Der Zauber wirkt noch immer. Netanjahu siegt erneut.
Nach den Wahlen in Israel: Ernüchterung bei den Linken. Am Tag nach den Wahlen in Israel wissen wir es: Der alte Zauberer Benjamin Netanjahu hat zum vierten Mal nach 1996, 2009 und 2013 die Wahlen gewonnen. Die Kampagne seiner Herausforderer vom Zionistischen Lager, die zum Wahlkampfauftakt erfolgte Zusammenführung von Kadima, einer Abspaltung von Likud und der Arbeitspartei misslang gründlich.
Nach den Wahlen in Israel: Ernüchterung bei den Linken
Am Tag nach den Wahlen in Israel wissen wir es: Der alte Zauberer Benjamin Netanjahu hat zum vierten Mal nach 1996, 2009 und 2013 die Wahlen gewonnen. Die Kampagne seiner Herausforderer vom Zionistischen Lager, die zum Wahlkampfauftakt erfolgte Zusammenführung von Kadima, einer Abspaltung von Likud und der Arbeitspartei misslang gründlich. Sie prangerten Netanjahu als degoutant an und stellten ihr Führungsduo Jitzchak Herzog und Tzipi Livni als anständige Alternative, die jedoch keinem wehtun würde - weder den Wirtschaftsbossen, noch den Siedler*innen in den besetzten Palästinensergebieten. Die gegen ihn gerichtete Kampagne verstand Netanjahu jedoch zu seinen Gunsten umzukehren und vermochte es - entgegen allen Prognosen - ein fulminantes Comeback kurz vor der Zielgerade zu vollbringen.
Netanjahus Gegenoffensive war eine mitunter rassistisch unterlegte Angstkampagne. Noch am Wahltag warnte der amtierende Premier davor, dass die arabisch-palästinensische Minderheit im Land mit Bussen zu den Wahllokalen gekarrt werde und gegen die Interessen der jüdischen Mehrheitsgesellschaft stimmen würde. Schon in den Wochen davor stilisierte er sich zum weißen Ritter, der nicht einmal davor zurück schreckte, den amerikanischen Präsidenten vor beiden Häusern des US amerikanischen Parlaments zu brüskieren, wenn es darum geht, Israel und das jüdische Volk - in dessen Namen er zu sprechen vorgibt - vor dem Untergang zu retten. Das Kalkül ging auf! Viele israelische Wähler scharten sich an der Wahlurne, um das so angefachte Stammesfeuer in einer unsicheren Welt - in dem ein ständiger Kampf zwischen Gut und Böse herrscht, in der es nur ein Siegen oder ein Besiegt-Werden geben kann - am brennen zu halten.
Das Ergebnis und eine wahrscheinliche Koalition
Im Ergebnis wird Netanjahus Likud mit voraussichtlich 30 Mandaten von 120 Knesset-Abgeordneten mehrere Koalitionspartner suchen müssen. Diese wird er aber wahrscheinlich vor allem aus dem eigenen rechten Lager rekrutieren können, ohne zusammen mit dem Zionistischen Lager (24 Mandate) eine Große Koalition bilden zu müssen. Natürliche Partner wären Das Jüdische Haus, eine Partei mit einem geschlossenen, rassistischen Weltbild und acht Mandaten, Unser Haus Israel des Populisten und vor allem bei Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion beliebten Avigdor Lieberman (sechs Mandate), sowie die beiden Parteien, die die sektoralen Interessen der religiösen Juden vertreten (insgesamt 13 Mandate). Zusammen mit den zehn Mandaten von Wir Alle des abtrünnigen Likud-Ministers Mosche Kachlon würde er 67 Mandate haben und damit eine für israelische Verhältnisse stabile Regierung bilden können, die Wahlanalysten im Vorfeld der Wahlen kaum für möglich gehalten hatten.
Keine Alternative in Sicht
Das Wahlergebnis bedeutet die Fortführung der jetzigen israelischen Regierungspolitik auf allen Feldern. Schon während des Wahlkampfs vermieden alle Hauptakteure eine ernsthafte Diskussion über die zwei großen Problemfelder, die Israels Geschicke maßgeblich bestimmen: Der Konflikt mit den Palästinenser*innen und die sich stetig vertiefende Besatzung der Palästinensergebiete samt ihrer verheerenden Wirkungen auf die innere Verfasstheit der israelischen Gesellschaft und Demokratie einerseits, andrerseits eine Wirtschaftspolitik, die die Kluft zwischen Arm und Reich enorm wachsen und die öffentlichen Güter zugunsten eines kaum regulierten privaten Sektors immer weiter schrumpfen lässt. Gegen Letzteres entstand vor wenigen Jahren eine enorme Protestwelle, die bei diesen Wahlen allerdings nur noch blasse Erinnerung blieb.
Linke Reaktionen
Bei den israelischen Linken ist die Enttäuschung groß. Viele haben zwar den Zentristen um das Zionistische Lager keinen grundsätzlichen Politikwechsel zugetraut, doch hofften sie darauf, dass wenigstens einige spektakuläre Siedlungsprojekte gestoppt, die Privatisierungspolitik abgemildert und das menschenverachtende Internierungslager für Flüchtlinge aus der Subsahara geschlossen würden.
Das Ergebnis sorgt für Ernüchterung, doch manche linke Aktivist*innen und Beobachter*innen, etwa der politische Geograf Oren Yiftachel sehen das auch positiv. Diese Wahlen hätten uns klar vor Augen geführt, dass das politische System in Israel nicht in der Lage sei, die existentiellen Themen anzugehen. Auf dieser Analyse aufbauend müssen die israelischen Linken aller Couleurs die Säulen eines notwendigen, grundlegenden Politikwechsels eruieren. Vor allem angesichts der fortwährenden Kolonisierungspolitik gegenüber den Palästinenser*innen seien diese Wahlen auch ein Weckruf an die «internationale Gemeinschaft», sich stärker, ähnlich wie in Nordirland oder Südafrika, zu engagieren.
Wer ist Träger emanzipatorischer Politik?
Angesichts des schlechten Abschneidens (vier Mandate) der vor allem vom jüdischen Bildungsbürgertum gewählten Partei Meretz, die offensiv und wagemutig mit dem inzwischen verfemten Begriff Links umging bleibt in der parlamentarischen Sphäre jenseits einiger einzelner Abgeordneten der Arbeitspartei die Vereinte Liste die einzige Hoffnung auf emanzipatorische Politik.
Die Vereinte Liste möchte die gesamte palästinensische Minderheit in Israel vertreten, die etwa zwanzig Prozent der israelischen Bevölkerung ausmacht. Ihre Mitglieder sind gleichberechtigte Staatsbürger*innen Israels, werden aber gleichzeitig stark benachteiligt. Die Liste verbindet die linke, ehemals kommunistische Chadasch mit Balad, einer palästinensischen nationalen bis nationalistischen Partei, die sich von Chadasch abgespalten hatte, sowie eines vor allem islamistisch geprägten Parteienbündnisses. Die Reaktionen auf die Vereinigung waren begeistert. Die Wahlbeteiligung erhöhte sich beträchtlich, sodass die palästinensische Minderheit künftig deutlich besser vertreten und in der kommenden Knesset mit 13 Mandaten drittgrößte Partei ist.
Dieses gewagte Experiment wird vom israelischen Establishment unisono abgelehnt, gestern durften sie bei der wichtigsten Elefantenrunde im Fernsehen nicht einmal mit dabei sitzen. Doch auch wenn die Vereinte Liste nur von wenigen Tausend jüdischen Israelis gewählt wurde – sie ist neue Heimat derjenigen jüdischen Israelis, die an Chadasch angebunden sind, darunter vor allem radikale, anti- und postzionistische Linke -, so hat sie ausdrücklich ein politisches Angebot für die gesamte israelische Gesellschaft, für ein Ende der Besatzung und für mehr soziale und ökonomische Gerechtigkeit. Ob die Vereinte Liste mehr als die Summe ihrer Teile wird und ob sie von weiteren – außerparlamentarischen - Kreisen als emanzipatorische, gesamtgesellschaftlich relevante Kraft wahrgenommen wird, werden wir erst in den Wochen und Monaten nach den Wahlen feststellen können.
Tsafrir Cohen ist Leiter des Israel-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Autor:in
Tsafrir Cohen leitete das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv zwischen 2015-2020.