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Sechs Tage, die nicht vergehen

Perspektiven des israelisch-palästinensischen Konflikts 50 Jahre nach dem Krieg von 1967

Im Juni 1967 eroberte Israel die palästinensischen Gebiete Westbank einschließlich Ostjerusalems und den Gazastreifen. Immer wieder sprachen sich weite Teile der Weltöffentlichkeit und eine große Mehrheit der relevanten politischen Akteure, einschließlich der USA und der Sowjetunion/Russlands, in den Jahrzehnten danach für eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts durch eine Zweistaatenlösung aus, sprich die Gründung eines Palästinenserstaats in diesen besetzten Gebieten neben Israel in seinen anerkannten Grenzen.

Doch dazu kam es nicht. Stattdessen etablierte sich in den letzten fünfzig Jahren unter dem Mantel einer provisorischen militärischen Besatzung und allen Friedensgesprächen und Teilabkommen zum Trotz ein Projekt der permanenten Herrschaft über die besetzten Gebiete. Dazu zählen die Ansiedlung eigener Staatsbürger*innen in den besetzten Gebieten, eine immer feingliedrigere direkte und indirekte Kontrolle der Palästinenser*innen sowie deren schleichende Verdrängung in dichtgedrängte Enklaven.

Die Wirklichkeit der Besatzung

In der Westbank, mit etwa 6.000 Quadratkilometer der weitaus größere Teil der besetzten Palästinensergebiete, leben heute etwa 350.000 israelische Siedler*innen in über 100 Siedlungen[1]. Sie sind mit dem Mutterland durch ein Schnellstraßensystem verbunden, welches das palästinensische Territorium durchschneidet. Militärischen Schutz liefert die israelische Armee, die 60 Prozent der Westbank verwaltet und jedwede Entwicklung palästinensischer Infrastruktur verhindert. Gemeinsam kontrollieren Siedlungen und Armee lebensnotwendige Ressourcen und befördern einen schleichenden Enteignungsprozess der Palästinenser*innen.

Hinzu kommen ein System von Grenzkontrollen und separierten Straßen sowie eine Sperranlage, die der Westbank drei bis sechs Prozent der Gesamtfläche entzieht. Eine immer stärkere Zerstückelung der palästinensischen Gebiete ist die Folge. Das System von Straßensperren und Barrieren, Passierscheinen und Terminals, Betonmauern und eingezäunten Enklaven hält die palästinensische Bevölkerung eingeschlossen und unter ständiger Beobachtung. Freiheit sieht anders aus.

Die Palästinensische Autonomiebehörde verwaltet lediglich nicht miteinander verbundene Enklaven, die rund 40 Prozent der Westbank ausmachen. Weitere 200.000 Siedler*innen leben im von Israel formal annektierten Ost-Jerusalem, dessen palästinensische Bezirke von jüdisch-israelischen Siedlungen umzingelt und damit von der Westbank abgeriegelt sind.

Zwar hat sich die israelische Armee 2005 aus dem dichtbevölkerten, bitterarmen Gazastreifen, mit etwa 360 Quadratkilometer etwas kleiner als Westberlin, zurückgezogen und wurden die mit etwa 9.000 Einwohner*innen relativ kleinen Siedlungen dort geräumt. Das Eigenständigkeit simulierende Gebaren der dort herrschenden Hamas kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch der Gazastreifen nach wie vor in wesentlichen Aspekten von Israel abhängt. Denn ohne die Westbank ist er nicht lebensfähig, und Israel kontrolliert alle Land- und Seegrenzen sowie den Luftraum aller palästinensischen Gebiete. Zudem dominiert Israel die palästinensische Wirtschaft im Gazastreifen ebenso wie in der Westbank völlig, insbesondere Währung, Ressourcen und Handel.

Zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan gibt es also de facto nur einen Souverän, den israelischen Staat. Israels Regierung will die Kontrolle über die Palästinensergebiete behalten und die Ausweitung der Siedlungen ermöglichen. Zugleich fürchtet sie um die Vorrechte der jüdischen Bevölkerung, wenn alle Menschen im Land gleiche Rechte genössen. Denn schon heute gibt es mit 6,2 Millionen Juden und Jüdinnen im Vergleich zu 6,3 Millionen Araber*innen keine jüdische Mehrheit mehr.

Folglich ist ein verschlungenes System entwickelt worden, in dem die Einwohner*innen je nach Staatsbürgerschaft, Wohnort (Israel, Westbank, Gazastreifen, Ostjerusalem) und ethnisch-religiöser Zugehörigkeit unterschiedliche Rechte besitzen – mit dem vorrangigen Ziel den Palästinenser*innen Bürger- und andere Rechte vorzuenthalten.

Um dieses System aufrechtzuerhalten, müssen sowohl ein souveräner Palästinenserstaat, der Kontrollverlust bedeuten würde, als auch die Annexion der gesamten Palästinensergebiete verhindert werden. Denn, gäbe es de jure nur einen Staat, so würde dies die Forderung nach gleichen Rechten seitens der Palästinenser*innen nach sich ziehen. Dies würde nicht nur etablierte Vorrechte gefährden, sondern die zionistische Vision eines jüdischen Staats.

Fatale Rückwirkungen der Kolonisierungsprozesse

Diese Situation schreibt Unrecht fest. Darüber hinaus befördert sie eine fortschreitende Schrumpfung demokratischer Räume in beiden Gesellschaften, eine Dämonisierung der anderen Seite und eine Glorifizierung von Gewalt. Von der berechtigten Hoffnung, dass die palästinensische Befreiungsbewegung auch emanzipatorische Prozesse antreibt, ist wenig geblieben.

Ein System von Patronage ist in den völlig auf ausländische Gelder angewiesenen palästinensischen Enklaven entstanden, das demokratische Strukturen untergräbt. Die Palästinensische Autonomiebehörde, der die Verwaltung der Westbank-Enklaven obliegt, ist von Israels Gnaden abhängig und muss deren Sicherheitsanforderungen durch repressive Maßnahmen gegen die eigene Bevölkerung durchsetzen.

Derweil folgte der geografischen Abspaltung der Palästinensergebiete die politische. Im Gazastreifen herrscht die islamistische Hamas, die ihrerseits Einschüchterung und mitunter Folter benötigt, um ihre schwindende Popularität in der seit inzwischen zehn Jahren von der Außenwelt abgeriegelten Enklave zu kompensieren. Hinzu kommen Perspektivlosigkeit und tribalistische beziehungsweise fundamentalreligiöse Einflüsse aus der Gesamtregion, die die palästinensische Gesellschaft immer reaktionärer werden lassen.

Die Kolonisierungsprozesse in den besetzten Gebieten haben fatale Rückwirkungen auch auf Israels innere Verfasstheit und rechtsstaatliche Strukturen. Plurale Gesellschaftsentwürfe werden ethnisiert. Dutzende Gesetzesvorhaben zum Nachteil der indigenen arabischen Minderheit und zur Einschränkung der Arbeit von Menschenrechtsorganisationen, Einschüchterung missliebiger Kultureinrichtungen und der Gerichte durch Minister*innen und Ministerien sowie regelrechte Jagdszenen im Süden Tel Avivs auf afrikanische Flüchtlinge zeugen hiervon. Der mangelnde Protest dagegen zeigt, wie weit die Besatzung der palästinensischen Gebiete Israels demokratische Grundfesten aufgeweicht hat.

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Palästinensische Arbeiter warten am Eyal checkpoint zwischen Qalqilya und Israel. Foto: ActiveStills

Die Zweistaatenlösung und alternative Lösungsansätze

Auf dem internationalen Parkett ist die Zweistaatenlösung das Maß aller Dinge. Sie umfasst eine territoriale Regelung auf Basis der Grenzen von 1967 mit vereinbartem Gebietstausch, Sicherheitsarrangements, die die Bedürfnisse beider Seiten berücksichtigen, eine für die Konfliktparteien und die Hauptaufnahmeländer akzeptable Regelung der Flüchtlingsfrage sowie Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten.

Angesichts der Situation in den besetzten Gebieten wachsen die Zweifel an der Umsetzbarkeit einer Zweistaatenregelung, und sowohl auf israelischer als auch auf palästinensischer Seite werden vermehrt alternative Ansätze diskutiert. Dazu zählen Einstaatenmodelle mit einer muslimisch-palästinensischen oder jüdisch-israelischen Dominanz, der Plan eines einseitigen Rückzugs Israel lediglich aus den dichtbevölkerten Teilen der Westbank sowie neue kreative binationale oder Konföderationsmodelle, die es erlauben, kollektive Identitäten sowie individuelle Rechte zu berücksichtigen.

All diese alternativen Lösungen sind so wie auch die Zweistaatenlösung reelle Möglichkeiten, und alle könnten sie mit genügend politischem Willen durchgesetzt werden. Es stellt sich die Frage, welche historische Dynamik sie fördern.

Jede ernstzunehmende politische Lösung muss auf den Prinzipien der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung beruhen und die Region einer historischen Aussöhnung zwischen den Völkern näherbringen. Das Festhalten an dem jetzigen Schwebezustand ist ebenso verheerend wie eine etwaige Lösung, die eine Dominanz der einen Seite festschreibt. Ein teilweiser Rückzug aus der Westbank samt einseitiger Festlegung der Grenzen durch Israel würde eine ungerechte und explosive Lage herstellen. Er würde den Konflikt kaum beenden und ein höchst instabiles palästinensisches Gemeinwesen mit vielen seiner jetzigen Abhängigkeiten zurücklassen, das kaum Chancen auf Entwicklung und noch weniger emanzipatorisches Potenzial hätte, als es heute schon hat.

Eine solche für die Palästinser*innen nachteilige Lösung würde notwendigerweise Widerstand erzeugen, eine etwaige Regierung müsste folglich entweder Gewalt Richtung Israel tolerieren, oder die eigene Bevölkerung mit Gewalt unterdrücken. An den Erfahrungen seit der einseitigen Trennung von Gaza lässt sich ablesen, dass die israelische Gesellschaft auf die dann entstehende Belagerungssituation mit einer enorm gestiegenen Gewaltbereitschaft agiert.

Den konföderativen wie binationalen Modellen kann einiges abgewonnen werden, doch auch sie stehen genauso wie die bislang gescheiterte Zweistaatenlösung vor einem großen Hindernis: der Weigerung Israels, angehäufte Privilegien der jüdischen Bevölkerung und die Kontrolle über die Palästinenser*innen aufzugeben.

Wie kann der Friedensprozess vorangebracht werden?

Woran es fehlt, ist der politische Wille, eine wie auch immer im Detail geartete Regelung durchzusetzen. Dabei muss sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Akteure verändern.

Hierfür wären drei Akteure nötig: Koloniale Prozesse enden fast immer durch den Widerstand der indigenen Bevölkerung, sprich die Palästinenser*innen müssten mit einer kräftigen und geeinten Stimme sprechen können und Widerstand effektiv gestalten. Dann müsste sich eine innerisraelische Opposition zu einer echten Alternative zur jetzigen Regierung entwickeln. Dazu gehört vor allem eine Arbeitspartei, die einer noch friedenswilligen Bevölkerungsmehrheit reinen Wein einschenkt und sich klar zu einer progressiven Front mit der palästinensischen Minderheit in Israel, immerhin bald 20 Prozent der israelischen Bevölkerung, bekennt.

Dem Ausland schließlich, allen voran den westlichen Alliierten Israels, fiele angesichts der tiefen Asymmetrie des Konflikts eine gewichtige Rolle zu, nämlich den notwendigen politischen Willen bei den Konfliktparteien zu mobilisieren. Blutleere Plädoyers für eine Zweistaatenregelung reichen hier mitnichten aus. Falls sie – etwa die Trump-Administration – diese Regelung nicht weiterverfolgen wollen, müssten sie sich auch weiterhin für eine alternative Lösung einsetzen, da jede nachhaltige Lösung das bisherige Kosten-Nutzen-Verhältnis verändern muss.

Vor allem die Länder, die Einfluss auf Israel haben, müssen konkrete und verbindliche Maßnahmen ergreifen, welche dem Friedensprozess eine neue Dynamik verleihen können. Dazu gehören die Vorgabe von Parametern für eine Verhandlungsregelung durch den Sicherheitsrat, eine robuste Vermittlung, Sicherheitsgarantien, aber auch konkrete Maßnahmen im Falle von Nichtkooperation. Im Umlauf sind die Idee des Herunterstufens bilateraler Beziehungen und, bezogen auf die Siedlungen, die Klarstellung, dass weder für sie, noch für ihre Einwohner*innen die Vorteile bi- und multilateraler Abkommen mit Israel gelten können.

Schließlich kann ein Ende der Besatzung nur der Anfang eines langen Bemühens um gerechtere Gesellschaften sein. In Israel werden angesichts der großen palästinensischen Minderheit im Land und zugunsten nichtjüdischer Emigrant*innen ein neues Selbstverständnis, das die jüdische Identität der Bevölkerungsmehrheit und ein modernes Staatsbürgerschaftsverständnis besser austariert, sowie Bi-Nationalität so oder so unentbehrlich sein – in einem Staat oder in zweien.

Es wird ein langwieriger Prozess der Auseinandersetzung mit den entstandenen Wunden und Narben, die die Besiedlung des Lands auf Kosten eines anderen Volks in jedem Lebensbereich, in der Landschaft und der Verteilung der Ressourcen und in der kollektiven Vorstellungskraft hinterlassen hat. Die palästinensische Gesellschaft muss nicht nur dem Erbe der entstandenen Fürstentümer der Fatah und der Hamas ein emanzipatorisches Modell gegenüberstellen, sondern einem arabischen Universum trotzen, das zwischen Autokratie und Militärtyrannei einerseits und religiös gefärbter Reaktion schwankt.

Tsafrir Cohen leitet das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

(Dieser Artikel ist zuerst erschienen in Südlink - Das Nord-Süd-Magazin von INKOTA)

Anmerkungen:

[1] [Zum Vergleich: in der Westbank leben ca. 2,8 Millionen Palästinenser*innen, in Gaza ca. 1,8 Millionen, Anm. d.R.]

Empfehlungen zum Weiterlesen

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Bücher:

    Asseburg, Muriel & Busse, Jan: Der Nahostkonflikt: Geschichte, Positionen, Perspektiven; München (2016)

    Segev, Tom: 1967, Israels zweite Geburt; München (2009)

    Shavit, Ari: Mein gelobtes Land. Triumph und Tragödie Israels; München (2015)

    Weizman, Eyal: Sperrzonen. Israels Architektur der Besatzung; Hamburg (2009)

    Zertal, Idith & Eldar, Akiva: Die Herren des Landes; München (2007)

    Orna Ben-Naftali, Michael Sfard, Hedi Viterbo, The ABC of the OPT. A Legal Lexicon of the Israeli Control over the Occupied Palestinian Territory, Cambridge 2018.

Autor:in

Tsafrir Cohen leitete das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv zwischen 2015-2020.