Unangenehm bleiben
Ein Überblick über die Geschichte des politischen Protests in Israel aus der Perspektive der außerparlamentarischen Bewegungen
Hintergrund
Ein Überblick über die Geschichte des gesellschaftlichen und politischen Protests in Israel aus der Perspektive der Bewegungen und Organisationen, die daraus hervorgingen, erfordert zunächst einen kurzen Blick auf die Grundlagen der politischen Infrastruktur und Kultur Israels seit der Staatsgründung im Jahr 1948.
Bis zur politischen Wende im Jahr 1977, in der eine Likud-geführte rechte Regierung an die Macht kam und die Parteien der Arbeiterbewegung – geführt vom Ma'arach – ablöste, regierte im Land eine aus Osteuropa stammende aschkenasische Elite, die die Politik, die Industrie, den Arbeitsmarkt, die Landwirtschaft und das Gesundheitswesen fest in ihrem Griff hatte. Bis 1977 wurde die junge israelische Demokratie von der Vorherrschaft einer Partei (Mapai, und später Ma'arach), die einen säkular-jüdischen, zionistischen und sozialdemokratischen Charakter hatte, geprägt. Um allgemeine Zustimmung unter den in Israel und in der Diaspora lebenden Jüdinnen und Juden für die politische zionistische Vision zu finden, wurden Staat und Religion nicht getrennt und die Rechte der bzw. des Einzelnen dem unterstellt, was als vorteilhaft für das im Land sich formende zionistische Kollektiv gesehen wurde. Von Anfang an, in der Konstituierenden Versammlung der Knesset, wurde beschlossen, dem neuen Staat keine Verfassung zu geben, sondern sich auf eine Reihe von grundlegenden Gesetzen, die nach und nach verabschiedet werden können, zu stützen. Das Rückkehrgesetz, das die Knesset 1950 verabschiedete, gewährt Jüdinnen und Juden, die aus der Diaspora nach Israel einwandern, sofortige Staatsbürgerschaft (und sie werden als olim chadaschim – wörtlich: neue Aufsteiger – bezeichnet, weil die Einwanderung nach Israel als Aufstieg gesehen wird) und sichert eine jüdische Mehrheit im Land, da den palästinensischen Flüchtlingen kein Recht auf Rückkehr in ihre Heimat gewährt wird. Bis heute besitzen die von der britischen Mandatsregierung im Jahre 1945 erlassenen „Verteidigungs-(Ausnahmezustands-)Verordnungen“ Gültigkeit. Diese Verordnungen setzen das Rechtssystem außer Kraft und geben der Regierung unkontrollierte Macht, legalen zivilen Widerstand gegen Maßnahmen, die die Regierung vorantreiben will, auszuschalten. Die Frage der „nationalen Sicherheit“ spielt eine wichtige Rolle in der Konstruktion des zionistischen Kollektivs als eine „sich verteidigende Demokratie“, die von außen von Feinden umgeben ist und stets auch durch „innere Feinde“ bedroht wird, womit vor allem die palästinensischen Staatsbürger*innen Israels, die bis 1966 der Militärregierung unterstellt blieben, gemeint sind. Der Staat Israel ist der Staat aller Jüdinnen und Juden weltweit, nicht aber der Staat aller seiner Bürger*innen. Dies ist das größte Hindernis auf dem Weg zu einer liberalen, offenen und auf Gleichberechtigung beruhenden Demokratie.
Der Ethos der Eigenstaatlichkeit, ein spezieller israelischer Begriff (Mamlachtijut) , der in den ersten Jahren intensiv gefördert wurde und dessen prominentester Befürworter der erste Premierminister Israels, David Ben-Gurion, war, verdient besondere Aufmerksamkeit. Unter Eigenstaatlichkeit ´versteht man/frau im israelischen Diskurs, dass Juden und Jüdinnen einen eigene Staat benötigen und dass diesem Staat alles andere, etwa allgemeine Bürgerrechte untergeordnet werden müssen. In seinem Namen wurden zentrale nicht staatliche, oft parteigebundene Organisationen aus der Zeit des britischen Mandats aufgelöst, wie zum Beispiel der mit der Arbeiterbewegung identifizierte Palmach[1] sowie die mit der nationalen Rechten identifizierten paramilitärischen Organisationen Etzel/Irgun[2] und Lechi[3]. Im Schmelztiegel der zionistischen Eigenstaatlichkeit mussten sich Veteranen aschkenasischer Herkunft, Holocaust-Überlebende, aus arabischen und muslimischen Ländern stammende Jüdinnen und Juden (Mizrachim/Mizrachijot) sowie traditionelle, nationalreligiöse und ultraorthodoxe Jüdinnen und Juden wohl oder übel integrieren.
Doch der Schmelztiegel wurde bald zum Dampfkessel, in dem religiöse, ethnische, nationale und soziale Unterschiede und Auseinandersetzungen in der israelischen Gesellschaft unter Verschluss gehalten wurden. Dem entspringen auch mit rassistisch-nationalistischer Propaganda geladene Existenzängste, die sich am „ethnischen Dämon“ (gemeint ist der Protest der Mizrachim/Mizrachijot, die aus arabischen und muslimischen Ländern stammen und gegen ihre Benachteiligung kämpfen) oder am „demografischen“ (Was passiert, wenn eine ultraorthodoxe Mehrheit den Charakter des Staates bestimmt? Oder was passiert, wenn die Anzahl der Palästinenser*innen die der Jüdinnen und Juden erreicht?) festmachen. Diese Gespaltenheit und Polarisierung, die das Leben in Israel charakterisieren, und insbesondere der israelisch-palästinensische Konflikt haben das Bewusstsein und die Handlungsmuster der kritischen Linken stets geprägt.
Ein weiteres Konzept, das ich in seinem spezifisch israelischen Kontext erklären möchte, ist das des Konsenses. Im Allgemeinen hat der Konsens vonseiten der Regierung das Ziel, politische Zustimmung in Fragen der Politik, Sicherheit und Wirtschaft zu erlangen und eine ihr fügsame öffentliche Meinung zu schaffen. Wichtige Prüfsteine des Konsenses sind Krisenzeiten, in denen nationaler Gehorsam nicht selbstverständlich ist. In Israel muss „Konsens“ auch in Verbindung mit der Sicherheitspolitik und dem israelisch-palästinensischen Konflikt gesehen werden. So bildete sich eine konsensgetragene Erwartung, dass Israels Politik in Bezug auf den Konflikt, die fortgesetzte Besatzung der palästinensischen Gebiete oder der zunehmenden Militarisierung des zivilen Lebens als selbstverständlich hinzunehmen sind. Je stärker die Manifestationen zivilen Ungehorsams gegenüber dieser Erwartung im Laufe der Zeit wurden, desto mehr wurde der „Konsens“ zum Maßstab des Patriotismus der Staatsbürger*innen und der politischen Bewegungen. Linke, außerparlamentarische Bewegungen, die gegen die Besatzung sind, und insbesondere solche, die sich für eine jüdisch-palästinensische Koexistenz einsetzen, die sich gegen Menschenrechtsverletzungen engagieren, die sich dem Einsatz militärischer Gewalt als generelle Alternative zu politischen Schritten widersetzen und die gegen die „Mauer des Konsenses“ und seine lautstarken Vertreter*innen in der Politik, den Medien und den sozialen Netzwerken ankämpfen, scheitern im Allgemeinen daran, dass sie weithin als unpatriotisch gesehen werden.
Im ersten Jahrzehnt nach der Staatsgründung bis in die frühen 1960er Jahre unter der Herrschaft einer Partei, die als mitte-links gesehen wurde, und angesichts der Dominanz des Ethos der Eigenstaatlichkeit, der den Charakter des jungen Staates prägte, erhoben sich die ersten Stimmen des Protests lediglich vonseiten einzelner Personen und zahlenmäßig kleiner Gruppen. Um einige Beispiele zu nennen: Die Liga gegen religiösen Zwang wurde gegründet, um für die Trennung von Staat und Religion zu kämpfen; Shurat HaMitnadvim (Die Reihe der Volontäre) wurde innerhalb der Arbeiterbewegung gegründet, um gegen Regierungskorruption zu kämpfen; Kanaaniter Gruppen (benannt nach dem Namen der Bewohner*innen des Landes in der Antike), die bereits vor 1948 gegründet wurden, verfochten weiterhin ihre Vorstellung von einem jüdischen, nicht zionistischen, hebräischsprachigen Staat mit mittelöstlichem Charakter; die palästinensisch-arabische Bewegung al-Ard (Der Boden), die gegen den jüdischen Staat war, kämpfte für die Abschaffung der Militärregierung und für die Meinungsfreiheit der mundtot gemachten arabisch-palästinensischen Minderheit. Al-Ard wurde aufgrund der „Verteidigungs-(Notstands-)Verordnungen“ der britischen Mandatsregierung verboten (und ebenso 2015 die nördliche Fraktion der Islamischen Bewegung, die beschuldigt wurde, gesetzwidrig zu sein). Und im Sommer 1959 erhob sich zum ersten Mal laut und klar die Stimme des Protests gegen die Benachteiligung und Diskriminierung der jüdischen Einwander*innen aus arabischen und muslimischen Ländern. Dies geschah in Wadi Salib, einem Viertel im Zentrum von Haifa (ein ursprünglich arabisches Viertel, das in den 1950er Jahren mit jüdischen Einwander*innen aus arabischen Ländern besiedelt wurde).
Die erste bedeutende Organisation, die den Zionismus als ein koloniales Projekt (das sich später in der Siedlungspolitik in den 1967 besetzten palästinensischen Gebieten fortsetzte) sah, wurde im Jahr 1962 gegründet. Es handelte sich dabei um die Israelische Sozialistische Organisation, auch als Matzpen (Kompass) bekannt,[4] die mit ihrem Namen auf das Gerät anspielt, das einem/r bekanntlich hilft, die richtige Richtung in unbekanntem Gelände zu finden. Fügt man/frau im Hebräischen einen Buchstaben hinzu, wird aus Matzpen „matzpun“ (Gewissen), jenes Bewusstsein, das uns moralisch einen Weg weist. Die Bewegung wurde von Dissident*innen der Kommunistischen Partei gegründet, und ihre Mitglieder waren die ersten, die sich in Europa mit Mitgliedern der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO)[5] trafen, trotz des vom Staat verhängten Verbots solcher Treffen. Matzpen hatte nie mehr als ein paar Dutzend Mitglieder, gab aber dennoch der radikalen Linken in Israel ihre Prinzipien vor: die Notwendigkeit, antikapitalistisch und antiimperialistisch zu sein sowie nicht zionistisch und antimilitaristisch. Das ist radikale Linke im Sinne des Strebens nach grundlegendem Systemwandel (von den Wurzeln her), aber nicht in dem Sinne von gefährlichem Extremismus, wie die Rechte zu propagieren versucht.
Es scheint mir wichtig, hier auch die einzelnen Menschen zu erwähnen, die versuchten, der politischen Ordnung entgegenzutreten, und die sich von der Macht, die das vereinte konsensgetragene zionistische Kollektiv gegen politisch Aufständische einsetzte, nicht beeindrucken ließen. Uri Davis zum Beispiel: Der in Jerusalem (1943) Geborene widersetzte sich im Jahr 1964 den Anordnungen der Militärregierung aus Protest gegen die Enteignung von Land in arabischen Dörfern in Galiläa zum Bau der Stadt Karmiel. Er war der einzige jüdische Bürger, der zu einer Haftstrafe (8 Monate) verurteilt wurde, für einen Verstoß gegen die Verordnungen der Militärregierung, der die arabischen Ortschaften innerhalb Israels von 1948 bis 1966 unterstellt waren. Oder Udi Adiv, der im Jahr 1946 geboren wurde und in dem zur zionistisch-sozialistischen Linken gehörenden Kibbuz Gan Schmuel aufwuchs. Adiv gehörte zu einer maoistischen Fraktion, die Matzpen verließ und den Revolutionären Kommunistischen Bund (Ma'avak, hebräisch für: Kampf) gründete. Anfang 1973 wurde er zusammen mit seinen Genossen im Bund wegen Kontaktaufnahme zu einem syrischen Agenten angeklagt, der Spionage für schuldig befunden und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Er wurde im Jahr 1985 im Rahmen des Dschibril Gefangenenaustauschs (von israelischen Gefangenen im Libanon und palästinensischen Gefangenen und Häftlingen in Israel) nach zwölf Jahren aus der Haft entlassen. Den Weg des Überschreitens roter Linien aus ideologischen Gründen wählten auch einige Mitglieder der Organisation Derekh HaNitzotz (Der Weg des Funkens), die im Jahr 1977 von ehemaligen Matzpen-Mitgliedern gegründet worden war. Im Jahr 1984 nahmen einige von ihnen Kontakt zu einer prosowjetischen palästinensischen Gruppe, der Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas (DFLP), auf. Sie wurden später verhaftet, angeklagt und wegen Unterstützung einer terroristischen Organisation verurteilt.
Ich möchte diese kurze Liste mit einer Ein-Mann-Friedensbewegung abschließen, nämlich Abie Nathan, der im Februar 1966 mit seinem Privatflugzeug nach Ägypten flog, um dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abd el-Nasser eine Friedenspetition zu übergeben. Seit den 1970er bis Anfang der 1990er Jahre betrieb er den Piratensender „Voice of Peace“ (Stimme des Friedens) von seinem Schiff aus, das vor der Küste von Tel Aviv vor Anker lag. Da er nicht zur radikalen Linken gehörte und aufgrund seiner einnehmenden Persönlichkeit und seiner besonderen Stellung unter den Tel Aviver Bohemiens ein bestimmtes Ansehen genoss, bekam er den Spitznamen „Don Quixote“ und wurde nicht als „Verräter“ beschimpft.
Die prägenden Jahre für die außerparlamentarische Linke
Der Krieg von 1967 war ein dramatisches Ereignis in der Geschichte Israels und ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte der außerparlamentarischen linken Bewegungen (sowie auch der Geschichte der Rechten und des nationalistischen Messianismus), insbesondere aufgrund der verheerenden Folgen des blitzartigen Sieges: die Besetzung der palästinensischen Gebiete, in der weite Teile der jüdischen Bevölkerung eine Art Wunder der Befreiung des Vaterlandes und eine faktische Rückgabe Jerusalems an seine natürlichen Eigentümer*innen sahen.
Bereits im Oktober 1967, auf dem Höhepunkt der Siegeseuphorie, erschien ein Buch unter dem Titel „Soldatengespräch: Kapitel des Zuhörens und Betrachtens“,[6] in dem Mitglieder von linken Kibbuzim von ihren Kriegserfahrungen berichten. Die von dem Buch ausgelöste Debatte beschäftigte sich mit den Soldaten, die im Krieg gekämpft hatten, und ihren verletzten Gefühlen, nicht aber mit den Grauen des Krieges, wie zum Beispiel der Zerstörung palästinensischer Dörfer und die Vertreibung ihrer Bewohner*innen.[7] Aus diesem Grund wurde wahrscheinlich das in den Texten beschriebene In-sich-Gehen und der Versuch, das Gewissen zu beruhigen, als „[erst] schießen sie, und [dann] weinen sie“ charakterisiert. Die offensichtliche Schlussfolgerung aus den Soldatengesprächen, zu der diese Soldaten 1967 nicht gekommen sind, wurde von den Militärdienstverweigerern in den Jahrgängen während des ersten Libanonkriegs (der 1982 begann) gezogen und in die Tat umgesetzt und danach von denen, die den Armeedienst in den besetzten Gebieten verweigerten. Sie verwendeten dabei unter anderem die Parole „[Wir] schießen nicht – [wir] weinen nicht.“
Die zionistische Linke stellte keine wirksame ideologische Opposition dar, da auch sie in der Euphorie des militärischen Sieges und der Rückkehr zur Klagemauer schwelgte. Der Ausbruch von Freude und Erleichterung ist angesichts der gespannten Situation in den Monaten vor dem Krieg, in denen Israelis mit der unerträglichen Möglichkeit einer zu ihrem Untergang führenden Niederlage konfrontiert waren, verständlich. Die Nachrichtenquellen waren beschränkt: Das staatliche Radio war das Sprachrohr der Regierung und die Presse unterlag strenger Zensur. Berichte, in denen die Stärke der ägyptischen Armee demonstriert wurde und die von den Fernsehanstalten der anderen Länder gesendet wurden (einen staatlichen Fernsehsender gibt es in Israel erst seit Mai 1968), intensivierten nur das Gefühl der existenziellen Bedrohung, das in das kollektive Bewusstsein des jüdischen Volkes eingesunken ist. Angesichts der fehlenden Tradition zivilgesellschaftlichen Engagements und der Abwesenheit einer wirksamen politisch-ideologischen Opposition erschienen die Stimmen des Protests gegen die Besatzung unmittelbar nach dem Krieg wie einsame Rufe in der moralischen Wüste. Die deutlichste Stimme war die von Yeshayahu Leibowitz, Philosoph und Naturwissenschaftler, ein religiöser Jude, der die Trennung von Staat und Religion befürwortete. Leibowitz rief bereits am Ende des Kriegs zu einem Rückzug aus den besetzten Gebieten auf und warnte vor der Gefahr der korrumpierenden Folgen der Besatzung. Er war ein „Prophet des Untergangs“, eine antimilitaristische Ein-Mann-Bewegung mit vielen Anhänger*innen und noch mehr Gegner*innen.
In der kurzen Zeit zwischen dem Krieg von 1967 und dem von 1973 erreichten die Auswirkungen der Neuen Linken in Europa, die zweite Welle des Feminismus, die Echos der weltweiten Studentenproteste, der Schwarzen Panther in den USA, der Bewegung gegen den Vietnamkrieg und der Kämpfe um Bürgerrechte in den USA auch Israel. Das war die Zeit der israelischen Schwarzen Panther aus dem Jerusalemer Viertel Musrara, deren Protestaktionen die Not sowie die soziale und kulturelle Benachteiligung der aus arabischen und muslimischen Ländern stammenden Einwander*innen in Israel als zentrales Thema auf die öffentliche Tagesordnung setzten. Die Mitglieder von Matzpen und einer studentischen Protestbewegung, die sich Si'ah nannte (wörtlich: Gespräch, Akronym aus: Neue Israelische Linke), standen ihnen zur Seite. Später wurden einige der Panther-Führer in die Parteipolitik integriert. Zeitgleich mit den sozialen Protesten erhob sich auch politischer Protest, dessen jüngste Vertreter*innen Gymnasiast*innen waren, die vor der Einberufung zum Militärdienst standen.
Im April 1970 unterzeichneten 70 Schüler*innen der 12. Klasse, zumeist aus Jerusalem, den ersten „Brief der Abiturienten“. In ihrem Schreiben kritisieren sie die fehlende Friedensbereitschaft der Regierung, erklären aber nicht ihre Absicht, den Militärdienst zu verweigern. Das geschah erst in den folgenden Abiturienten-Briefen ab 1979: Die Unterzeichner*innen erklärten ihre Weigerung, in der Besatzungsarmee zu dienen. Einige von ihnen wurden nach ihrem Einzug in die Armee zu Haftstrafen verurteilt. Die Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen war damals – und ist bis heute – ein wichtiger Teil der radikal linken Tradition, nicht aber der der Allgemeinheit.
Im liberalem Geist, der diesen kurzen Zeitraum prägte, wurde im Jahr 1972 die Organisation ACRI (Vereinigung für Bürgerrechte in Israel) gegründet,[8] die sich auf die UN-Menschenrechtscharta (1948) und die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel beruft.
Die Wahlen zur 8. Knesset sollten im Oktober 1973 stattfinden (wurden aber wegen des Krieges auf Dezember verschoben). Vor den Wahlen kam es zu großen Veränderungen innerhalb der außerparlamentarischen Linken. Ein Teil von ihr beschloss, sich an der parlamentarischen Politik zu beteiligen. Eine Bewegung, der dies gelang, war Ratz. Ratz wurde von Shulamit Aloni gegründet, einer Juristin und populären Radiojournalistin, die in ihren Beiträgen und Veröffentlichungen Bürgerrechte, Frauenrechte und den Kampf gegen religiösen Zwang in den Mittelpunkt stellte. Aloni gründete Ratz, nachdem sie von ihrer Partei Mapai auf einen aussichtslosen Wahllistenplatz gesetzt worden war. Entgegen aller Voraussagen gewann Ratz drei Sitze in der Knesset, von denen einer Marcia Freedman versprochen war, die im Jahr 1967 aus den USA nach Israel ausgewandert und eine der Pionier*innen der zweiten Welle des Feminismus in Israel war. So erlangte überraschenderweise die feministische Bewegung, die sich noch im Aufbau befand, in Israel parlamentarische Vertretung.
Der Krieg von 1973: Vom Protest zum Umbruch
Der politische Umbruch im Jahr 1977, bei dem das rechte Likud-Bündnis an die Macht kam, war nicht nur ein parlamentarischer Umbruch. Er war eine Folge des Schocks, den das politische und militärische Versagen im Krieg von 1973 ausgelöst hatte. Der Krieg begann am 6. Oktober 1973, an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, und kam für die Öffentlichkeit völlig überraschend. Der Krieg dauerte bis zum 24. Oktober, zu Kriegsende trauerte Israel um Tausende Tote und Verletzte, Hunderte Soldat*innen waren in Gefangenschaft geraten. Eine staatliche Untersuchungskommission schrieb der Armee die Hauptverantwortung für den Kriegsverlauf zu, weil sie nicht richtig vorbereitet gewesen sei. Die Öffentlichkeit verzieh vor allem der Führung nicht, dass sie von einer falschen „Konzeption“ ausgegangen war, der zufolge Israel nicht vor der Gefahr eines Krieges gestanden hatte, und das obwohl nachrichtendienstliche Berichte aus verschiedenen Quellen auf eine akute Kriegsgefahr hingewiesen hatten. Die Proteste, die gleich nach dem Ende des Krieges laut wurden, brachten den Abscheu vor den alten Eliten zum Ausdruck, die mit der Arbeiterbewegung identifiziert waren. Mit vier Jahren Verzögerung zahlte HaMa'arch den Preis für das Versagen, und im Jahr 1977 kam der Likud an die Macht, mit breiter Unterstützung von Mizrachim/Mizrachijot, deren Forderungen nach sozialen und politischen Rechten infolge des Krieges dringlicher geworden waren.
Der politische Umbruch war die erste Etappe in der religiösen und nationalistisch-rechten ideologischen Revolution, die territoriale und politische Rechtfertigungen für die fortgesetzte Besetzung durch Argumente, die sich auf „das Recht des jüdischen Volks auf das Land ihrer Vorfahren“ gründen, ersetzte. Der israelisch-palästinensische Konflikt nahm nach und nach die Dimensionen eines religiösen Konflikts an, und eine pessimistische Weltanschauung, die einen ewigen Krieg zwischen Jüdinnen/Juden und Palästinenser*innen voraussieht, begann den Diskurs der politischen Rechten zu beherrschen. Innerhalb kurzer Zeit wurde der Holocaust zu einem wichtigen Bestandteil der Selbstwahrnehmung Israels als ewigem Opfer („Die ganze Welt ist gegen uns“) und zur Rechtfertigung der militärischen Aufrüstung und der fortgesetzten Herrschaft über die Palästinenser*innen. Die Rechte gewann an Stärke, nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit dem Erfolg der Siedlungsprojekte in der Westbank. Die Siedlungsprojekte zielten darauf ab, das palästinensische Gebiet in isolierte und eingeschnürte Enklaven aufzuteilen, in denen es schwerfällt, eine normale Lebensroutine aufrechtzuerhalten. Die Fortsetzung der israelischen bürokratischen, wirtschaftlichen und Sicherheits-Kontrolle des Lebens der Palästinenser*innen wird durch die Verleugnung der Realität vonseiten der überwiegenden Mehrheit der jüdischen Bevölkerung ermöglicht. Auch die politische Linke ist nicht frei von Schuld, da sie die politische Arena ganz der Kontrolle der Rechten überließ. Über die vielen Jahre ihrer Tätigkeit hinweg ist es ihr nicht gelungen, sich zu einer breiten Bewegung zu entwickeln, die die Basis für linke Parteien sein könnte. Die politische Linke (die sich auf den israelisch-palästinensischen Konflikt konzentriert) war nicht genügend sozial; die soziale Linke war nicht wirklich sozialistisch; die sozialistische war zu marxistisch, und die zionistische Linke lehnte die radikale ab.
Im März 1978 unterzeichneten 348 Reservisten (Offiziere und Soldaten) aus Kampfeinheiten das, was in die Geschichte des Protests als „Brief der Offiziere“ eingegangen und aus dem die Bewegung Peace Now[9] (Frieden jetzt) hervorgegangen ist. In ihrem Schreiben riefen sie Premierminister Menachem Begin dazu auf, dem Frieden mit Ägypten den Vorzug gegenüber „Groß-Israel“ zu geben. Peace Now hat seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, Massendemonstrationen zu organisieren, vor allem während des ersten Libanonkrieges, und wurde zu einem anerkannten Markenzeichen in dem sogenannten Friedenslager in Israel.
Auf der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums stand die Siedlungsbewegung Gusch Emunim (Block der Gläubigen), deren Gründungskonferenz im Februar 1974 stattfand. Beide Bewegungen versuchten, die Realität durch die Anziehungskraft zweier widerstreitender Ideen zu verändern: Die eine ist die des Friedens, die in den Siedlungen ein Hindernis für eine Aussöhnung zwischen Israel und den Palästinenser*innen, basierend auf der Trennung zwischen den beiden Völkern, sieht; die andere ist die der „Erlösung des Landes“ durch die Siedlungsprojekte und die fortgesetzte Unterdrückung des palästinensischen Widerstands. Während es Gusch Emunim (unterstützt von der Mehrheit der jüdischen Bevölkerung) schaffte, die politische und demografische Landschaft in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten grundlegend zu verändern, bemüht sich Peace Now (immer in Angst davor, die Unterstützung der jüdischen Bevölkerung zu verlieren) in den letzten Jahren vor allem darum, die boomende Siedlungstätigkeit ihrer historischen Rivalin zu dokumentieren. Das ist die Essenz der Geschichte in aller Kürze.
Anfang der 1980er Jahre: Meilensteine in der Geschichte des Protests der Verweigerung
Peace Now markierte für die radikale Linke die Grenzen der zionistischen Linken, die das Konsens-Regime akzeptiert. Peace Now beteiligte sich nicht an der Organisation von Demonstrationen in Solidarität mit dem Widerstand der palästinensischen Bevölkerung gegen die Besatzung und war nicht verbunden mit der Bewegung der Verweigerung des Militärdienstes in den besetzten Gebieten, die von der radikalen Linken bereits Anfang der 1980er Jahre befürwortet wurde. Die israelische Offensive im Libanon unter dem Namen „Operation Frieden für Galiläa“, die sich zum „ersten Libanonkrieg“ entwickelte, begann am 6. Juni 1982 und wurde von einem breiten parlamentarischen Konsens getragen. Nur die Knesset-Fraktion der jüdisch-arabischen Chadasch/al-Jabha warnte vor „dem Weinen über viele Generationen hinweg“, das der Krieg zur Folge haben werde. Innerhalb weniger Tage wurde offensichtlich, dass sich die Operation, die sich gegen die PLO richtete und auf 40 Kilometer nördlich der israelischen Grenze im Libanon beschränkt sein sollte, in einen selbst gewählten Krieg, mit der eigentlichen strategischen Absicht, ein christliches Regime im Libanon zu errichten, verwandelte. Als die Umstände des Krieges und die Kriegsziele im Nachhinein bekannt wurden, ließ der Protest gegen das, was sich als Betrug an der Öffentlichkeit herausstellte, nicht lange auf sich warten. Dies führte zu einem tiefen Vertrauensverlust der Öffentlichkeit in das politische System und die Armee.
Es gab viele Aktivitäten im Juli 1982. Am Ersten des Monats demonstrierten Zehntausende Menschen im Rahmen einer Peace-Now-Demonstration. (Dem Reporterteam des staatlichen Fernsehens wurde verboten, darüber live zu berichten.) Am 7. Juli demonstrierten arabische und jüdische Student*innen, Mitglieder von Campus,[10] vor dem Haus des Premierministers gegen den Einmarsch in den Libanon. Wenige Tage später schlossen sich das „Komitee gegen den Krieg“ und eine Gruppe von Feminist*innen in Jerusalem der Campus-Demonstration an. Reservisten gründeten die Kriegsdienstverweigerer-Organisation Jesch Gvul[11] (Es gibt eine Grenze), und Tausende von Reservisten unterzeichneten ihre Petitionen. Circa 150 von ihnen wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Jesch Gvul unterstützt bis heute Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen.
Das Massaker von Sabra und Schatila vom 16. bis 18. September 1982, bei dem Hunderte Bewohner*innen der Lager in einem Gebiet unter israelischer Kontrolle ermordet wurden, brachte zwischen 200.000 und 400.000 Demonstrant*innen zu der Peace-Now-Demonstration auf dem Malkei-Israel-Platz in Tel Aviv. Der Platz heißt heute Rabin-Platz in Gedenken an Premierminister Yitzhak Rabin, der dort am 4. November 1995 von einem jüdischen nationalreligiösen Attentäter am Ende einer Kundgebung zur Unterstützung der Oslo-Abkommen ermordet wurde.
Nach und nach wurde eine Reihe von Bewegungen gegründet, die die Regierung dazu aufriefen, die israelische Armee aus dem Libanon abzuziehen: „Soldaten gegen das Schweigen“ (die zwar gegen Kriegsdienstverweigerung waren, aber den Krieg und seine Ziele missbilligten); Schriftsteller*innen, Künster*innen und Professor*innen; „Frauen gegen die Invasion des Libanon“; Osim Shalom (Sozialarbeiter*innen für Frieden); das „Komitee gegen den Krieg im Libanon“ und die „Eltern gegen das Schweigen“ (die zwar nicht offen Kriegsdienstverweigerung unterstützten, aber den Krieg ablehnten), die später zu den „Müttern gegen das Schweigen“ wurden (weil Mütter ihre Angst um ihre an der Front in einem törichten Krieg kämpfenden Söhne zum Ausdruck bringen dürfen).
Im August trat Premierminister Menachem Begin von seinem Amt zurück. Er zog sich in sein Haus zurück und hat es bis zu seinem Tod nicht mehr verlassen. Am 29. September räumte die israelische Armee unter starkem US-amerikanischen Druck ihre Stellungen in Beirut. 18 Jahre später, im Mai 2000, zog die israelische Armee ganz aus dem Libanon bis zur Grenze ab. Die Bewegung „Vier Mütter“, die im Sommer 1997 gegründet wurde, ungefähr fünf Monate, nachdem 73 Soldaten bei der Kollision zwischen zwei israelischen Militärhubschraubern auf dem Weg in den Libanon getötet wurden, spielte eine wichtige Rolle bei der Entscheidung über den Rückzug aus dem Libanon. Der Erfolg der Bewegung war einmalig und sie wurde nach Erlangung ihres Zieles aufgelöst.
Die turbulenten 1980er Jahre schloss die Erste Intifada (die Anfang Dezember 1987 ausbrach) ab. Bis zum Ende des Jahrzehnts gab es nicht weniger als 74 linke Bewegungen, deren Kampf sich auf konkrete aktuelle Probleme in den besetzten Gebieten konzentrierte. Nur wenige von ihnen haben ihre Arbeit den sich verändernden Verhältnissen angepasst und sind heute noch aktiv. Eine davon, die Bewegung „Das 21. Jahr“ (der Besatzung),[12] die sich neben der Organisation von Protestdemonstrationen auch mit dem Sammeln von Zeugenaussagen über die Besatzung (occupation witnesses) beschäftigte, wurde im Jahr 1988 zur Grundlage für die Errichtung der Organisation B'Tselem – dem israelischen Informationszentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten.[13]
Die breite Bewegung der Kriegsdienstverweigerung, die während des Libanonkrieges und in den frühesten Stadien der Ersten Intifada entstand, kam mitten aus männlichen, aschkenasischen, säkularen Militärkreisen. Ihre Bedeutung liegt darin, dass es gerade die Männer, die als „Salz der Erde“ (der israelischen Gesellschaft) betrachtet werden, waren, die die in Israel heilige Verbindung zwischen Militärdienst und dem Recht auf volle Staatsbürgerschaft infrage stellten. Explizite Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen im Bewusstsein des dafür zu zahlenden Preises (Haftzeiten in einem Militärgefängnis) ist seit der Zweiten Intifada immer seltener geworden. Im Laufe der Zeit wurde die verdeckte Verweigerung immer beliebter. Dies ist eine euphemistische Bezeichnung für die Umgehung oder Vermeidung des Militärdienstes aus Gründen der „fehlenden Eignung“. Diese Variante verwenden Jugendliche im Rekrutierungsalter aus allen Schichten der Bevölkerung.
Ende der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre: Im Zeichen der Frauenbewegung für Frieden
Dies ist vielleicht der richtige Moment, das Augenmerk auf die Frauenbewegung für Frieden zu richten, die mit dem Ausbruch der Ersten Intifada ihre Aktivitäten zu organisieren begann. Es lässt sich zu ihren Gunsten sagen, dass sie, obwohl ihr Hauptziel – das Ende der Besatzung und ein Friedensabkommen mit den Palästinenser*innen – noch nicht erreicht wurde, in die politische Arena einen feministischen politischen Diskurs über Frieden und Menschenrechte eingebracht hat, der in Israel ohnegleichen ist. Unmittelbar nach dem Ausbruch der Ersten Intifada organisierten linke Aktivist*innen Protest-Mahnwachen in Jerusalem, Tel Aviv und Haifa, die auch heute noch (in geringerem Umfang) stattfinden. Die Aktivist*innen tragen schwarze Kleidung und schwenken Schilder in Form einer Hand, auf der der Slogan „Schluss mit der Besatzung!“ steht. Die Protest-Mahnwachen werden regelmäßig an Plätzen und Kreuzungen in Städten ausgerechnet freitagmittags abgehalten, das heißt zu einer Zeit, zu der von jüdischen Frauen anscheinend erwartet wird, dass sie zu Hause mit Sabbat-Vorbereitungen beschäftigt sind. Sie haben keine Angst vor sexistischen und chauvinistischen Beleidigungen, die sie dabei erleiden könnten, weil die Forderung der Frauen in Schwarz[14] eine komplexe politische Forderung ist: „Schluss mit der israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete! Und Schluss mit der patriarchalen Unterdrückung zu Hause!“
Zur gleichen Zeit fanden auf Initiative von linken Kreisen in Europa Treffen zwischen israelischen politischen Aktivist*innen und Palästinenser*innen statt, die Mitglieder der PLO waren. Die PLO wurde damals von Israel als terroristische Organisation gesehen, mit der kein Kontakt erlaubt war. Der Slogan der Initiative war: „Gebt dem Frieden eine Chance – Frauen sprechen“. Die Prämisse der „Frauen-Initiative“ war, dass Frauen, weil sie die permanenten „Anderen“ in der patriarchalen Welt sind, zu einem umfassenden, versöhnlichen und auf Dialog beruhenden Ansatz zur Lösung des Konflikts fähig sind. Das erste Treffen fand im Mai 1989 in Brüssel statt und endete mit einem Aufruf zu einem territorialen Kompromiss und einer gerechten Lösung des Flüchtlingsproblems. Im Kielwasser dieser Treffen wurde während der Zeit der Oslo-Abkommen (1993 u. 1995) das „Frauen Netzwerk für Frieden – Jerusalem Link“ gegründet, in dessen Rahmen zwei unabhängige feministische Zentren aktiv waren: Bat Shalom, eine jüdische Organisation in West-Jerusalem, und das palästinensische „Jerusalemer Zentrum für Frauen – al-Nisa'“ in Ost-Jerusalem. Die Hauptaktivität des Netzwerks bestand darin, Kampagnen für den Frieden sowie Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit zur Förderung der Koexistenz zu initiieren. Die Mitglieder des Netzwerks integrierten feministische Inhalte in ihre Arbeit, um die Präsenz von Frauen in den Bereichen Politik und „Sicherheit“ zu erhöhen. Während der Zweiten Intifada (Al-Aqsa-Intifada, die im September 2000 ausbrach) zerbrach die israelisch-palästinensische Zusammenarbeit im Rahmen des „Frauen Netzwerks für Frieden“. Die Ereignisse vom Oktober 2000, als 13 israelische arabische Bürger[15] von der Polizei bei Demonstrationen in Solidarität mit dem palästinensischen Aufstand erschossen wurden, machten die Aktivitäten der Koexistenz (die auch vorher schon kritisiert wurden) irrelevant. Die Aktivitäten der Organisation Bat Shalom wurden im Jahr 2010 aus Mangel an Ressourcen eingestellt.[16]
Aber die feministischen Friedensaktivitäten haben damit nicht aufgehört. Im Gegenteil. Auf Initiative von erfahrenen linken Aktivist*innen organisierten sich gleich mit dem Ausbruch der Zweiten Intifada neun feministische Organisationen in einem neuen Rahmen: Coalition of Women for Peace (Frauenkoalition für Frieden).[17] Die Gründungskonferenz der Koalition fand am 8. November 2000 im Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv statt, und am Ende des Monats wurde bereits die Grundsatzerklärung „Die feministische Vision des Friedens“ in Nazareth fertig ausgearbeitet. Die Vision des Friedens beschäftigt sich mit dem Kampf, die Besatzung auf der Grundlage von „zwei Staaten für zwei Völker“ zu beenden (inzwischen wurde die Idee der nationalen Trennung zugunsten von Ideen basierend auf Partnerschaft und Koexistenz im Land aufgegeben); sie tritt ein für eine gerechte Lösung des Flüchtlingsproblems, die uneingeschränkte Teilnahme von Frauen an Friedensprozessen und die Eindämmung des Militarismus in Israel sowie für die volle Gleichberechtigung der palästinensischen Bürger*innen Israels. Zu den Organisationen, die sich im Rahmen der Koalition organisierten, gehörten unter anderen die Bewegung der Demokratischen Frauen in Israel (Tandi), die seit 1949 im Rahmen der Kommunistischen Partei aktiv ist, und die Frauen in Schwarz, die bereits oben erwähnt wurden. Ich möchte auch New Profile (Neues Profil) erwähnen, eine Organisation, die im Jahr 1998 von einer Gruppe von Frauen gegründet wurde, die darauf hinarbeiten, die zivilgesellschaftliche Sphäre dadurch zu stärken, dass die wachsende Macht der Armee und des Sicherheitsapparates daraus entfernt wird.[18] Eine weitere neue Bewegung, Machsom Watch (Checkpoint Beobachtung) – Frauen für Menschenrechte und gegen Besatzung –, schloss sich ebenfalls der Koalition an.[19] Machsom Watch wurde im Februar 2001 gegründet, als fünf Frauen aus Jerusalem eines Morgens zum Bethlehem-Checkpoint kamen, um die Situation dort zu beobachten. Sie beschlossen, weiter zu beobachten und zu dokumentieren, was an den Checkpoints passiert, um öffentlichen Druck zu erzeugen und die Besatzung zu beenden. Später erweiterten sie ihre Tätigkeit auf Berichte über Gerichtsverfahren gegen Palästinenser*innen vor Militärgerichten und auf individuelle Hilfe für Palästinenser*innen, deren Genehmigungen, einen Checkpoint zu passieren und/oder in Israel zu arbeiten, aus „Sicherheitsgründen“ entzogen wurden. In diesem Jahrhundert etablierte sich die Frauenkoalition für Frieden als wichtiger Initiator von Protestaktionen gegen den zweiten Libanonkrieg (2006) und gegen die Blockade des Gazastreifens und der wiederholten militärischen Angriffe auf diesen. Heute arbeitet die Koalition als eigenständige Organisation (d. h. nicht nur als Dachorganisation) und verbindet soziale und feministische Kämpfe mit dem unablässigen gewaltlosen Kampf gegen die Besatzung.
Im gegenwärtigen Jahrzehnt lässt sich ein Prozess der Feminisierung der Bewegung der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen beobachten. Im Jahr 2016 wurde ein Netzwerk unter dem Namen „Verweiger*innen“[20] gegründet. Trotz ihrer geringen Zahl haben die Verweiger*innen ein großes moralisches Gewicht.
Von politischen Bewegungen zu Nichtregierungsorganisationen
In den 1990er Jahren befand sich Israel weit entfernt von dem Ethos der Eigenstaatlichkeit der Gründungszeit und versank tief im Strudel gesellschaftlicher und politischer Gespaltenheit. In dieser Zeit kam es zu einer Konsolidierung der neoliberalen kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die in Israel Mitte der 1980er Jahre eingeführt worden war, und die Privatisierungspolitik der Regierung wurde intensiviert. Dies waren auch die Jahre der Gründung von Nichtregierungsorganisationen, die sich für den Schutz der Menschenrechte in Israel und den besetzten Gebieten engagieren, neben der Beobachtung und Dokumentation von Verletzungen des internationalen Rechts. In vielerlei Hinsicht erleichtern sie es dem Staat, die Trennungspolitik und die Besatzung fortzusetzen, weil durch ihre Tätigkeit humanitäre Katastrophen verhindert werden. In dieser Hinsicht sind sie ein fester Bestandteil der Besatzung. Jedoch erlaubt es ihnen ihre sie leitende Ethik nicht, sich um Menschen nicht zu kümmern, die Schutz und Hilfe brauchen und darum bitten. Die Frage nach dem richtigen Verhältnis zwischen der so kritischen humanitären Hilfe und dem obersten politischen Ziel, die Besatzung zu beenden, ist immer kontrovers und kann nicht eindeutig beantwortet werden.
Hier sind einige Beispiele von Organisationen, die in den frühen 1990er Jahren gegründet wurden: Zur Zeit der Ersten Intifada, als palästinensischen Arbeiter*innen verboten wurde, zu ihrem Arbeitsplatz in Israel zu kommen, organisierten sich mehrere linke Aktivist*innen, um ihnen zu helfen, ihre sozialen Rechte gegenüber ihren Arbeitgeber*innen geltend zu machen. So wurde Kav LaOved – Worker’s Hotline[21] im Jahr 1991 gegründet. Als die Tore für Arbeitsmigrant*innen geöffnet wurden, die die palästinensischen Arbeiter*innen im Baugewerbe und in der Landwirtschaft ersetzten, erweiterte sich das Betätigungsfeld von Kav LaOved, das nun auch die Bemühungen um den Schutz der Rechte der Arbeitsmigrant*innen mit einschloss, von denen heute die meisten im Pflegebereich tätig sind. Und so war es auch, als im Jahr 2007 klar wurde, dass die Arbeiter*innen unter den Asylbewerber*innen Hilfe brauchen. Auf ähnliche Weise wurde das Arbeiterberatungszentrum Maan-WAC gegründet,[22] das sozial schwachen Arbeitnehmer*innen hilft, sich gewerkschaftlich zu organisieren; sowie auch die Hotline für Flüchtlinge und Migranten[23] (1998) und ASSAF – Hilfsorganisation für Flüchtlinge und Asylbewerber in Israel[24] (2007). Dies sind Hilfsorganisationen, die darauf abzielen, die Einstellung des Staates und der Gesellschaft gegenüber nicht jüdischen Arbeiter*innen und Migrant*innen zu verändern; allein schon die Existenz solcher Organisationen stellt eine wichtige politische Aussage dar.
Die Erste Intifada konfrontierte die Aktivist*innen gegen die Besatzung, die direkten Kontakt zu palästinensischen Aktivist*innen und Organisationen hatten, mit den dringendsten Bedürfnissen der Palästinenser*innen, denen nicht auf der Basis von sporadischen Aktionen geholfen werden konnte. So wurde im Jahr 1988 die Bewegung der Rabbiner für Menschenrechte[25] gegründet, deren praktische Arbeit von einer humanistisch-jüdischen moralischen Haltung in Bezug auf Menschenrechte und die Beherrschung eines anderen Volkes getragen ist; und ebenso wurde das Öffentliche Komitee gegen Folter in Israel[26] (1990) gegründet sowie HaMoked – Zentrum zum Schutz/der Verteidigung des Einzelnen [Menschen][27] und die Organisation der Frauen für weibliche politische Gefangene.[28] Die israelische Organisation der Ärzte für Menschenrechte,[29] die 1988 gegründet wurde, führt eine Offene Klinik (ursprünglich im Süden von Tel Aviv, heute in Jaffa) für Menschen, die nicht krankenversichert sind (d. h. vor allem Arbeitsmigrant*innen und Asylbewerber*innen) und eine mobile Klinik in den besetzten Gebieten. Ferner engagiert sich die Organisation unter anderem in der Öffentlichkeit für die Realisierung des Rechts auf Gesundheit der israelischen Staatsbürger*innen, die in nicht anerkannten Beduinen-Dörfern leben, und der palästinensischen Häftlinge und Gefangenen und bemüht sich auch, Medikamente und medizinische Ausrüstung in den Gazastreifen zu bringen.
Etwas später, im Jahr 1992, gründete Uri Avnery, ein Veteran unter den Friedensaktivist*innen in Israel, die Organisation Gusch Schalom[30] (Friedensblock) in Reaktion auf die Verbannung von 415 Mitgliedern von Hamas und dem Islamischen Jihad in den Libanon. Und als das Friedenslager einen vernichtenden Schlag durch die Ermordung von Premierminister Yitzhak Rabin (4. November 1995) durch einen rechten nationalreligiösen Mann erlitt, gründeten junge Menschen die Bewegung Dor Schalom (Friedensgeneration), die auch „Eine ganze Generation fordert Frieden“ genannt wurde. Allerdings schaffte sie es innerhalb kürzester Zeit, die in sie gesetzten großen Hoffnungen zu enttäuschen und zu scheitern.
Die 1990er Jahre zeichnen sich durch eine große Pluralität in der Entwicklung der Organisationen aus, die sich um soziale Gerechtigkeit bemühen und/oder eine gleichberechtigte Partnerschaft zwischen Jüdinnen/Juden und Araber*innen fördern wollen. So wurden Sikkuy – Vereinigung für die Förderung staatsbürgerlicher Gleichheit[31] von arabisch-palästinensischen und jüdischen Staatsbürger*innen (1991) – und Adalah (arabisch für: Gerechtigkeit) – Legal Center for Arab Minority Rights in Israel[32] (Zentrum für die juristische Verteidigung der Rechte der arabischen Minderheit in Israel) (1996) gegründet sowie das Negev Koexistenz Forum für staatsbürgerliche Gleichheit[33] (1997), das sich für die Anerkennung der nicht anerkannten Beduinendörfer einsetzt, und das Mossawa- (arabisch für: Gleichheit) Zentrum[34] (1997), das sich darum bemüht, die Rechte der arabisch-palästinensischen Minderheit in Israel zu fördern. Adalah und Mossawa spielten eine führende Rolle in der Initiative, die kollektiven Rechte der arabisch-palästinensischen Minderheit in Israel zu formulieren. Und im Geiste des Multikulturalismus und der Identitätspolitik gründeten junge Männer und Frauen der zweiten und dritten Generation von aus arabischen und muslimischen Ländern stammenden Jüdinnen und Juden die Demokratische Mizrachi Regenbogen Koalition (1996), die sich darum bemüht, die wirtschaftliche Gleichstellung von Mizrachim/Mizrachijot und die Anerkennung ihrer kulturellen Identität zu erlangen.[35] Im Jahr 1999 wurden die Organisation Tebeka[36] (amharisch für: Gerechtigkeit), die sich für die Rechte der äthiopischen Bürger*innen einsetzt; und Kayan[37] (arabisch für: Entität), eine feministische Organisation für die Rechte arabischer Frauen, die gute nachbarschaftliche Beziehungen mit dem 1983 gegründeten und sehr aktiven feministischen Zentrum Ischa LeIscha[38] (Von Frau zu Frau) in Haifa unterhält. Im Jahr 2000 wurde Achoti[39] (Schwester) von Mizrachi-Feminist*innen gegründet, um eine feministische Bewegung zu schaffen, die eine Alternative zur aschkenasischen Hegemonie, die auch in feministischen Organisationen vorhanden ist, bietet.
Nach dem Scheitern vom Camp-David-Gipfeltreffen (im Juli 2000) und der Erklärung des damaligen Ministerpräsidenten Ehud Barak, dass die Palästinenser*innen keine „Partner für den Frieden“ sind, und dass es auf der palästinensischen Seite „niemanden gibt, mit dem man sprechen kann“, wurde der Friedensprozess abgebrochen. Ungefähr zwei Monate später begann die zweite, die Al-Aqsa-Intifada, und die zionistische Linke, die Baraks Sicht teilte, verlor daraufhin jegliches Vertrauen in die Möglichkeit, den Konflikt zu beenden. Das Friedenslager brach in sich zusammen.
Die radikale Linke kam zu der Ansicht, dass sich die Realität eines Staates (statt zweier Staaten) abzeichnet und dass die Besatzung auf dem Wege ist, sich in ein von Israel beherrschtes Apartheidsregime zu entwickeln. Die Organisationen, die zu dieser Zeit gegründet wurden, richteten sich auf ein breites Spektrum von Solidaritätsaktivitäten: das Arabische Zentrum für Medienfreiheit, Entwicklung und Forschung – I'lam[40] (Information/Kommunikation) (2000); und Ta'ayusch (Zusammenleben) – Arabisch-Jüdische Partnerschaft[41] (2002), deren Mitglieder sich unter anderem an palästinensischen Protestdemonstrationen beteiligen, palästinensische Bäuer*innen und Bauern bei der Olivenernte begleiten und Informationstouren organisieren, um über die Realität der Besatzung in der Westbank aufzuklären. Einige der Mitglieder von Ta'ayusch beteiligten sich an der Gründung von Tarabut-Hitchabrut[42] (arabisch und hebräisch für: Miteinander-verbunden-Sein), deren Tätigkeitsfeld auch die Rechte der palästinensischen Staatsbürger*innen Israels umfasst. Im Jahr 2002 wurde die Organisation Zochrot[43] (Sich erinnern [feminin]) gegründet, die versucht, das Vergessen der Nakba, das heißt der Katastrophe der Niederlage und des Exils infolge des Krieges von 1948, der im zionistischen Narrativ „Befreiungskrieg“ oder „Unabhängigkeitskrieg“ genannt wird, zu verhindern. Im selben Jahr wurde die Organisation „Das Schweigen brechen“[44] von Bürger*innen gegründet, die in der Vergangenheit als normale Soldat*innen in den besetzten Gebieten gedient hatten und dabei mit den im Rahmen der Besatzung begangenen Unrechtstaten konfrontiert waren, die sie nun dokumentieren und an die Öffentlichkeit bringen. Und mit dem fortschreitenden Bau der Sperranlage in den besetzten palästinensischen Gebieten wurde die Bewegung der „Anarchisten gegen die Mauer“ (2003) gegründet. Im Jahr 2004 wurde die Bewegung für Informationsfreiheit gegründet, die die Ausführung des 1998 verabschiedeten, aber nicht ausgeführten Gesetzes zur Informationsfreiheit fordert. Im Jahr 2005 gründeten Frauen von Machsom Watch die Organisation Jesch Din[45] (Es gibt Recht), die Angriffe auf Palästinenser*innen in der Westbank dokumentiert und in ihrem Namen vor Gericht klagt. Und im selben Jahr entstand die Organisation Gischa[46] (Zugang), die die Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bewohner*innen des Gazastreifens und der Westbank zu verteidigen versucht. Im Jahr 2007 initiierte die Frauenkoalition für Frieden ein Projekt mit dem Namen Who Profits?[47] (Wer profitiert?) zur Erforschung der mit der Besatzung verbundenen israelischen Industrie und der Schaffung einer Datenbank über die wirtschaftliche Ausnutzung der Palästinenser*innen und ihrer Ressourcen. Später wurde daraus ein eigenständiges Informationszentrum.
Mit der zunehmenden Verdrängung von in Ost-Jerusalem lebenden Palästinenser*innen aus ihren Häusern zum Zwecke der „Judaisierung“ der Stadt organisierte sich die Bewegung „Solidarität mit Scheich Dscharrach“ einem Stadtviertel in Ost-Jerusalem (2009). Angesichts zunehmender Verzweiflung über die erfolglosen Aktivitäten der Bewegungen der „freien Radikalen, die nicht zusammenkommen“, wie sie mitunter in linker Selbstironie beschrieben werden, entschloss sich eine ad hoc geformte Gruppe von Frauen im Jahr 2010 zu einer Aktion zivilen Ungehorsams. Sie organisierten einen Ausflug mit palästinensischen Frauen und Kindern aus den besetzten Gebieten an den Strand von Tel Aviv, um gegen die Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit zu protestieren und die Willkürlichkeit der Barrieren, deren Beitrag zur Sicherheit reine Fiktion ist, aufzuzeigen.[48] In chronologischer Hinsicht als letzte, aber ebenfalls wichtig ist die Bewegung „Frauen machen Frieden“[49], die im Zuge des israelischen Angriffs auf den Gazastreifen im Sommer 2014 („Operation Protective Edge“) organisiert wurde, um Druck auf die Regierung zu machen, politischen Verhandlungen gegenüber Krieg den Vorzug zu geben. Im Zeichen der Zeit charakterisiert sich die Bewegung als apolitisch und lehnt die traditionelle politische Unterscheidung zwischen rechts und links ab. Wird es ihr auf ihre apolitische, versöhnliche Weise gelingen, das zu erreichen, was erfahrenen politischen Bewegungen nicht möglich war? Ich bezweifle es.
Um die Übersicht über die 1990er Jahre abzuschließen, soll zuletzt die neue Umweltbewegung kurz erwähnt werden, die sich in den 1990er Jahren rapide entwickelte. Informationen über die vielen verschiedenen Organisationen in dem Bereich und ihre vielfältigen Aktivitäten finden sich auf der Webseite der Organisation „Leben und Umwelt“.[50]
Und heute? Keyboard-Aktivismus und Social-Networking sind derzeit die führenden politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten. Dies ist wahrscheinlich nicht zum Wohle einer wirksamen politischen Organisation, da es sich um spontane und verstreute individuelle Tätigkeiten handelt, die es nicht erlauben, langfristig zu organisieren und zu planen, und die nicht einmal wirkliche Vertrautheit unter den Aktivist*innen schaffen. Zu den alternativen linken Internetplattformen und Onlinemagazinen gehören unter anderem: HaGada HaSmalit[51] (Das linke Ufer); HaOketz[52] (Der Stachel); Sicha Mekomit[53] (Ortsgespräch) und dessen englischsprachiger Partner +972[54] (die internationale Vorwahl für Israel), Israel Social TV[55], „Der heißeste Platz in der Hölle“[56] und Activestills[57], die sich auf Fotoreportagen konzentrieren. Diese Internetseiten zusammen mit den sozialen Onlinenetzwerken der Linken erwecken den Eindruck einer kohärenten, breiten, gut organisierten Linken, die in der Lage wäre, den Stadtplatz im Nu zu füllen. Dies ist ein falscher Eindruck, zumindest in Bezug auf den politischen Protest.
Als die großen sozialen Proteste gegen die hohen Lebenshaltungskosten im Juli 2011 ausbrachen, erschien es für einen Moment so, als könnten sie die Welt verändern. Aber auch das war ein falscher Eindruck. Die Protestbewegung war apolitisch, um alle gegensätzlichen Strömungen mit einzuschließen, und hatte sich bis zum Anfang des Winters aufgelöst. Was blieb – und auch das ist wichtig – ist ein kritischer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Diskurs und ein Aktivismus, der sich besonders auf wirtschaftliche Fragen konzentriert. Drei der Hauptaktivist*innen der Protestbewegung schlossen sich dem sozialdemokratischen Zionistischen Lager an und wurden ins Parlament gewählt. Einige einzelne Personen verfolgen die ihnen am Herzen liegenden Projekte weiter und vereinzelte Gruppen setzen relevante soziale und zivilgesellschaftliche Aktivitäten fort, so zum Beispiel die Aktivist*innen in Wohnvierteln Lo Nechmadim – Lo Nechmadot[58] (Nicht nette Männer und Frauen[59]). HaMa'abara[60] (Durchgangslager – die Bezeichnung der Lager, in denen Neueinwander*innen in den 1950er Jahren oft für lange Zeit untergebracht wurden) setzt sich für den öffentlichen sozialen Wohnungsbau ein und die aus der Protestbewegung hervorgegangene Organisation HaMishmar HaChevrati[61] (Die Sozialgarde) bemüht sich darum, die Öffentlichkeit an der zivilgesellschaftlichen Überwachung der Arbeit der Knesset und ihrer Ausschüsse zu beteiligen.
Epilog
Angesichts der gespaltenen und polarisierten israelischen Gesellschaft, die aus dem Inneren des Ethos der Eigenstaatlichkeit herausbrach, waren die linken Bewegungen stets ein Spiegelbild ebendieser Gespaltenheit und Polarisierung. Die linken Bewegungen arbeiten jede für sich in ihrem Bereich – ohne eine kohärente Strategie und in der Regel in Reaktion auf eine Realität, die von der religiösen und nationalistischen Rechten diktiert wird, und nicht aus eigenem Impuls, Veränderung herbeizuführen. Dies ist eine schmerzhafte Situation für all diejenigen, die, wie ich, nicht bereit sind, das Streben nach einer offenen, auf Gleichheit beruhenden und friedensorientierten Gesellschaft aufzugeben.
Im Jahr 2016 wird die Verfolgung von linken Organisationen und Aktivist*innen immer aggressiver fortgesetzt, vor allem von denjenigen, die in Solidarität mit den Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten tätig sind. Die gegenwärtige Isolation der radikalen Linken setzt sie den Angriffen der Regierung aus, die in der feindlichen öffentlichen Meinung Unterstützung finden. Wenn Aktivist*innen keine Basis innerhalb der Öffentlichkeit im eigenen Land haben und ihre Arbeit durch ausländische Finanzierungsquellen unterstützt wird, dann können sie leicht des Hochverrats beschuldigt werden. Diejenigen, die vor dem immer extremer werdenden Nationalismus in der jüdischen Gesellschaft in Israel warnen, ziehen den Groll der Öffentlichkeit auf sich. Historisch gesehen war der extreme Nationalismus immer der Feind der Jüdinnen und Juden, und es ist schwer, sich mit seinem Vorhandensein in Israel abzufinden. Je mehr aber die internationale Kritik an der Besatzung und der Politik, die viele von uns als eine Politik der Apartheid sehen, zunimmt, und je schwieriger es diese Kritik macht, die Realität weiterhin zu verleugnen, desto schärfer werden die linken Bewegungen verfolgt. Und zwar sowohl durch eine Gesetzgebung, die sich gegen ihre Aktivitäten richtet, als auch durch die Beschuldigung einzelner Aktivist*innen, angebliche mit der „Sicherheit“ verbundene Straftaten begangen zu haben. Außerdem: Je weiter das Bewusstsein des inneren Widerspruchs, der der Definition des Staates als „jüdisch und demokratisch“ inhärent ist, zunimmt, desto stärker ist die jüdische Mehrheitsgesellschaft gezwungen, den Charakter des Staates neu zu bestimmen. Das könnte dazu führen, dass die gefährliche systematische Tendenz der Trennung zwischen den palästinensischen Bürger*innen Israels, die 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, und den jüdischen Bürger*innen weiter steigt. Diese Prozesse scheinen das Selbstvertrauen der Regierung und ihrer Anhänger*innen zu untergraben, und diese richten ihren Zorn auf die radikale Linke, die Bote und Überbringerin der schlechten Nachrichten ist, deren tatsächlicher Einfluss auf die Realität aber minimal ist gemessen an dem Platz, den sie auf der Tagesordnung der nationalistischen Rechten einnimmt.
Aus ebendiesem Grund muss eine breite linke Bewegung, die als Grundlage einer Alternative zur Regierung dienen könnte, eine gemeinsame demokratische Bewegung von Araber*innen und Jüdinnen und Juden sein, die zusammen für eine offene Zivilgesellschaft eintreten. Denn das Ende der Besatzung wird zusammen mit einer historischen Versöhnung zwischen Israel und Palästina kommen müssen, und am Tag danach werden wir uns alle in einem Staat befinden, der den Weg in die Zukunft in einer veränderten Wirklichkeit sucht. Die Linke in Israel hat noch viel Arbeit vor sich.
Hedva Isachar, 1946 in Tel Aviv geboren, studierte Philosophie an der Tel Aviv Universität, arbeitete über 30 Jahre als Journalistin für Dokumentarsendungen bei Kol Israel, Israels staatlichem Radiosender. Seit ihrer Pensionierung betätigt sie sich als Aktivistin für Frieden und die Rechte von Arbeitnehmer*innen. Sie veröffentlichte unter anderem Aufsätze in feministischen Zeitschriften und Artikel in dem Onlinemagazin HaGada HaSmalit. Ihre beiden hebräischen Bücher „Schwestern für den Frieden: Feministische Stimmen in der Linken“ (2003) und „Andersdenker*innen – Eindrücke von der Gegenkultur der feministischen Linken“ (2009) erschienen im Resling Verlag.
(Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin)
Literaturhinweise
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Svirsky, Gila: Standing for Peace: A History of Women in Black in Israel, 1996, unter: www.gilasvirsky.com.
Anmerkungen:
[1] Vgl. die Selbstdarstellung der Palmach auf der Webseite des Palmach-Museums (englisch) unter: http://info.palmach.org.il/show_item.asp?itemId=8096&levelId=42798&itemType=0.
[2] Vgl. die Informationen auf der Etzel-Webseite unter: www.etzel.org.il/english/index.html.
[3] Vgl. die Informationen auf der Webseite der Organisation Vereinigung [zur Pflege] des Lechi Erbes unter: http://lehi.org.il/?lang=en.
[4] Vgl. weitere Informationen (auf Englisch) über Matzpen unter: http://israeli-left-archive.org/cgi-bin/library?site=localhost&a=p&p=about&c=matzpen&l=en&w=utf-8.
[5] Vgl. weitere Informationen (auf Englisch) über die PLO unter: www.britannica.com/topic/Palestine-Liberation-Organization.
[6] Die englische Übersetzung erschien 1971 unter dem Titel „The Seventh Day: Soldiers Talk about the Six-Day War“ („Der siebte Tag: Soldaten sprechen über den Sechs-Tage-Krieg“). Das Buch basiert auf Interviews, die Amos Oz und Avraham Shapira, selbst Kriegsteilnehmer, nur 10 Tage nach Kriegsende mit Soldaten geführt haben.
[7] Die meisten der Zeugenaussagen, die im ursprünglichen Text zensiert wurden, finden sich nun in dem Dokumentarfilm „Censored Voices“ („Zensierte Stimmen“) aus dem Jahr 2015.
[8] Für weitere Informationen vgl. die englische Webseite von ACRI unter: www.acri.org.il/en/.
[9] Vgl. die Webseite der Organisation unter: http://peacenow.org.il/eng/.
[10] Für weitere Informationen in Englisch über die Organisation siehe: http://israeli-left-archive.org/cgi-bin/library?site=localhost&a=p&p=about&c=campus&l=en&w=utf-8.
[11] Vgl. die englischsprachige Webseite der Organisation unter: www.yesh-gvul.org/.
[12] Für weitere englischsprachige Informationen über die Organisation siehe: http://israeli-left-archive.org/cgi-bin/library?site=localhost&a=p&p=about&c=the21sty&l=en&w=utf-8.
[13] Vgl. die englischsprachige Webseite von B’Tselem unter: www.btselem.org/.
[14] Für weitere englischsprachige Informationen siehe: http://israeli-left-archive.org/cgi-bin/library?site=localhost&a=p&p=about&c=wib&l=en&w=utf-8 sowie http://womeninblack.org/vigils-arround-the-world/europa/israel/.
[15] Später stellte sich heraus, dass einer der erschossenen Demonstranten kein israelischer Staatsbürger war.
[16] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: www.batshalom.org/about.php.
[17] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: www.coalitionofwomen.org/?lang=en.
[18] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: http://newprofile.org/english.
[19] Vgl. die englischsprachige Webseite der Organisation unter: www.en.machsomwatch.org/.
[20] Vgl. die hebräische Facebook-Seite der Organisation unter: https://www.facebook.com/mesarvot/.
[21] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: www.kavlaoved.org.il/en/.
[22] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: http://eng.wac-maan.org.il/.
[23] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: http://hotline.org.il/en/main/.
[24] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: http://assaf.org.il/en/.
[25] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: http://rhr.org.il/eng/; siehe auch den deutschen Wikipedia-Eintrag unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Rabbis_for_Human_Rights.
[26] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: http://stoptorture.org.il/?lang=en; siehe auch den deutschen Wikipedia-Eintrag unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Public_Committee_Against_Torture_in_Israel.
[27] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: www.hamoked.org/home.aspx; siehe auch den deutschen Wikipedia-Eintrag unter: https://de.wikipedia.org/wiki/HaMoked.
[28] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: www.wofpp.org/english/home.html.
[29] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: www.phr.org.il/en; für weitere Informationen auf Deutsch siehe zum Beispiel die Zeitungsartikel unter: www.taz.de/!5134779/; www.medico.de/von-der-einsamkeit-im-eigenen-land-und-der-pflicht-zur-einmischung-13071/.
[30] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: http://zope.gush-shalom.org/index_en.html; hier sind auch Links zu Texten zu finden, die ins Deutsche übersetzt wurden.
[31] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: www.sikkuy.org.il/?lang=en.
[32] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: http://www.adalah.org/en; siehe auch den deutschen Wikipedia-Eintrag unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Adalah_(Organisation).
[33] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: www.dukium.org/.
[34] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: www.mossawa.org/en.
[35] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: www.ha-keshet.org.il/.
[36] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: www.tebeka.org.il/en/.
[37] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: www.kayanwomen.org/under/index.html.
[38] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: http://isha.org.il/english/.
[39] Vgl. die hebräische Webseite der Organisation unter: www.achoti.org.il/; https://www.facebook.com/%D7%90%D7%97%D7%95%D7%AA%D7%99-%D7%9C%D7%9E%D7%A2%D7%9F-%D7%A0%D7%A9%D7%99%D7%9D-%D7%91%D7%99%D7%A9%D7%A8%D7%90%D7%9C-159340804106689/timeline/.
[40] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: www.ilam-center.org/en/.
[41] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: www.taayush.org/.
[42] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: www.tarabut.info/en/home/.
[43] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: http://zochrot.org/en.
[44] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: www.breakingthesilence.org.il/; siehe auch den deutschen Wikipedia-Eintrag unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Schovrim_Schtika.
[45] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: http://www.yesh-din.org/en; siehe auch den deutschen Wikipedia-Eintrag unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Jesch_Din.
[46] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: http://gisha.org/.
[47] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: www.whoprofits.org/; auf Deutsch siehe zum Beispiel: http://publicsolidarity.de/tag/who-profits/.
[48] Vgl. Sheizaf, Noam: 12 Israeli women defy army orders, take Palestinians to Tel Aviv, in: +972, 7.8.2010, unter: http://972mag.com/12-israeli-women-publicly-defy-army-orders-take-palestinians-for-a-day-trip-in-tel-aviv/734/.
[49] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: https://womenwagepeace.org.il/category/english/.
[50] Vgl. die englische Webseite der Organisation unter: http://www.sviva.net/Info.php?docId=new_homepage.
[51] Vgl. die Webseite unter: http://hagada.org.il/ (Hebräisch).
[52] Vgl. die Webseite unter: https://enghaokets.wordpress.com/.
[53] Vgl. die Webseite unter: http://mekomit.co.il/ (Hebräisch).
[54] Vgl. die Webseite unter: www.972mag.com/.
[55] Vgl. die Webseite unter: http://tv.social.org.il/en.
[56] Vgl. die Webseite unter: www.ha-makom.co.il/english.
[57] Vgl. die Webseite unter: www.activestills.org/.
[58] Vgl. die hebräische Facebook-Seite der Organisation unter: www.facebook.com/%D7%9C%D7%90-%D7%A0%D7%97%D7%9E%D7%93%D7%99%D7%9D-%D7%9C%D7%90-%D7%A0%D7%97%D7%9E%D7%93%D7%95%D7%AA-485312398245672/timeline/.
[59] Der Name nimmt Bezug auf die soziale Mizrachi-Bewegung der Schwarzen Panther in den 1970er Jahren.
[60] Vgl. die Webseite unter: https://hamaabara.wordpress.com/hamaabara-the-transit-camp/.
[61] Vgl. die Webseite unter: http://hamishmar.org.il/sample-page/2176-2/.
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