Die mysteriöse russische Seele
Die Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion habe zur Erstarkung reaktionärer Tendenzen in der israelischen Gesellschaft geführt, meinen viele linke und liberale Israelis. Doch ist die Realität nicht komplexer? Und was sagt diese Behauptung über das Selbstverständnis der Alteingesessenen aus?
«Die israelische Linke besteht hauptsächlich aus Juden europäischen Hintergrunds. Die Russen kümmern sich einen Dreck um die Geschichte dieses Landes, von der sie nicht die leiseste Ahnung haben […] Sie lesen ihre russischsprachigen Zeitungen, die alle ultra-nationalistisch und rassistisch sind», schrieb ein prominenter linksgerichteter aschkenasischer Aktivist vor einigen Jahren in einem Artikel. Und er ist nicht der einzige, der so denkt. Viele in Israel geborene linke Juden nehmen automatisch an, dass die russischen Juden nationalistisch, rassistisch, anti-palästinensisch und ein Hindernis für den Frieden sind.
Als ich als Fernsehmoderatorin bei einem russischsprachigen TV-Sender arbeitete, hatte ich die Gelegenheit, eine Reihe linker Aktivist*innen zu interviewen. Ich dachte damals, es sei wichtig, ihre bedeutsame Arbeit unserer Gemeinschaft näherzubringen. Und da kam mir Gedanke: Was, wenn ich diejenige wäre, die das Interview gibt – statt andersherum? Was, wenn die linken Aschkenasim (Juden europäischer Herkunft) mehr darüber erfahren wollten, was in der russischsprachigen Gemeinschaft in Israel so los ist, was unsere Kämpfe, Sorgen, Ansichten und Werte sind?
Der folgende Text ist ein solch imaginäres Interview. Nennen wir mein Gegenüber Schlomo, ein aschkenasischer Mann, der seit vielen Jahren in der Friedensbewegung aktiv ist.
Shlomo: Warum haben sich die Migrant*innen aus der früheren Sowjetunion nicht dem linken zionistischen Lager und der Arbeitspartei angeschlossen? Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Tatsache, dass das Friedenslager sich hauptsächlich aus aschkenasischen Juden zusammensetzt, kulturell bedingt ist. Wir sind einfach weltoffen, liberal und egalitär. Die Russ*innen haben hingegen eine inhärent rassistische Vorstellungswelt, sie leben in einer abgetrennten Gemeinschaft, in einem selbstgeschaffenen Ghetto und sprechen weiter Russisch. Sie möchten sich uns nicht anschließen oder von uns lernen.
Assia: Ich glaube nicht an das Konzept eines «inhärenten Rassismus», Schlomo. Bedenke, dass die zionistische Ideologie selbst (zumindest in der Vergangenheit) in vielerlei Hinsicht auf einem jüdischen Überlegenheitsgefühl gegenüber den Araber*innen basierte sowie auf dem Glauben an ihr Recht, den Palästinenser*innen ihr Land nehmen und sie des Landes verweisen zu dürfen. Als dann vermehrt Jüdinnen und Juden aus muslimisch geprägten Ländern einwanderten, wurden sie von den Anführern der Arbeitspartei als «Dreck» bezeichnet, als genetisch minderwertig, und es wurde von ihnen erwartet, den Gebrauch der arabischen Sprache unmittelbar einzustellen und sich stattdessen unter die Aschkenasim zu mischen und ihnen nachzueifern.
Und tatsächlich ließen sich viele der neuen Migrant*innen aus der früheren Sowjetunion in russischsprachigen Enklaven nieder, deren Sprache, Essen und Kultur sie teilten. Viele Menschen neigen dazu, sich mit Menschen ähnlichen Hintergrunds anzufreunden und solche Menschen zu heiraten. Ein anderer Grund für diese Abgrenzung besteht allerdings auch in der abschätzigen Haltung der (vorgeblich liberalen) Aschkenasim. Um ein Beispiel zu geben: Vor ein paar Jahren entschied ein befreundetes Pärchen, beide hochgeschätzte Professor*innen, ins wohlsituierte karmelitische Stadtviertel in Haifa zu ziehen. Dann hörten sie ihre aschkenasischen Nachbar*innen hinter ihrem Rücken über sie lästern: «Seht ihr, die Russen kommen und schon geht unsere schöne Gemeinschaft hier den Bach runter!
Ich denke, dass an dieser Stelle das Beharren darauf, unsere Kultur zu bewahren und eine lebendige russischsprachige Gemeinschaft zu erhalten, die Grundfesten erschüttert, die in Israel im Sinne von «ein Land – ein Volk – eine Sprache – eine Kultur» als nicht hinterfragbarer Wert hochgehalten wurden. Die Juden, die nun aus muslimisch geprägten Ländern kommen, tragen zu einem Revival der Mizrachi-Kultur bei, die in Israel während der ersten Jahrzehnte seiner Existenz unterdrückt wurde. Indem sie sich weigern, es den Aschkenasim gleichzutun und sich stattdessen unter eigenem Vorzeichen integrierten, haben die Migrant*innen aus der früheren Sowjetunion im Gegenteil die Diversität in Israel befördert.
Wenn sie aber darauf beharren, Russisch zu sprechen, wie kann es dann überhaupt einen Dialog geben?
In der Tat ziehen es viele Migrant*innen der postsowjetischen Staaten (insbesondere die Älteren) vor, Russisch zu sprechen, aber man würde doch erwarten, dass politische Bewegungen sich in so einem Fall bemühen, ihre Weltsicht den Menschen trotzdem näher zu bringen. Der rechtsgerichtete Likud investierte enorme Ressourcen und Energie, um die Herzen der russischsprachigen Öffentlichkeit zu gewinnen – sei es in Form von Versammlungen, Debatten, Aktivismus, Materialien – und lenkte von Beginn an Ressourcen in die russischsprachigen Medien. Und bei der linken Meretz? Die russische Gemeinschaft hört alle paar Jahre flüchtig von der Partei, und zwar kurz vor den Wahlen. Vergleich einfach nur den russischsprachigen Webauftritt der rechtsgerichteten Likud-Partei, der voller Artikel, Texte, News und aktueller Updates ist, mit der Website der linken Meretz-Partei auf Russisch – die meisten der Links führen zu Texten auf Hebräisch und die letzte Aktualisierung stammt von 2013!
Nun, wir investieren unsere Energie in Leute, die unsere Werte teilen. Welchen Sinn hätte eine Hinwendung zu den russischsprachigen Jüdinnen und Juden, wenn diese alle rechtsgerichtet sind?
Ein Blick auf die rechten Parlamentarier*innen in der Knesset, vor allem in ihrer Zusammensetzung vor 30 Jahren, genügt, um zu erkennen, dass die allermeisten von ihnen Juden europäischer Herkunft waren – also zur damaligen (und noch immer aktuellen) Elite gehörten. Als es sich dann 1990 abzeichnete, dass die russischen Juden lieber in die USA emigrierten, übten eben diese Eliten Druck auf die US-Regierung aus, um die Tore der USA zu schließen, sodass die russischen Juden gezwungen waren, nach Israel zu kommen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die meisten potenziellen Migrant*innen noch nicht einmal über die Idee nachgedacht, nach Israel zu ziehen, geschweige denn die Siedlungen zu unterstützen! Der damalige Premierminister Jitzchak Schamir, selbst aschkenasischer Jude und Anführer der rechten Likud-Partei, sagte seinen Anhänger*innen bei einer Parteiveranstaltung Anfang 1990, dass die einsetzende alijah-Flut (Migration nach Israel heißt alija, wörtlich: Aufstieg) zu einem «größeren Israel, einem stärkeren Israel, Eretz Israel» führen werde. «Für diese große alijah werden wir auch den zugehörigen Raum benötigen.» Das wurde weithin als ein Verweis auf «Groß-Israel» verstanden, das heißt als Aufforderung zur Ausweitung des Siedlungsbaus.
Viele der russisch-jüdischen Migrant*innen wurden von denselben politischen Eliten dazu angehalten, sich in den jüdischen Stadtteilen Ost-Jerusalems niederzulassen, die heute den palästinensischen Teil der Stadt umgeben. Um die Neuankömmlinge unterzubringen, wurde der Bau neuer Wohnungen in den Stadtteilen Neve Ya‘acov, Gilo und Pisgat Ze’ev im «Großraum Jerusalem» bewilligt. Ein Großteil der neuen Behausungen wurde in Siedlungen errichtet, und die Wohnungen dort waren sehr viel billiger, so dass die oft verarmten Migrant*innen sich diese eher leisten konnten. Zur unausgesprochenen Politik gehörte es, die Neuankömmlinge in Orte mit einer gemischten Bevölkerungsstruktur zu schicken oder in jüdische Gemeinschaften unweit arabischer Gemeinden innerhalb der Grünen Linie [Begriffserklärung siehe Glossar], wie etwa Ramle/Lod oder Nazareth-Ober-Nazareth, wodurch sichergestellt werden sollte, dass die Palästinenser*innen in der Minderheit blieben. Da die wenigsten Migrant*innen zu Beginn der 1990er Jahre über nennenswertes Kapital oder über Wissen zur lokalen Situation verfügten, hatte das Establishment leichtes Spiel, sie als Teil seiner Strategie der «Judaisierung» [Begriffserklärung siehe Glossar] zu instrumentalisieren. Diese elitären Kreise bestanden, was nicht weiter überraschend ist, zum größten Teil aus Vertreter*innen der in Israel oder Europa geborenen Juden.
Seitdem ist viel Wasser den Bach hinuntergeflossen, aber aktuell unterstützen die Russ*innen die nationalistische Agenda und wählen zum überwiegenden Teil rechts, ebenso wie die orientalischen Juden und die religiösen Zionist*innen.
Ich denke, es ist wichtig, nicht direkt anzunehmen, dass die traditionelle israelische «rechte Weltsicht» deckungsgleich ist mit der Weltsicht russischsprachiger Migrant*innen. Beispielsweise stimmt es einfach nicht, dass wir, die Russisch sprechenden Migrant*innen, «nationalistischer» sind (und ich nehme hier an, dass der jüdische Nationalismus gemeint ist) als die durchschnittlichen, in Israel geborenen Jüdinnen und Juden. Und ich kann diese Einschätzung sogar mit Statistiken untermauern.
Ich zitiere hier eine Studie des Israelischen Demokratie-Instituts. Darin heißt es, dass 43 Prozent der israelischen Veteran*innen der Meinung sind, dass jüdische Staatsbürger*innen Israels mehr Rechte als nicht-jüdische Staatsbürger*innen haben sollten. Unter Migrant*innen ist dieser Anteil sehr viel geringer und liegt bei 23 Prozent. Es gibt viele mögliche Erklärungen für dieses Ergebnis, hier jedoch die offensichtlichste: Mehr als ein Drittel derjenigen, die seit 1990 nach Israel emigriert sind, definieren sich nicht als jüdisch. Sie kamen nach Israel im Rahmen der Rückkehrgesetzes [Begriffserklärung siehe Glossar], das nicht nur Juden nach religiöser Tradition (Kinder jüdischer Mütter) die Staatsbürgerschaft verleiht, sondern auch den Kindern jüdischer Väter, Enkeln mit mindestens einem jüdischen Großelternteil sowie den Ehepartner*innen in allen genannten Fällen.
Da sie aber in Israel nicht als jüdisch anerkannt werden, dürfen sie in Israel nicht einmal heiraten. In Israel gibt es nur religiöse Eheschließungen, keine standesamtlichen. Sprich, die Trauung von Jüdinnen und Juden übernimmt das orthodoxe Rabbinat, Christ*innen heiraten in der Kirche usw.
Aber die Russ*innen können doch als Christ*innen heiraten oder etwa nicht? Genau wie Muslime über die Scharia-Gerichte?
Das ist genau der Punkt, den viele Israelis verwirrend finden. Traditionell bedeutet Jüdisch-Sein nämlich sowohl die eigene Religion als auch die Herkunft. Aber in den meisten anderen Ländern, einschließlich der Sowjetunion, ist das nicht der Fall. Deine Vorfahren können 100 Prozent italienisch sein, aber du selbst kannst Buddhist*in oder Atheist*in sein. Der ganz überwiegende Teil der Menschen aus dem früheren Sowjetraum sind Atheist*innen, weshalb eine kirchliche Heirat für sie nicht von Interesse ist. Sie definieren sich als Russ*innen, Ukrainer*innen, Armenier*innen usw., aber nicht als Christ*innen. Neben dem Heiratsthema gibt es auch noch das Problem, dass sie nicht auf jüdischen Friedhöfen bestattet werden können. Du kannst mir glauben, wenn ich sage, dass jüdischer Nationalismus für die meisten dieser Leute ganz weit weg ist.
Darüber hinaus war es aber auch so, dass selbst die «100-prozentigen Juden» in Sowjetzeiten gezwungen wurden, sich von ihrer Religion und Herkunft zu distanzieren. Viele von ihnen waren mit jüdischen Gebräuchen nicht vertraut. Die Migrant*innen aus der früheren UdSSR haben säkulare Ansichten (im Gegensatz zur restlichen jüdischen Bevölkerung Israels), und das betrifft ihre Selbstdefinition, ihren Lifestyle, ihre Position zu Fragen von Staat und Religion. Die Gemeinschaft trägt also eher dazu bei, das Gesicht des israelischen Staates zu verändern und ihn auf vielfältige Art und Weise weniger religiös und nationalistisch zu machen: indem sie für standesamtliche Ehen eintreten, für Transportmöglichkeiten am Samstag, was vom jüdischen Gesetz verboten ist, indem sie gegen die Versuche, ihre Läden, die nicht-koscheres Essen verkaufen, zu schließen, protestieren usw.
Okay. Das sehe ich ein, aber sie unterstützen tatsächlich die Siedlungen, sind gegen den Friedensprozess und hassen Araber*innen wie der Rest der Rechten, oder?
Was die Siedlungen angeht, so hat ihre Ablehnung eines Rückzugs aus der Westbank nur ganz am Rande etwas mit der Frage einer geschichtlich und kulturell verwurzelten jüdischen Identität zu tun, vielmehr mit Fragen staatlicher Sicherheit. Es ist eine viel flexiblere Position, da sie nicht mit einer messianischen Vision (die eher charakteristisch für die religiös-zionistische Bewegung ist) verbunden ist. Es sollte daher nicht überraschen, dass die allermeisten russischsprachigen Wähler*innen 1992 für Premierminister Jitzchak Rabin und 1999 für Ehud Barak stimmten, beides Anführer der Arbeitspartei, weil sie ihnen am ehesten zutrauten, Sicherheit zu gewährleisten.
Ein weiterer Punkt: Du baust einen Gegensatz auf zwischen Russ*innen, die angeblich Araber*innen hassen und den Friedensprozess ablehnen, und Aschkenasim, die angeblich Araber*innen lieben und den Frieden anstreben. Und doch wünscht sich ein Großteil der zionistischen Linken, in Parteien und Bewegungen zugleich, eher eine Abgrenzung von den Araber*innen – von Liebe oder mindestens der Achtung der Menschenrechte kann hier keine Rede sein. Viele meinen, dass Israel entweder das Land behalten kann, dann aber den arabischen Bewohner*innen die demokratischen Rechte verweigern wird, womit es seinen demokratischen Status verlieren würde. Oder dass Israel das Land behalten und seinen arabischen Bewohner*innen alle demokratischen Rechte zugestehen kann, womit die Juden bald zahlenmäßig ins Hintertreffen rücken würden und Israel seinen Status als jüdischer Staat verlieren würde. Angesichts dieser beiden Optionen erscheint ihnen ein palästinensischer Staat als kleineres Übel.
Selbst wenn, stimmt es dennoch, dass in der russischen Öffentlichkeit rassistische Einstellungen weniger verpönt sind als etwa bei den liberal gesinnten Aschkenasim.
Ja, es stimmt leider, dass sich viele (nicht jedoch alle) russischsprachigen Migrant*innen rassistisch äußern, obgleich es schwierig ist zu beurteilen, ob das häufiger vorkommt als etwa bei israelischen Veteranen. Wir sollten jedoch nicht außer Acht lassen, dass sie selbst häufig Rassismus, Vorurteilen, Schmähungen, Gewalt und Diskriminierung vonseiten der in Israel geborenen Juden ausgesetzt sind.
68 Prozent der jüdisch-israelischen Veteran*innen denken, dass die meisten Migrant*innen aus den früheren Sowjetrepubliken nicht richtig jüdisch sind, 69 Prozent lehnen eine Heirat von Familienmitgliedern mit nicht-jüdischen Israelis russischer Herkunft ab.
Etwa die Hälfte der israelisch-jüdischen Bevölkerung denkt, dass die Geburt in Israel eine wichtige Bedingung dafür ist, ein «echter Israeli» zu sein.
Viele wurden marginalisiert, diskriminiert, in schlecht bezahlte Tätigkeiten mit geringem Ansehen gezwungen, die meisten wurden zum Ziel von Schmähungen, Vorurteilen und einer herablassenden Behandlung, ihre Kinder wurden oft gemobbt, Frauen und Mädchen zu Objekten degradiert und belästigt. Es gibt kaum ein russisches Mädchen, das wegen seines russischen Akzents oder Namens von seinen Mitschüler*innen nicht schon als Prostituierte beschimpft worden wäre. Eine Studie, die ich gemeinsam mit ein paar Kolleg*innen im Rahmen des «Frauensicherheitsindex» durchführte, kam zu dem Ergebnis, dass Frauen und Mädchen aus den früheren Sowjetrepubliken zwei Mal so häufig von sexueller Gewalt betroffen sind wie Frauen und Mädchen, die in Israel geboren wurden.
Und es geht nicht allein um Statistiken, es ist auch das allgemein vorherrschende Gefühl, Bürger*innen zweiter Klasse zu sein. Ich möchte an dieser Stelle gerne auf ein persönliches Erlebnis verweisen. Ich führte ein Gespräch mit einer prominenten linken Aktivistin, die sich bei mir über eine Begegnung mit einem der religiösen Führer des Landes beschwerte. Diese Begegnung hatte bei ihr ein Gefühl der Unzulänglichkeit hinterlassen und sie war richtiggehend empört. Sie sagte mir (und hatte dabei offenbar für einen Augenblick vergessen, mit wem sie sprach): «Ich bin das Salz der Erde in Israel, nicht irgendeine Neueinwanderin, die sich für ihre bloße Existenz entschuldigen müsste.»
Auf der politischen Ebene sind Angriffe linker Parteien auf russischsprachige Mitglieder der Knesset häufig von Sprüchen durchsetzt wie «Die Russen kommen aus einem totalitären Regime, sie verstehen unsere Realität und unsere Idee von Demokratie nicht» oder «Liebermann (ein prominenter russischsprachiger Parlamentarier und Verteidigungsminister) ist der israelische Putin» usw. Diese Stigmatisierung führt zu einer Entfremdung derjenigen russischsprachigen Menschen, die einer Agenda des Friedens und der Gerechtigkeit eigentlich offen gegenüberstehen, sich im «linken Club» aber nicht willkommen geheißen und respektiert fühlen.
Aber Lieberman betreibt eine anti-palästinensische Politik und ist klar antidemokratisch gesinnt, und die Russ*innen geben ihm und den rechten Parteien ihre Stimme.
Nun, die Dinge sind nicht überall statisch und auch nicht überall gleich. Das gilt sowohl für die Positionen von Migrant*innen als auch für ihr Wahlverhalten und ganz besonders für die Perspektiven der jungen Menschen in dieser Bevölkerungsgruppe. Ich würde am liebsten ganz viele Beispiele anführen, werde mich aber auf ein paar wenige beschränken.
Vor ein paar Jahren entstand die Bewegung «Generation 1,5», der viele jüngere Migrant*innen angehören, die von ihren Eltern als Kinder oder Jugendliche nach Israel gebracht wurden. Sie möchten ihre eigene kulturelle Identität bewahren, aber zugleich auch Gleichheit als Wert unterstreichen. So beschreiben sie sich selbst: «Wir möchten in einem Staat mit einer liberalen jüdischen Identität leben, der gleiche Rechte für alle Bewohner anstrebt und wo jede Person oder Gruppe ihr kulturelles und menschliches Potenzial ausleben kann. Wir glauben an die israelische Gesellschaft und an ihre Fähigkeit, eine Modellgesellschaft zu erschaffen, die Solidarität zwischen ihren Bürgern fördert und in Frieden mit ihren Nachbarn lebt. […] Wir glauben, dass der Einsatz für diese Ziele innerhalb und außerhalb unserer Gruppe Ausdruck der Solidarität zwischen den verschiedenen Teilen der Gesellschaft ist und die Grundlage für einen neuen politischen Ansatz bietet, der die Grenzen der Gemeinschaften überwinden kann.»
Bis zum Jahr 2006 gab es mit Roman Bronfman einen russischsprachigen Parlamentarier in der Knesset, der der linken Meretz-Partei angehörte. Aktuell gibt es mit Ksenia Svetlova eine russischsprachige Parlamentarierin im zionistischen Lager, zu dem die Arbeitspartei gehört. Sie war früher Fernsehjournalistin und im Ressort für arabische Themen tätig. Sie spricht fließend Arabisch, bereiste die arabische Welt sowie die Westbank und den Gazastreifen, wo sie den mittlerweile verstorbenen PLO-Führer Jassir Arafat ebenso wie den verstorbenen Hamas-Führer Ahmed Yassin interviewte. Und wenn wir schon bei der vorgeblich «ultranationalistischen und rassistischen Presse» sind: Svetlova arbeitete mehr als zehn Jahre lang als Vollzeitkorrespondentin für den wichtigen russischsprachigen TV-Sender Channel 9 in Israel. Ihren Sitz in der Knesset nutzt sie heute, um gegen das Monopol orthodoxer Juden auf alle Aspekte des religiösen Lebens in Israel anzukämpfen. Dabei legt sie ihren Fokus auf die Einführung einer standesamtlichen Ehe für Hunderttausende, die ansonsten in Israel nicht heiraten könnten, weil sie als Nicht-Juden definiert oder Teil der LGBT-Gemeinschaft sind.
Es gibt eine sehr bedeutende Website namens ReLevant mit News und Analysen, die demokratische Werte und einen alternativen Diskurs unter der Russisch sprechenden Bevölkerung fördern und darüber hinaus traditionell marginalisierten Stimmen Raum bieten will. Mehr als 20 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung Israels haben die Website bereits besucht. Sie veröffentlicht eigene Texte, Meinungsartikel sowie Analysen zu einer großen Bandbreite an Themen: zum Friedensprozess, zum Rassismus, zum sozialen Wohnungsbau, zu den Wahlen, LGBT-Rechten, Direktbeschäftigung, zum Feminismus, zu den fortwährenden Umwälzungen in der arabischen Welt sowie zu den Rechten von Minderheiten.
Die russischsprachige Gemeinschaft ist seit Jahren für ihre Umtriebigigkeit in den sozialen Netzwerken bekannt. Eine der herausragenden Figuren dabei ist Vera Reider, eine brillante und enorm engagierte Person, die seit Jahrzehnten Stellung gegen die Besatzung, für soziale Gerechtigkeit und für den Feminismus bezieht. Sie hat die FORA-Bewegung (russischsprachige Feministinnen) mitgegründet und war auch bei Ta’ayush aktiv (Ta’ayush ist eine Organisation, die in den besetzten palästinensischen Gebieten Palästinenser*innen dabei unterstützt, ihr Zuhause und ihr landwirtschaftlich genutztes Land zu bewahren, und versucht, sie vor der Gewalt von Seiten israelischer Siedler*innen und der Armee zu schützen). Veras spitze Feder, ihre brillanten Analysen und ihre ungebrochene Energie verschaffen ihr eine prominente Stellung in den politischen Auseinandersetzungen auf russischsprachigen Internetseiten und sorgen bei vielen Leser*innen für eine Verbreitung ihrer Ideen. Zahlreiche Personen, die die Inhalte von Vera lesen oder hören, erzählten mir von einem radikalen Wandel ihrer Einstellungen und einer Hinwendung zu einer linken Perspektive.
Aber wie kommt es dann, dass die Russ*innen nie meiner Organisation beigetreten sind? Sie haben sich nicht einmal für unseren Newsletter angemeldet. Ich habe das Gefühl, dass ich sie erst für uns gewinnen müsste, aber ganz offensichtlich ist ihnen die Geschichte dieses Landes, von der sie ohnehin keine Ahnung haben, keinen Pfifferling wert.
Ich will dir nicht zu nahetreten, aber es macht mir ganz den Eindruck, als ob die Vorstellung deiner Organisation darin bestünde, dass sie die Message vorgibt und die Russ*innen von euch lernen sollen, wie die Geschichte war und wie dieser Konflikt zu lösen ist. Ich möchte keinesfalls die Errungenschaften deiner Organisation kleinreden, aber ich bin davon überzeugt, dass Ansätze, die wirklich funktionieren, auf Kooperation basieren, darauf, einander zuzuhören und die unterschiedlichen Perspektiven in Betracht zu ziehen. Solcherlei gemeinsame Initiativen gibt es auch in großer Zahl.
Morashtenu, eine wichtige Organisation, die im Kontext von Migrant*innen aus der früheren Sowjetunion aktiv ist und dort eine liberale Agenda mit entsprechenden Menschenrechtsthemen verfolgt, hat sich mit weiteren jüdischen und palästinensischen Organisationen zum „Bündnis gegen Rassismus“ zusammengeschlossen. Die von Anna Talisman geleitete russischsprachige LGBTQ-Gruppe Devchata arbeitet mit der feministischen Mizrachi-Organisation Achoti an einem gemeinsamen Projekt zur Bekämpfung von Sexismus und Rassismus. Gemeinsam mit Freund*innen von mir gründeten wir LIGA, eine russischsprachige feministische Gruppe, die jetzt mit Shutafot kooperiert, einem Bündnis gegen Diskriminierung und für die Förderung gleicher Beschäftigungschancen für palästinensische, äthiopische, russischsprachige und Mizrachi-Frauen. Ein weiteres Beispiel ist Women Wage Peace, eine breite Graswurzelbewegung, die sowohl von Israel als auch von den Palästinenser*innen einen Gewaltverzicht fordert, zu dem sich beide Seiten vertraglich verpflichten sollen. Diese Bewegung umfasst Frauen aus verschiedenen Gruppen, darunter auch eine sehr aktive Gruppe russischsprachiger Aktivist*innen.
Die russischsprachige Gemeinschaft stellt 15 Prozent der jüdischen Bevölkerung in Israel. Und sollte die Linke sie weiterhin ignorieren und ihr unterstellen, sie sei quasi von Natur aus nationalistisch und rassistisch, wird sie diese Bevölkerungsschicht schwerlich «gewinnen» können und auch keine Mehrheit in Israel hinter sich bringen, die für Frieden und Gerechtigkeit kämpft. Dafür bräuchte es einen respektvollen Dialog, eine entsprechende Berichterstattung, Kooperation, Solidarität sowie Unterstützung für Themen, die alle angehen, die in Israel leben, einschließlich der russischsprachigen Gemeinschaft. Dann könnte Hoffnung aufkeimen.
Übersetzt von Sebastian Landsberger
Assia Istoshina ist Forscherin und Koordinatorin für den Frauensicherheitsindex im feministischen Zentrum Isha leIsha und Mitbegründerin der russischsprachigen Frauenbewegung LIGA. Die russischsprachige Journalistin und Aktivistin wanderte 1989 aus Moskau nach Israel ein und erhielt einen MA in Konfliktlösung an der Hebräischen Universität. Sie fungierte als Moderatorin und Redakteurin des täglichen Interviewprogramms "One to One" zu aktuellen Ereignissen in Israel auf RTV International Channel und moderierte die TV-Sendung "Die ganze Portion Thora – Die Orthodoxie und die säkulare Sichtweise“. Sie betätigt sich auch im israelisch-palästinensischen Kontext und hat mehrere israelisch-palästinensische Dialoggruppen begleitet.
Weiterführende Links
Interview mit der Aktivistin Sonya Soloviev
Download PDF