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“Eine neue Rolle der Palästinenser*innen in Israel?”

Bislang hatten die palästinensischen Bürger*innen Israels keine Rolle zu spielen im Kampf für ein Ende der Besatzung der palästinensischen Gebiete. Ändert sich das jetzt? Spannende Diskussion in den Räumen des Israel-Büros der Rosa Luxemburg Stiftung

„Nach den Oslo-Abkommen dachten wir, die Palästinenser*innen in Israel, dass es nicht unsere Aufgabe sei, dabei zu helfen die Besatzung zu beenden. Die Lösung sollte durch Verhandlungen zwischen der zionistischen Linken und der PLO gefunden werden. Für uns bliebe also nichts anderes zu tun, als der zionistischen Linken als Reservearmee in den Wahlen zu dienen. Wir müssen wieder aktiv werden, so wie wir es bis zur Ersten Intifada waren. Wir haben eine Befreiungsaufgabe bei der Beendigung der Besatzung.“

Dies sagte Jafar Farah, der Leiter des Mossawa Zentrums , während einer Veranstaltung, die am Abend des 17. Juli in dem vollbesetzten Saal des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv stattfand. Unter dem Titel: „Zwischen Gaza und Haifa, die Aufgabe der Palästinenser*innen bei der Beendigung der Besatzung“ diskutierten Jafar Farah und die in Lakija[1] wohnende Huda Abu Ubayd von der Organisation Gischa. Die Veranstaltung war eine Initiative von Sicha Mekomit[2] zusammen mit dem Mossawa Zentrum und dem Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Israel. Die Journalistin Orly Noy von Sicha Mekomit moderierte die Diskussionsrunde.[3]

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Jafar Farah, Mossawa Zentrum, in den Räumen der Rosa Luxemburg Stiftung in Tel Aviv

Wenige Wochen vor dem Gespräch wurde Farah auf einer Solidaritätsdemonstration mit dem Gazastreifen in Haifa verhaftet und auf der Polizeistation von einem Polizisten so verprügelt, dass sein Bein gebrochen wurde. Farah beschrieb, dass obwohl die Demonstrationen in Haifa relativ klein waren - im Ganzen beteiligten sich lediglich einige hundert Menschen daran - die Polizei sich dazu entschied, diese zu unterdrücken, um „den säkularen Arabern eine Lektion zu erteilen“. Haifa, erklärte Farah, ist zu einem Zentrum arabischer „Normalität“ geworden. Fast 50 Prozent der Ärzte und Ärztinnen in den Krankenhäusern der Stadt sind Araber*innen; und es gibt dort arabische Kulturzentren. „Wer diese Normalität nicht will, wer das Wir-hier-und-ihr-dort aufrechterhalten will, muss diese Normalität zerstören“, sagte Farah. Das sei der Grund für die Unterdrückung.

In seiner Analyse der Beteiligung der Palästinenser*innen in Israel an den Kämpfen zur Beendigung der Besatzung ging Farah in das Jahr 1993 zu den Oslo-Abkommen zurück. „Seit 1993 sagen uns die PLO und Israel: Ihr müsst Euch um Euch selbst diesseits der Grünen Linie kümmern; und wir haben das akzeptiert“, erklärte Farah. Die Gründung in den 1990er Jahren von Adalah und Mossawa, zwei Organisationen, die sich für die Rechte der Palästinenser*innen in Israel einsetzen, war seines Erachtens eine direkte Folge dieser Entwicklung. „Wir haben innerhalb der Grünen Linie gearbeitet und haben nicht verstanden, dass es keine Grüne Linie gibt“. Die Idee der Trennung, wie sie von Kadima-Politikern wie Chaim Ramon vertreten wurde, sei gescheitert, so Farah, und was im Gazastreifen geschieht, beweise dies. Eben diese Trennung sei der Grund dafür, dass „die Ersten, die die Vision der Zwei-Staaten-Lösung zur Seite gelegt haben, die Palästinenser*innen in Israel waren“.

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Huda Abu Ubayd von der Organisation Gisha auf derselben Veranstaltung.

Huda Abu Ubayd beobachtete ebenso, dass die Politik des Teile-und-herrsche zwischen den Palästinenser*innen auf beiden Seiten der Grünen Linie erfolgreich gewesen sei. Sie erzählte, dass sie selbst die beduinischen Ortschaften in der Westbank nie besucht habe, selbst die im relativ nahegelegenen südlichen Hebron-Gebirge. Erst kürzlich kam eine Gruppe von beduinischen Aktivist*innen von al-Araqib[4] zu einem Solidaritätsbesuch nach Khan al-Achmar, wo Mitglieder des Jenin-Stammes leben, der bekanntlich nach 1948 aus dem Negev vertrieben wurde und deren Dorf nun wieder einer Siedlung weichen soll. „Obwohl die Fragen der Flüchtlinge und der Rückkehr im Zentrum unseres Kampfes im Negev stehen, gibt es fast keine Kontakte unter den Bewohner*innen und den engagierten Gruppen. Allein in Jordanien gibt es fast eine Million beduinisch-palästinensischer Flüchtlinge“, sagte sie.

Die Verbindungen zwischen den Palästinenser*innen an den verschiedenen Orten fehlt praktisch, sei ideell aber vorhanden. Wie Farah betont auch Abu Udayb, dass sich der Kampf der Palästinenser*innen in Israel niemals nur um staatsbürgerliche Themen, losgelöst von der Frage der nationalen Identität, gedreht habe. Staatsbürgerschaft, nationale Identität, Landrechte und das Recht auf Rückkehr seien zusammen zu denken. Sie erzählte von einem Treffen im Jahr 2008 des damaligen israelischen Staatspräsidenten Schimon Peres mit beduinischen Frauen, an dem sie als junge Studentin teilnahm. „Peres hat den Frauen zugehört und sagte, wie sehr er sich darüber freue, dass die beduinischen Frauen über Arbeit reden und nicht mehr über Land. Ich dachte: Was soll das heißen, sie reden nicht über Land? Land steht im Zentrum unseres Kampfes. Aber ich fürchtete mich zu sprechen und schwieg.“ Diese Versuche Themen zu entpolitisieren funktionierten gewissermaßen.

Aus Abu Ubayds Sicht änderte sich die Situation im Jahr 2000. „Auch in der Vergangenheit glaubten wir, dass wir Palästinenser*innen seien, aber es hat lange gedauert bis wir uns von der Militärregierung befreit haben“, sagte sie. „Wir brauchten eine Genehmigung, um arbeiten zu gehen, eine Erlaubnis, um eine Fahne zu hissen. Wir wollten Staatsbürger*innen sein, aber im Oktober 2000 sagte uns die Polizei: Ihr seid immer noch keine Staatsbürger*innen.“ Die Ereignisse haben ihren Blick auf die Politik geändert, die Repressionen schüchtert sie nicht mehr ein: „Mir ist es egal, was die anderen denken“. Sie berichtet von einem Mitarbeiter des israelischen Inlandgeheimdiensts Schabak, der in ihre Wohnung kam und sie damit bedrohte, dass „er sie aus dem Bett holen werde“ und ihre Eltern dann nicht wüssten, wo sie wäre, falls sie nicht aufhöre, Demonstrationen zu organisieren. „Ich sagte ihm: »Ich nehme das zu Kenntnis.« Das war nicht die Antwort, die er von einer jungen Beduinin erwartet hatte. An meinem Handeln habe ich nichts geändert.“

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Im Oktober 2000 wurden 13 Demonstrant*innen (davon 12 israelische Staatsbürger*innen) bei landesweiten Demonstrationen durch Polizeikräfte erschossen. Foto: Adalah

Farah lenkte den Fokus des Handelns auf die Vernetzung und betonte die bestehenden Verbindungen zwischen den unter der Besatzung lebenden Palästinenser*innen: „6.000 arabische Student*innen aus Israel studieren an den Universitäten im besetzten Westjordanland: 5.000 in Dschenin, und tausend weitere an der Bir-Zait Universität“, erzählte er[5]. Trotzdem müsse sich etwas ändern. „Bis zur Ersten Intifada waren wir pro-aktiv; dort müssen wir wieder ansetzen“, sagte Farah. „Wir haben eine Aufgabe zu befreien; lasst uns, uns und die Israelis von der Besatzung befreien. Die Beendigung der Besatzung hängt nicht nur von den Juden und Jüdinnen ab“. Farah argumentierte, dass die Palästinenser*innen in Israel ihre Macht, die sie erlangt haben, nutzen müssen. „Ich erwarte von einem arabischen Arzt, der einen jüdischen Patienten behandelt, dass er mit ihm über die Zukunft spricht. Wir dürfen weder in der Angst noch in der Trennung steckenbleiben.“ Eine Lücke sieht Farah in der Aufklärung der Bevölkerung mit palästinensischer Stimme. So gibt es heute in Israel keine palästinensische Organisation, die den Widerstand der Palästinenser*innen erklärt; das läuft immer über jüdische Organisationen. „Wir müssen erklären, was das Recht auf Rückkehr ist; wir müssen die Flüchtlingsfrage auf die Agenda setzen“, sagte Farah. „Wir müssen mit Menschen bei ihnen zuhause sprechen, wir müssen an Türen klopfen. Wir müssen das Land wie vor Wahlen in Zuständigkeitsgebiete aufteilen. Wir müssen mit den jüdischen Ultraorthodoxen sprechen, und mit den Russisch-sprechenden Menschen.“ Zum Abschluss argumentierte Farah: „Wenn wir so verfahren, uns organisieren und vernetzen, ist es gemeinsam möglich, im Knesset auf 61 Mandate zu kommen und damit die Mehrheit im Parlament zu haben.“

Abu Ubayd zeigt sich reservierter in Bezug auf die Wichtigkeit, die jüdische Bevölkerung in Israel zu von ihrer Sache überzeugen. „Ich brauche nicht zu einem zionistischen Juden zu gehen, um ihn dazu zu überreden, sich dem Kampf anzuschließen“, sagte sie. „Bei ihm muss der Groschen selbst fallen, dass ich hier bin und hierbleiben werde.“

Übersetzung von Ursula Wokoeck Wollin

Dieser Artikel ist zuerst erschienen auf Hebräisch unter: https://mekomit.co.il/הפלסטינים-בישראל-צריכים-להבין-יש-לנו-ת/

Weiterführende Links

Anmerkungen

[1] Eine von Beduin*innen bewohnte israelische Stadt im Negev/Naqab.

[2] Lokales Gespräch“ oder „Local Call“ – eine israelische Nachrichten- und Meinungs-Internetplattform.

[3] Zu der Beziehung zwischen Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten und in Israel, schrieb kürzlich auch Rami Younis im +972 Magazin: https://972mag.com/the-changing-relationship-between-palestinians-on-either-side-of-the-wall/136713/

[4] Ein Beduinendorf im Negev, deren Bewohner*innen seit acht Jahren gegen die Zwangsräumung von ihrem Land kämpfen. Bisher wurden die Gebäude des Dorfs mehr als 130 Mal abgerissen.

[5] Mehr Informationen zur Tendenz von in Israel lebenden aber im Westjordanland studierenden Araber*innen, finden sich im Artikel von Yaser Wakid im Haaretz: https://www.haaretz.com/israel-news/.premium.MAGAZINE-israeli-arabs-flock-to-west-bank-universities-1.5931063

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