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Wem gehört das Geld über unseren Köpfen?

Luft ist eine unterschätzte Ressource, sie ist der Raum, in dem wir wohnen, das, was wir in der Regel „Zuhause“ nennen, aber auch der Raum für endlose Erwartungen. Wem gehört diese Luft und wem gehört dieses Geld? Unabhängig davon, ob aufgezwungen oder mit Beteiligung der Bewohner*innen durchgeführt, Stadtsanierung und die Lösungen des Wohnungsproblems sind in erster Linie durch Profitstreben geprägt, wobei der Profit des einen auf Kosten des anderen geht. Der israelische Architekt Sharon Rotbard meint, es ist notwendig, die Konzentration von Luft in den Händen weniger zu verhindern und den Mechanismen der Spekulation, mit denen Profiterwartungen geschürt werden, entgegenzuwirken.

1 „Pinui Binui“ - „Räumung und (Neu-)Bau“

Am Morgen des 18. Januar 2017 um 5 Uhr rückte die Polizei in dem Beduinendorf Umm al-Ḥīrān ein, um es zu räumen. Während der Räumung wurden zwei Menschen getötet, der beduinische Lehrer Yacoub Abu al-Qiyan und der jüdische Polizist Erez Levy. Die Räumung des Beduinendorfs Umm al-Ḥīrān soll den Bau einer neuen jüdischen Ortschaft mit dem Namen Hiran ermöglichen. Eine Art „Räumung und (Neu-)Bau“.

Aber mit „Räumung und (Neu-)Bau“ (hebr. „Pinui Binui“) meinen wir im Allgemeinen etwas anderes,[1] obwohl es sich eigentlich um etwas Ähnliches handelt. Ich habe diesen Begriff zum ersten Mal gehört – es war wohl im Jahr 2001 –, als ich zur Tel Aviver Stadtverwaltung ging, um etwas bezüglich der Bauabnahme meines Hauses zu regeln, das ich im Schapira-Viertel[2] gebaut hatte. Ich sah auf dem Tisch der Architektin des Stabs für den südlichen Teil Tel Avivs eine Karte, auf der zwei große Gebiete des Schapira-Viertels mit einer blauen Linie umrandet waren. In einem davon befand sich auch mein Haus, das ich gerade fertig gebaut hatte. Es stellte sich heraus, dass die Stadtverwaltung dem interministeriellen Ausschuss einen Antrag auf Genehmigung vorlegen wollte, um ein städtisches Sanierungsprojekt in diesen beiden Gebieten mittels „Räumung und (Neu-)Bau“ durchzuführen. Dem Plan waren Computersimulationen beigefügt, die neureiche kleinbürgerliche Vorortszenarien zeigten. Bei genauerer Betrachtung stellte sich heraus, dass der Plan eigentlich darin bestand, die meisten der Straßen und Häuser in diesen Gebieten abzureißen und stattdessen eine Reihe von Hochhäusern zu bauen. Es war offensichtlich, dass die Planer*innen dem Entwurf nicht mehr als einen halben Arbeitstag gewidmet hatten.

Kurz danach wurde das Viertel mit Flugblättern überflutet, die die Überschrift trugen: „Eine Chance, die es im Leben nur einmal gibt! Verpass sie nicht!“ Das Schreiben war besonders raffiniert und unter Verwendung der männlichen Form in der Anrede verfasst – vermutlich, um Rücksicht auf den traditionellen Charakter des Viertels zu nehmen und sich direkt an das lokale Patriarchat zu wenden – und lud die Bewohner des Viertels zu einem Treffen mit dem stellvertretenden Bürgermeister und dem Direktor der staatlichen Baufirma Halamisch ein,[3] die sich beide für das Projekt aussprachen. Viele der Bewohner und auch viele der Bewohner*innen kamen zu dem Treffen im Gemeindezentrum. Der stellvertretende Bürgermeister begann seine Rede wie folgt: „Ich werde langsam sprechen, damit Ihr schnell versteht. Wenn Ihr jetzt nicht zustimmt, wird es keine zweite Chance geben.“ Die Bewohner*innen, von denen viele Eigentümer*innen von Häusern sind, die seit den 1920er Jahren im historischen Tabu (Grundbuch) eingetragen sind, wollten nicht wirklich verstehen und verfolgten mit wachsendem Erstaunen die Serie von Computersimulationen, die der Direktor von Halamisch ihnen vorführte. Die beiden Präsentatoren konnten Dr. Ifa‘at Teharani, eine junge Architektin, die im Viertel aufgewachsen ist und die lokale Pfadfindergruppe gegründet hat, nicht beruhigen, die ihre Sorge darüber zum Ausdruck brachte, dass ihre Eltern und ihre Geschwister dem Plan zufolge ihre Häuser würden räumen müssen, weil sie abgerissen werden sollten. Kurzum: Die Versammlung platzte, und der stellvertretende Bürgermeister, der Direktor und das Heer ihrer Assistenten verließen blitzschnell den Saal des Gemeindezentrums. Erfreulicherweise wurde der Plan fallengelassen, und die Stadtverwaltung begann, mit Beteiligung der Öffentlichkeit einen Masterplan zu erarbeiten.

Zwei Jahre später besuchten mich Bewohner*innen des HaArgazim-Viertels, einer armen Wohngegend im Südosten von Tel Aviv, die herausgefunden hatten, dass auch sie geräumt werden sollten. In diesem Fall ging die Bedrohung allerdings von privater Seite aus – ein Bauunternehmer hatte praktisch das ganze Viertel gekauft – und die Umsetzung des Projekts führte zu gewalttätigen Übergriffen: Autoreifen wurden zerstochen, es kam zu Arbeitsunfällen, bei denen die Planierraupen versehentlich hier eine Wand einrissen und dort ein Dach zum Einsturz brachten. Im Zuge der Entwicklungen wurden diejenigen, die frühzeitig unterschrieben hatten, zu Stakeholdern, und die, die nicht bereit gewesen waren zu unterschreiben, zu Hindernissen. Mitunter ging diese Spaltung mitten durch Familien oder trennte langjährige enge Freund*innen. Ich begleitete die Bewohner*innen des HaArgazim-Viertels zu einer Anhörung im Sozialausschuss der Knesset, die aufgrund der Vorkommnisse schließlich anberaumt wurde. Die Journalistin Einat Fischbein hat eine umfassende Studie der gesamten Affäre für das Adva Center erstellt. Soweit ich weiß, ist dieser Fall immer noch nicht abgeschlossen. Dem Bauunternehmer ist es bisher nur gelungen, ein Gebäude zu bauen.

In den letzten Jahren habe ich von anderen Arten von „Räumung und (Neu-)Bau“-Projekten gehört, hauptsächlich in wohlhabenderen Vierteln im Norden von Tel Aviv und in den umliegenden Städten, wie Ramat Gan und Giv‘atajim, wo Gruppen von gebildeten, gut situierten Bewohner*innen, die über entsprechende finanzielle Mittel verfügen, die Projekte selbst vorantreiben. Diesmal sind es – wie den Beschwerden zu entnehmen ist – die Bewohner*innen, die mittels Versprechungen und Druck auf die Bauunternehmen oder die lokalen Ausschüsse versuchen, die Genehmigung für den Bau von mehr Wohnungen und Stockwerken oder weitreichendere Baurechte zu erhalten.

Was viele dieser Projekte und Versuche – unabhängig davon, ob sie von oben bzw. außen aufgezwungen oder mit Beteiligung der Bewohner*innen durchgeführt werden – gemein haben, ist die Auffassung, dass sich Stadtsanierung und die Lösung des Wohnungsproblems in erster Linie – oder vielleicht ausschließlich – durch Profitstreben bewerkstelligen lassen, wobei der Profit des einen auf Kosten des anderen geht. Und das erfordert immer ein gewisses Maß an Gewaltanwendung. Wenn dies nicht im Namen irgendeiner zionistischen Siedlungsideologie stattfindet, geschieht es im Namen einer gesellschaftlich-wirtschaftlichen Ideologie. Oder wie es einer der Planer des Stabs für den südlichen Teil von Tel Aviv in einer der Sitzungen formulierte: „Es ist keine Schande, finanziell zu profitieren!“ Und der Vertreter der „Räumungsfirma“, der an der Anhörung teilnahm, begann, mich persönlich anzugreifen, und vor dem Ausschuss darauf hinzuweisen, dass er wisse, wo ich wohne. Niemand hat etwas dazu gesagt.

Es geht hier nicht nur um die Gier von Bauunternehmer*innen und Stakeholdern, sondern um eine fast offizielle Ideologie, deren Hauptverfechter*innen oft ausgerechnet diejenigen sind, die die Förderprogramme, die der Allgemeinheit dienen sollen, koordinieren. Und wenn im öffentlichen Dienst die Auffassung vertreten wird, dass die Stadt ein Markt ist und dass der Markt sich selbst in Ordnung bringt, dann fühlen sich die Koordinator*innen nicht dafür verantwortlich, eine Lösung für die nicht anerkannten Beduinendörfer zu finden und auch nicht für die Förderung des sozialen Wohnungsbaus.

2 Lukrative Luftgeschäfte

Diese Beispiele zeigen aber auch eine tiefe soziale Veränderung, bei der ein ganzes Land vom Immobilienmarkt-Fieber ergriffen ist. Heute ist fast jede Person – sei sie (nur) EinwohnerIn oder StaatsbürgerIn – in der einen oder andern Form von der Immobilienmarkt-Logik erfasst, die die Gestaltung von (Stadt-)Raum nun beherrscht. Es ist vielleicht keine Schande, finanziell zu profitieren, aber es gibt neben denen, die finanziell profitieren, viele andere, schon ganze Generationen, die nicht profitieren, die keine eigene Wohnung haben und die das wenige, das sie hatten, nun verlieren. Und nach Jahrzehnten der Wohnungsnot in Israel ist heute allen klar, dass der Markt sich offenbar nicht selbst in Ordnung bringt und dass er sicher nicht für alle in gleichem Maße „frei“ ist. Die Prozesse von „Räumung und (Neu-)Bau“ verschärfen und bestärken in der Regel diese Ungleichheit. Wenn die ganze Stadt zum wilden Markt wird, in dem jede und jeder Einzelne versucht, so viel wie möglich zu bekommen, stärkt der Markt die Starken und schwächt die Schwachen.

Um nicht ein Opfer dieses Mechanismus zu werden, müssen Menschen zu Unternehmer*innen auf dem Immobilienmarkt oder zumindest zu Immobilienmakler*innen werden. Das sehen wir bei Student*innen, die ihre Zimmer untervermieten, bei Wohnungseigentümer*innen aus dem Mittelstand, die ihre Wohnungen über Airbnb an Tourist*innen vermieten, bei Bewohner*innen von Mehrfamilienhäusern in den wohlhabenden Vierteln im Norden von Tel Aviv oder Giv’atajim, die das staatlich geförderte Sanierungsprogramm TAMA 38[4] nutzen, oder bei großen Unternehmen, die ganze Stadtviertel kaufen und in der Lage sind, lange Gerichtsverfahren zu führen, um die alten Bewohner*innen aus ihren Viertel zu vertreiben. Wir alle sind in der einen oder anderen Form in diese Geschäfte verwickelt.

In den letzten Jahren sorgte die Debatte um die Frage, wer von den Gasvorkommen, die im Mittelmeer entdeckt worden sind, profitieren wird, für große öffentliche Empörung. Bekanntlich ist der Weg von der Entdeckung über die Förderung vom Meeresgrund und den Transport ans Land bis hin zum Verkauf des Gases an das eine oder andere Land lang und beschwerlich. Internationale Abkommen müssen geschlossen und komplexe Ausschreibungen durchgeführt werden. Förderung und Nutzung haben politische und militärische Implikationen, sie erfordern die Anschaffung von U-Booten und Anti-U-Booten, um die Sicherheit des Projekts zu gewährleisten. Bekanntlich war die zentrale Frage, die in diesem Zusammenhang die öffentliche Debatte bestimmte: Wem gehört diese Ressource? Dem Staat? Der Gesellschaft? Denjenigen, die sie entdeckt haben? Denjenigen, die sie erschließen werden? Oder den ganz wenigen, denen es gelingen wird, sie sich anzueignen?

Aber während in der Öffentlichkeit um eine Ressource gestritten wurde, die schwer zugänglich unter dem Meeresboden schlummert, gibt es eine andere Ressource, deren finanzieller und wirtschaftlicher Wert ebenso groß ist wie der der Gasvorkommen am Grunde des Mittelmeers, die aber verglichen mit dem Gas viel leichter zugänglich ist, deren Nutzung viel einfacher ist und keine U-Boote und Anti-U-Boote erfordert. Ich meine die Ressource Luft. Wir brauchen Luft. Wir brauchen sie nicht nur zum Atmen, sondern auch für andere Dinge, zum Beispiel, um Ballons aufzublasen, Drachen steigen zu lassen oder mit Flugzeugen zu fliegen. Aber Luft ist auch Raum, der Raum, in dem wir wohnen, das, was wir in der Regel „Zuhause“ nennen. Und außerdem ist da noch die Luft, der Raum für das, was noch nicht gemacht und gebaut worden ist, Räume und Wohnungen, von denen wir hoffen und träumen, sie zu bewohnen. Das heißt, dass da noch „Luft nach oben“ ist, dass es außer all den schon vorhandenen Räumen noch die Luft um uns herum und über unseren Köpfen gibt, die Raum für fast endlose Erwartungen bietet, ein Raum, der sich theoretisch vom Erdboden bis ans Ende der Erdatmosphäre erstreckt. Und diese Luft, dieser Raum, der bis ans Ende der Erdatmosphäre reicht, kann in Geld verwandelt werden. Wem gehört diese Luft und wem gehört dieses Geld?

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Ein israelischer Polizist und eine Bewohnerin des Tel Aviver Viertels Givat Amal während der Zwangsevakuierung von Familien für ein "Räumung und (Neu-)Bau"-Projekt. Dezember 2014. Foto: Activestills

3 Das Recht auf die Luft über unseren Köpfen

Das Recht auf die Luft über unseren Köpfen ist ein sonderbares Recht. Von Anfang an ist es ein Recht, das nicht jedem Menschen gewährt wird. Nur wem Land gehört, dem wird das Recht, den freien Raum zu nutzen, gewährt. Das heißt, dass dieses Recht – Luft in Geld zu verwandeln oder in eine Wohnung, das Recht zu bauen und damit letztendlich das Recht auf eine Wohnung und auf ein Dach über dem Kopf – nicht den Menschen- oder Bürgerrechten entspringt, sondern dem Eigentum: Das Recht auf den freien Raum ergibt sich aus dem Recht irgendeiner natürlichen oder juristischen Person an irgendeinem Stück Land. Aber dieses Recht muss von der Allgemeinheit gewährt werden. Die Eigentümerin oder der Eigentümer eines Grundstücks muss die Allgemeinheit um dieses Recht bitten, indem sie oder er einen Antrag beim lokalen oder regionalen Bauausschuss stellt.

Und um Freiraum in Geld zu verwandeln, muss er erst auf Papier gebracht werden: Die Luft muss so verplant werden, dass sie sich in Bauabschnitte aufteilen und in Baugenehmigungen verwandeln lässt. Danach wird das Papier zu Stein, zu Ziegeln oder zu Beton, zu Wänden und zu Fußböden, die verkauft oder vermietet werden können und sich Wohnung oder Haus nennen lassen. Dieser Prozess, bei dem Luft in Geld verwandelt wird, erfordert gewiss nicht wenig Arbeit und Mühen, aber die hohen Wohnungskosten sind nicht das Ergebnis der entstandenen Arbeitskosten, sondern vor allem das der hohen Profiterwartungen.

Luft in Geld zu verwandeln ist keine neue Idee. Als Mitte des 19. Jahrhunderts Baron Haussmann Paris neu bauen wollte, beschloss er, Land zu enteignen. Die Höhe der Entschädigungszahlungen für die Enteignungen wurden nach einer einfachen Formel berechnet, die nicht nur den ursprünglichen Preis des Grundstücks in Betracht zog, sondern auch den erwarteten Profit aus der Luft darüber, imaginäre Profite, die im Zuge der fortschreitenden Enteignungen und neuer Profitberechnungen immer größer wurden. Es ist Haussmann zwar gelungen, viele Viertel von Paris zu erneuern, aber der schwindelerregende Anstieg der Grundstückspreise und der Entschädigungszahlungen zwang die Stadtverwaltung dazu, ein Darlehen bei der Londoner Börse aufzunehmen, um weitere Grundstücke aufzukaufen. Dies führte letztendlich zum Bankrott der Stadt. In der historischen Betrachtung wird Haussmann immer mit der Modernisierung von Paris in Verbindung gebracht, mit dem Ausbau des Metronetzes und der Errichtung breiter Boulevards. Aber es muss auch die zentrale Neuerung genannt werden, die es Haussmann erst ermöglichte, seine Pläne zu verwirklichen, nämlich die Immobilienspekulation.

Die heutige Situation in Israel unterscheidet sich deutlich von der damaligen in Frankreich, insofern die Pariser Behörden die Baugenehmigungen in der Stadt erteilten. Demgegenüber kann nach geltendem Baurecht in Israel theoretisch jeder Mensch, der Land besitzt, einen lokalen Bebauungsplan erstellen und sich selbst die Baugenehmigung erteilen. Nach dem heutigen Stand und den üblichen Praktiken profitieren davon in der Regel eben jene, die finanziell und aufgrund ihres Einflusses in der Lage sind, die Luft über ihrem Grundstück in Baugenehmigungen zu verwandeln und einen Bebauungsplan und große Bauprojekte durchzusetzen.

Aufgrund der heutigen neoliberalen Wirtschaftsweise gelangt die Luft über unseren Köpfen oft in die Hände von Großkapitalisten – auf ähnlich zweifelhafte Art und Weise, wie die Gasvorkommen im Mittelmeer in ihre Hände gelangen. Wenn wir Statistiken zu Rate ziehen, um die wachsende Konzentration in der Wirtschaft zu verstehen, werden diese Zahlen lebendig, wenn wir durch die Stadt gehen. Dann türmt sich die Macht vor uns auf in wirklichem Stein, die Verteilung der Eigentums- und Baurechte wird handgreiflich in zu Stein gewordenen Hierarchien.

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Brennende Barrikaden anläßlich von Protesten gegen die Evakuierung von Einwohner**innen des Viertels Givat Amal, vor dem Hintergrund teurer Neubauten. Dezember 2014. Foto: Activestills

4 Die Lösung des Wohnungsproblems

In seinem Aufsatz „Zur Wohnungsfrage“ argumentierte Friedrich Engels, dass sich das Wohnungsproblem nicht ohne eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft lösen lasse. Seit der Veröffentlichung dieses Artikels im Jahr 1872 sind schon fast 150 Jahre vergangen. Seitdem haben Politiker*innen, Philosoph*innen und Architekt*innen unzählige Versprechungen gemacht und Ideen unterbreitet, wie das Problem zu lösen sei. Dennoch ist nach wie vor die überwältigende Mehrheit der Menschen weltweit vom Wohnungsproblem betroffen. Es wäre anmaßend, eine umfassende Lösung für alle vorzuschlagen, und es sollte auch nicht vergessen werden, dass die Lösungen, die von Engels’ Anhänger*innen in der Sowjetunion und in China propagiert wurden, nicht besonders erfolgreich waren.

Deswegen ist es meines Erachtens angesichts der gegenwärtigen Verfestigung der Machtverteilung und der Konzentration des Kapitals – in der Form von potenziellen Baurechten einerseits und bereits genutzten Rechten, in Gebäuden und Städten verwirklichten Rechten andererseits – zwingend notwendig, darauf hinzuarbeiten, dass möglichst viele Menschen das Recht erhalten, sich ein Haus zu bauen. Wenn es immer noch nicht möglich ist, das Recht auf Raum und das Recht auf Wohnen zu einem universellen Menschenrecht oder einem Bürgerrecht in einer aufgeklärten Gesellschaft zu machen, dann ist zumindest dafür zu sorgen, dass das Recht zu bauen nicht nur sehr viel gleichmäßiger unter denen verteilt werden, die einen Anspruch darauf haben, das heißt den Grundstücks- und Wohnungseigentümer*innen, sondern dass so vielen Menschen wie möglich diese Rechte zugesprochen werden. Es ist notwendig, die Konzentration von Luft in den Händen weniger, die durch die Bevorzugung von großen Akteuren und die Zusammenlegung von Grundstücken geschaffen wird, zu verhindern und den Mechanismen der Spekulation, mit denen Profiterwartungen geschürt werden, entgegenzuwirken. Dafür muss vor allem anerkannt und klargestellt werden, dass die Stadt kein Markt ist.

Sharon Rotbard ist ein israelischer Autor und Architekt. 2005 erschien sein kritisches Buch White City, Black City: Architecture and War in Tel Aviv and Jaffa über den Mythos der Bauhausstadt Tel Aviv. Er ist Gründer und Leiter von Spontaneous Architecture.

Der Artikel wurde am 18. Januar 2017 bei der jährlichen Konferenz unseres Partners Israeli Center for Digital Art als Vortrag gehalten.

(Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin)

Anmerkungen

[1] In Israel ist Wohnungseigentum im städtischen Raum sehr weit verbreitet. Mittlerweile sind viele, vor allem ältere Gebäude sanierungsbedürftig, doch häufig fehlen den Wohnungseigentümer*innen die für die Sanierung benötigten finanziellen Mittel. Um dieses Problem zu lösen, wurde das staatliche Förderprogramm „Pinui Binui“ aufgelegt: Ein Bauunternehmen schließt mit den Wohnungseigentümer*innen einen Vertrag, in dem sich Letztere verpflichten, ihre Wohnungen zu räumen. Je nach Vertrag stellt das Bauunternehmen eine alternative Wohnung zur Verfügung oder zahlt eine entsprechende Entschädigung. Dann wird das Gebäude (mitunter auch ein ganzer, aus mehreren Gebäuden bestehender Komplex) abgerissen oder „ausgehöhlt“ (wenn Teile, insbesondere Fassaden, aus Denkmalschutzgründen erhalten werden müssen) und ein neues, in der Regel größeres Gebäude errichtet. Es werden insbesondere solche Vorhaben gefördert, bei denen ein größerer Teil des Grundstücks oder gar die gesamte Grundstücksfläche bebaut wird und höhere Gebäude, als ursprünglich geplant, errichtet werden. Nach Fertigstellung erhalten die „geräumten“ Wohnungseigentümer*innen in der Regel je eine Wohnung (meist in den unteren Stockwerken), die etwas größer ist als ihre ehemalige. Sie müssen sich anteilig an den Unterhaltungskosten des neuen Gebäudes, die oft wesentlich höher sind als die des alten, beteiligen. Die zusätzlichen Wohnungen, die durch den Neubau entstanden sind, gehören dem Bauunternehmen und werden meistens als Eigentumswohnungen verkauft. Mieter*innen von Wohnungen in solchen Sanierungsprojekten gehen in der Regel leer aus. Auch Wohnungseigentümer*innen schneiden mitunter schlecht ab, je nachdem, wie umfangreich das Bauprojekt, wie groß das beteiligte Bauunternehmen, wie klein ihre neue Wohnung und wie groß ihr finanzieller Spielraum ist (Anm. d. Übers.).

[2] Das Viertel liegt im Süden der Stadt und gehört zu den ärmeren und eher vernachlässigten Wohngegenden (Anm. d. Übers.).

[3] Halamisch ist eine der Stadt und der Regierung unterstehende öffentliche Körperschaft in Tel Aviv-Yafo, die die Aufgabe hat, Sozialwohnungen zu verwalten und Stadtviertel zu sanieren (Anm. d. Übers.).

[4] TAMA 38, eine Art nationaler Rahmen-Bauplan, verfolgt das Ziel, ältere Gebäude neueren Bauvorschriften anzupassen. Diese Projekte werden insbesondere mit Zuschüssen, Steuererleichterungen und Genehmigungen für die Vergrößerung der Gebäude gefördert.

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