waren.[13] Den Schritt vom „kleinen“ Israel zu „Groß-Israel“ kündigte eine Verschiebung von einer inklusiven, auf ethnischer Arbeitsteilung basierenden Entwicklungspolitik zur exklusiven Entwicklungspolitik einer regionalen Großmacht an, die auf enormen Investitionen in den Sicherheitssektor (Armee und Rüstungsindustrien) und in die Siedlungen in den besetzten Gebieten sowie auf der konsequenten Kultivierung der lokalen Bourgeoisie beruht. Israels Bourgeoisie entstand unter der Obhut des Staates auf der Basis öffentlicher Investitionen. Nach 1948 profitierte sie von der massiven Enteignung der Palästinenser*innen und von der Arbeitskraft machtloser Immigrant*innen, viele von ihnen Jüdinnen und Juden, die aus arabischen Ländern gekommen waren (Mizrachim/Mizrachijot). Hinzu kamen nach 1967 die neue staatliche Politik und die Früchte der Besatzung. Mitte der 1980er Jahre war die Bourgeoisie mächtig genug geworden, um Privatisierungen zu fordern und zu verlangen, dass die staatliche Kontrolle ihrer Aktivitäten begrenzt wird.
Die immer größer werdenden Klassenunterschiede in Israel sind ebenso im Zusammenhang mit dem neu erworbenen imperialen Status und dem erneuten kolonialen Impetus zu sehen: Stark subventionierte neue Siedlungen in den besetzten Gebieten drängten die „Entwicklungsstädte“ an den Rand. Die neuen kolonialen Grenzräume („Frontiers“) hingegen, direkt und indirekt subventioniert durch die massive Präsenz der Armee und umfangreiche staatliche Investitionen, waren in keiner Weise Teil der Peripherie. Sie waren gut mit den Zentren des wirtschaftlichen und politischen Lebens verbunden und passten perfekt in das Projekt der Kultivierung von Israels Bourgeoisie.
Spuren des kolonialen Prozesses in der Gesellschaft
Israel als eine durch Siedlerkolonialismus geprägte Gesellschaft zu betrachten bedeutet keineswegs, sie für homogen zu halten. Es hat nichts mit einem Diskurs zu tun, der Israel als eine undifferenzierte „koloniale Entität“ porträtiert. Im Gegenteil: Es ist ein erster Schritt zum Verständnis der besonderen Dynamik und der Widersprüche des israelischen Kapitalismus. Der koloniale Prozess beruht auf der Ausbeutung sozialer Nöte, verspricht aber einigen auch bedeutende Profite. Er gibt den Klassengegensätzen in Israel ihre spezielle Färbung und brandmarkt die Unterdrückten als „Orientalen“, als Araber – auch wenn diese das ganz entschieden ablehnen. Er lässt auch die Elite „westlich“ erscheinen und verstärkt ihre kulturelle Arroganz – selbst wenn ihre tatsächlichen Wurzeln in Osteuropa liegen. Man/frau kann die ethnischen Spaltungen und Diskriminierungen in der jüdischen Gesellschaft oder den Status der arabischen Kultur in der israelischen Gesellschaft nicht verstehen, ohne zu berücksichtigen, dass in allen kolonialen Gesellschaften die Kultur der Unterworfenen verleugnet und verspottet wird.
In siedlerkolonialen Gesellschaften werden den Siedler*innen häufig wichtige Privilegien dafür eingeräumt, dass sie sich in den Dienst des kolonialen Projekts stellen. Hierbei handelt es sich nicht um anerkannte soziale Rechte, sondern um konditionale Privilegien, zerbrechlich und unbeständig. Es sind keine Rechte, sondern fragwürdige politische Gaben, die an Bedingungen geknüpft sind: Loyalität erweisen und bereit sein, sich in den Dienst des Projekts zu stellen. Diese Privilegien bröckeln und verschwinden allmählich, je weiter die kolonialen „Frontier“-Grenzräume vorrücken. Die strategische Schwäche sozialer Kämpfe in Israel gegen die vereinten Kräfte von Kapital und Staat lässt sich nicht verstehen, ohne die Fragilität von Siedlergesellschaften zu berücksichtigen, die unter dem Schutz von „Kolonisierungsinstitutionen“ – so ihre alte offizielle Bezeichnung – leben. Und die ungeheure Macht des israelischen Staates und dieser „Kolonisierungsinstitutionen“ lässt sich nur verstehen, wenn sie als Erben des Britischen Hochkommissars für Palästina und der zionistischen Bewegung betrachtet werden, die vorhaben, „menschlichen Staub“ (in Ben-Gurions Worten) in „ein Stück des Walles gegen Asien“ (so Theodor Herzl) im Herzen des Nahen Ostens zu verwandeln. Ein ganzes System von bedingten Privilegien und Abhängigkeiten von mächtigen Patronen entwickelt sich in kolonialen Gesellschaften: Jüdinnen und Juden gegen Araber*innen, Veteranen der Armee gegen diejenigen, die nicht gedient haben, die Front gegen das Hinterland, palästinensische Bürger*innen Israels gegen Palästinenser*innen, die unter der Besatzung leben. Dieses System der Privilegien treibt die Diskriminierten und Unterdrückten der israelischen Gesellschaft in die Arme ihrer Patrone und bedroht ihre Zukunft. Ein antikolonialer Kampf in Israel ist ein Kampf gegen die Besatzung – aber auch einer für soziale Gleichheit und für die Abschaffung eines Systems von Gaben und Diensten.
Das weitreichende politische Projekt der Siedlungsbewegung nach 1967 beschränkt sich nicht darauf, die Palästinenser*innen zu enteignen und ihnen ihr Land abzunehmen. Es ist zugleich der Versuch, die israelische Gesellschaft zu verwandeln, sie zu ihren „Wurzeln“ zurückzuführen, sie in ihrer Gesamtheit – wenn nicht direkt, dann stellvertretend – zu einer militanten Kolonialgesellschaft zu machen, im ständigen Krieg gegen den arabischen Osten. Das wilde „Frontier“ soll demnach auf die schon etablierte Gesellschaft zurückwirken. Alle Israelis sind Nachfahren vorangegangener Siedlergenerationen, die in Palästina häufig nicht aus tiefer politischer Überzeugung oder zionistischer Ideologie, sondern (wie viele andere Immigrant*innen) eher als Resultat der Katastrophen des 20. Jahrhunderts angekommen waren. Nun sollen sie wieder zu bewussten „Frontier“-Siedler*innen werden. Sie sollen sich mit den militanten Kolonist*innen identifizieren, die nicht mehr als eine isolierte Gruppe fanatischer Nationalist*innen wahrgenommen werden sollen, sondern als Avantgarde der israelischen Gesellschaft als Ganzer.
Das Siedlungsprojekt endgültig zum Stillstand zu bringen ist daher die wichtigste politische Aufgabe aller Gegner*innen der Besatzung: Zunächst weil es um den Rest dessen geht, was den Palästinenser*innen bleibt; wenn dieser Enteignungsprozess fortschreitet, wird es keine gemeinsame Zukunft geben – weder in einem Staat noch in zwei Staaten. Es ist ebenso ein Kampf gegen die ständige „Rekolonisierung“ der israelischen Gesellschaft. Israel braucht eine Bewegung, die sich nicht nur dem kompromisslosen Kampf gegen die Besatzung verschrieben hat, sondern auch Kolonialismus in allen seinen Facetten bekämpft – sowohl die nach außen gerichtete, militärische Variante als auch die nach innen gerichtete, die mit zivilen, wirtschaftlichen und kulturellen Mitteln geführt wird.
Ein Staat, zwei Staaten, gar keiner?
Bedeutet das oben ausgeführte, dass der Kampf gegen die Besatzung aufgeben werden darf? Keineswegs. Man/frau mag einen, demokratischen binationalen Staat oder zwei wirklich gleichberechtigte und demokratische Staaten befürworten: Das Ende der Besatzung ist Vorbedingung jeder politischen Lösung.
Einige Teile der israelischen Linken haben die Siedlungen Schritt für Schritt akzeptiert: angefangen mit Peace Nows Einstellung ihres Kampfes gegen die „Siedlungsblöcke“, über den von Beilin und Abu-Mazen ausgearbeiteten Plan bis hin zu Stimmen, die raten, sich mit dem Weiterbestehen der Siedlungen in der Westbank und auf den Golanhöhen abzufinden. Für die Palästinenser*innen in der Westbank heißt dies, die Chancen einer künftigen Entwicklung zu verlieren und den Preis der mangelnden Bereitschaft in der israelischen Gesellschaft zu bezahlen, sich der schwierigen Kernfrage der Kolonisierung zu stellen. Dies bleibt die Hauptfrage auch im Rahmen eines gemeinsamen Staates für Israelis und Palästinenser*innen in den Grenzen des historischen Palästina auf der Basis des Prinzips „ein Mensch – eine Stimme“. Ein solcher Staat, aufgebaut auf der Altlast von 100 Jahren Kolonialismus, in dem die Institutionen der zionistischen Bewegung weiterhin direkt oder indirekt die Schlüsselressourcen kontrollieren, in dem das jüdische Kollektiv die Privilegien und angehäuften Früchte der Enteignung der Palästinenser*innen weiterhin genießt, während die Mehrheit der Palästinenser*innen unterhalb der Armutsgrenze lebt – würde liberale Apartheid bedeuten. Er würde die Ergebnisse des Kolonisationsprozesses legitimieren und ihnen ein schönes liberales Gewand überziehen.
Wenn der eine Staat nur deshalb propagiert wird, weil das Ende der Besatzung nicht in Sicht ist, wenn geglaubt wird, dadurch ließe sich die Hauptfrage – die Siedlungen – umgehen, so täuscht man/frau sich. Apartheid „mit menschlichem Antlitz“ ist keine Option. Auch wer glaubt, dass die Zwei-Staaten-Lösung es erlaubt, sich die Auseinandersetzung mit dem nach innen gerichteten Kolonialismus in Israel zu ersparen, täuscht sich. Es gibt eben keine Abkürzungen. Es ist verständlich, wenn angesichts des andauernden Elends zu schnellen Lösungen gegriffen wird. Aber für vielversprechende Wundermittel und illusorische Abkürzungen haben wir schon bisher teuer bezahlt.
Es ist verlockend, wenn die Mauern und Zäune weiter wachsen und die Besatzung bald ein halbes Jahrhundert dauert, sich eine Zukunft jenseits des Heute und Morgen detailliert auszumalen, über Verfassungen künftiger politischer Gebilde zu debattieren, sich über die Frage zu zerstreiten, ob ein Staat zwei Staaten vorzuziehen oder gar keiner richtig sei. Es ist eine Scheindebatte. Nicht um die Anzahl der Kisten geht es, sondern um deren Inhalt; nicht die Anzahl der Staaten, sondern die Art der historischen Dynamik, die sie fördern. Jede ernst zu nehmende politische Lösung wird auf den Prinzipien der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung beruhen; Demokratie und Binationalität werden so oder so unentbehrlich sein – in einem Staat oder in zweien. Auch wenn sich Israel in die Grenzen von 1949 zurückzieht, bleibt es eine binationale Gesellschaft – und dementsprechend muss auch der Staat verfasst sein; umso mehr, wenn vom Meer bis zum Jordan ein gemeinsames politisches Gebilde entstehen würde, das gleiche Rechte – individuell und kollektiv – für alle garantiert. Und jede politische Lösung muss darauf hin geprüft werden, ob sie uns der Beilegung des Konflikts in all seinen Formen (nicht nur Kriege, klein und groß, sondern auch Enteignung, Zerstörung, Vertreibung) und der historischen Aussöhnung zwischen unseren Völkern näherbringt, das heißt, ob sie zur Dekolonisierung beiträgt – kein „Big Bang“, sondern ein langwieriger Prozess der Auseinandersetzung mit den offenen Wunden und tiefen Narben, die der Kolonialismus in jedem Lebensbereich, in der Landschaft und der Verteilung des Reichtums und der Ressourcen, im Arbeits- und Familienleben, in den Geschlechterverhältnissen und in unserer Vorstellungskraft hinterlassen hat.
Eine frühere Fassung ist auf Hebräisch im Juni 2007 in MiTzad Sheni (Alternative Information Center, Jerusalem) erschienen und wurde später von Georg Fahrion ins Deutsche übersetzt. Diese völlig überarbeitete Fassung entstand in Zusammenarbeit mit Ursula Wokoeck Wollin (April 2016).
Gadi Algazi, 1961 in Tel Aviv geboren, in Göttingen promoviert, ist Professor am Institut für Geschichte der Universität Tel Aviv mit den Schwerpunkten Sozial- und Kulturgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, historische Anthropologie und Geschichte der Sozialwissenschaften. Er ist Autor zahlreicher Aufsätze, war Herausgeber der Zeitschrift History & Memory und ist Redaktionsmitglied der Zeitschriften Past & Present und Historische Anthropologie.
Algazi ist zudem eine der zentralen Figuren der israelischen Linken: 1979 gehörte er zu der ersten Gymnasiastengruppe, die sich geweigert hat, in den besetzten Palästinensergebieten zu dienen. Wegen mehrerer Verweigerungsakte, die eine rege Debatte in der Öffentlichkeit auslösten, wurde er verhaftet, letztendlich aber dank einer öffentlichen Kampagne nach einem Jahr im Gefängnis freigelassen. In den 1980er Jahren beteiligte er sich an den Protesten gegen Israels militärische Interventionen im Libanon, und während der Zweiten Intifada war er Mitbegründer von Ta’ayush, eine der wenigen Protestbewegungen, in denen Palästinenser*innen und Israelis auf Augenhöhe kommunizierten und agierten. Als Aktivist ist er heute in verschiedenen Kämpfen engagiert, vor allem als Gründungsmitglied von Tarabut, einer jüdisch-arabischen Bewegung, die verschiedene Kämpfe zu verbinden sucht – etwa gegen die Besatzung und für ein Ende der neoliberalen Privatisierungspolitik, gegen fortwährende Marginalisierung von Mizrachim/Mizrachijot und die staatlich verordnete Verdrängung der Beduin*innen im Negev.
Weiterführender Link
Literatur
• Hagemann, Steffen: Die Siedlerbewegung. Fundamentalismus in Israel, Schwalbach am Taunus 2010
• Hass, Amira: GazaTage und Nächte in einem besetzten Land, München CH-Beck, 2003
• Krämer, Gudrun: Geschichte Palästinas. Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel, 5., durchges. Aufl., München: Beck 2006.
• Kimmerling, Baruch: The Invention and Decline of Israeliness. State, Society, and the Military, Berkeley: University of California Press 2005.
• Metzger, Jan/Orth, Martin/Sterzing, Christian: Das ist unser Land. Westbank und Gaza-Streifen unter israelischer Besatzung, Bornheim-Merten: Lamuv 1980.
• Sand, Shlomo: Die Erfindung des Landes Israel: Mythos und Wahrheit, Berlin 2014
• Segev, Tom: Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates, München 2010
• Segev, Tom: 1967, Israels zweite Geburt
• Shavit, Ari: Mein gelobtes Land. Triumph und Tragödie Israels, München 2015.
• Shlaim, Avi: The Iron Wall: Israel and the Arab World, London: Allen Lane 2000.
• Sternhell, Zeev: The Founding Myths of Israel: Nationalism, Socialism and the Making of the Jewish State, Princeton1997 (3. Aufl. 1999).
• Swirski, Shlomo: Israel: The Oriental Majority, London/New Jersey: Zed Books 1989.
• Weizman , Eyal Sperrzonen - Israels Architektur der Besatzung, Edition Nautilus, 2009
• Zuckermann, Moshe: Israels Schicksal, Wien 2014
• Orna Ben-Naftali, Michael Sfard, Hedi Viterbo, The ABC of the OPT. A Legal Lexicon of the Israeli Control over the Occupied Palestinian Territory, Cambridge 2018.
Anmerkungen:
[1] Handel, Ariel: Exclusionary Surveillance and Spatial Uncertainty in the Occupied Palestinian Territories, in: Zureik, Elia et al. (Hrsg.): Surveillance and Control in Israel/Palestine: Population, Territory and Power, London 2011, S. 259–279.
[2] Das heißt, bei jeder Gelegenheit wird ein weiteres Stück Land da erworben, wo es gerade möglich ist. Die Zeile entstammt einem bekannten Kindergedicht von Yehosucha Friedmann, das Mitte der 1930er Jahre zu Ehren des Jüdischen Nationalfonds geschrieben wurde.
[3] Die Kolonisierung Hebrons begann durch eine Gruppe radikaler Siedler.
[4] Vgl. Fogelman, Shai: The Disinherited, in: Haaretz, 30.10.2010.
[5] Drobless, Matitiyahu: The Settlement in Judea and Samaria – Strategy, Policy and Program (Hebräisch), Jerusalem 1980; Ministry of Agriculture/The Settlement Division of the World Zionist Organization: Master Plan for Settlement for Judea and Samaria, Development Plan for the Region for 1983–1986, Jerusalem 1983.
[6] Die Israelische Landverwaltung ist die Behörde, die das Land verwaltet, das nicht Privateigentum ist. In Israel selbst sind dies über 90 Prozent des gesamten Landes.
[7] Ma‘ariv, 23.2.1973. In den ersten zehn Jahren der Besatzung war der Jüdische Nationalfonds (KKL) für die Infrastrukturarbeiten der meisten Siedlungen zuständig, nach 1977 wurde er weitgehend durch die Siedlungsabteilung der Zionistischen Weltorganisation abgelöst.
[8] Vgl. Algazi, Gadi: Kapital, Kolonialismus und ziviler Widerstand in der Westbank, in: Historische Anthropologie 14 (2006) 3, S. 441–456.
[9] Shai, Aron: The Fate of Abandoned Arab villages in Israel, 1965–1969, in: History and Memory 18 (2006) 2, S. 86–106.
[10] Vgl. dazu das Zeugnis von Amos Kenan, damals Reservist in der israelischen Armee: Kenan, Amos: Bericht über die Ausradierung von Dörfern und die Vertreibung von Flüchtlingen, Juni 1967, in: Israel: Ein vergeudeter Sieg, Tel Aviv 1970, S. 18–21 (Hebräisch).
[11] Algazi, Gadi: Zionism in the Present Tense, in: Birk, Michaela/Hagemann, Steffen (Hrsg.): The Only Democracy? Zustand und Zukunft der israelischen Demokratie, Berlin 2013, S. 47–61.
[12] Swirski, Shlomo: 1967: Ein ökonomisch-politischer Wendepunkt in Israel, in: ‘Iyyunim bi-Tekumat Israel 16 (2006).
[13] Diskriminierung und Marginalisierung prägten Israels sog. „Entwicklungsstädte“, die vor allem im Süden und Norden des Landes entstanden sind, um Israels territoriale Zugewinne von 1948 zu sichern. Die Mehrheit ihrer Bewohner*innen sind Mizrachim/Mizrachijot.
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