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Ist das Apartheid?
Über 14 Millionen Menschen bevölkern das Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer. Davon sind grob geschätzt eine Hälfte Jüd:innen und eine Hälfte Palästinenser:innen. Generell besteht die Ansicht, das Gebiet sei in zwei separate Regimes aufgeteilt: einerseits ein ständiges, demokratisches Regime innerhalb des israelischen Herrschaftsgebiets, das über ca. neun Millionen israelische Bürger:innen regiert, und andererseits ein temporäres Militärregime in den 1967 von Israel besetzten Gebieten, das über ca. fünf Millionen Palästinenser:innen regiert.
Aber stimmt das wirklich?

Diese verbreitete Ansicht lässt mehrere wesentliche Tatsachen außer Acht: So besteht die «temporäre» Besetzung schon über 50 Jahre lang; hunderttausende jüdische Siedler:innen leben in über 280 permanent besetzten Gebieten in der Westbank; und Israel hat Ost-Jerusalem de jure und den Rest der Westbank de facto annektiert.
Vor allem wird aber die Tatsache verdeckt, dass das gesamte Gebiet nach einem einzigen Prinzip organisiert ist, nach dem die Vorherrschaft einer Gruppe über eine andere gefördert und aufrechterhalten werden soll – die der jüdischen Israelis über die Palästinenser:innen.

Diese Politik wird weitgehend durch Verwaltungsprozesse umgesetzt, die das Territorium gezielt strukturieren. Mit Ausnahme von Gaza ist das gesamte Gebiet für jüdische Israelis offen und zusammenhängend.
Für Palästinenser:innen ist das Gebiet in verschiedene Zonen aufgeteilt:

Innerhalb des israelischen Herrschaftsgebiets machen Palästinenser:innen um die 17 Prozent der Bevölkerung aus. Als israelische Bürger:innen kommen ihnen bestimmte Rechte zu, allerdings sind es nicht dieselben, wie die ihrer jüdischen Mitbürger:innen.

OST-JERUSALEM
Im 1967 von Israel annektierten Ost-Jerusalem haben die 350 000 dort ansässigen Palästinenser*innen eine «permanente Aufenthaltsgenehmigung». Der Aufenthaltsstatus erlaubt es ihnen, in Israel zu leben und zu arbeiten, Sozialhilfen zu beziehen und eine Krankenversicherung abzuschließen und in Kommunalwahlen (aber nicht in nationalen Wahlen) mitzuwählen. Allerdings können all diese Rechte auch entzogen werden.

WESTBANK
In der Westbank leben 2,6 Millionen Palästinenser*innen unter strenger Militärherrschaft in dutzenden voneinander getrennten Enklaven. Ihnen werden politische Rechte verwehrt.

GAZASTREIFEN
Auch die ca. 2 Millionen Palästinenser*innen im Gazastreifen genießen keine politischen Rechte. 2005 zog Israel sein Militär ab und räumte die Siedlungen; 2007 übernahm die Hamas die Kontrolle über das Gebiet. Ab diesem Zeitpunkt hat Israel Gaza abgeriegelt und kontrolliert nahezu sämtliche Lebensbereiche von außen.

In all diesen Zonen entscheidet Israel darüber, welche Rechte den Palästinenser*innen zukommen. Nirgends sind sie den Rechten jüdischer Israelis ebenbürtig.
Die israelische Regierung verfolgt mit verschieden Mitteln eine jüdische Vorherrschaft:

LAND
Israel bemüht sich, die gesamte Gegend «unter jüdischen Einfluss zu bringen» und behandelt das Land als Ressource, die vorwiegend der jüdischen Bevölkerung dienen soll. Für israelisch-jüdische Bewohner*innen werden Ortschaften errichtet, während Palästinenser*innen enteignet und in kleine überfüllte Enklaven gezwängt werden.
Seit 1948 hat Israel über 90 Prozent des Landes innerhalb seines Herrschaftsgebiets mehrere hundert Ortschaften für jüdische Israelis errichtet und keine einzige für Palästinenser*innen (mit Ausnahme der mehreren Ortschaften, die gebaut wurden, um die beduinische Bevölkerung umzusiedeln, nachdem ihnen fast alle Eigentumsrechte genommen wurden).

LAND
Seit 1967 setzt Israel diese Politik auch in den besetzten Gebieten ein und hat unter verschiedenen Vorwänden über 2 000 km2 palästinensischen Eigentums enteignet. Entgegen internationalem Recht hat die Regierung über 280 Siedlungen für über 600 000 israelisch-jüdische Bürger*innen in der Westbank gebaut (auch in Ost-Jerusalem). Für Palästinenser*innen wurde ein separates Planungssystem entwickelt, das vorranging dazu dient, Bau und Entwicklung zu verhindern, und keine einzige palästinensische Ortschaft errichtet.

BÜRGERSCHAFT UND IMMIGRATION
Jüd*innen aus der ganzen Welt, ihre Kinder und Enkelkinder – und deren Ehepartner*innen – haben das Recht, nach Israel einzuwandern und die dortige Staatsbürgerschaft zu bekommen, selbst wenn sie sich dazu entscheiden, in den besetzten Gebieten zu leben.

BÜRGERSCHAFT UND IMMIGRATION
Palästinenser*innen, die in anderen Ländern leben, können nicht in die von Israel kontrollierten Gebiete einwandern – auch nicht, wenn ihre Eltern oder Großeltern dort geboren sind und dort gelebt haben. Ihre einzige Möglichkeit ist es, eine Person zu heiraten, die in besagten Gebieten bereits einen permanenten Aufenthaltsstatus hat.
Palästinenser*innen, die in einer Zone ansässig sind, können nur schwer einen Aufenthaltsstatus in einer anderen Zone bekommen. Das israelische Gesetz sieht vor, dass Palästinenser*innen aus den besetzten Gebieten keine unbefristeten Aufenthaltsstatus in Israel oder Ost-Jerusalem erhalten können, auch nicht, wenn sie eine israelische Person heiraten.

FREIZÜGIGKEIT
Israel gewährt seinen Bürger*innen und Bewohner*innen (sowohl Jüd*innen als auch Palästinenser*innen) freien Durchgang zwischen den verschiedenen Zonen – mit Ausnahme des Betretens von Gaza, welches als «feindliches Gebiet» eingestuft wird, und (zumindest offiziell) des Betretens von Gebieten in der Westbank, die vorgeblich durch die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) verwaltet werden.

FREIZÜGIGKEIT
Palästinenser*innen in der Westbank oder Gaza benötigen eine Genehmigung, um zwischen den Zonen zu verkehren. Israel hat Gaza seit 2007 abgeriegelt und verbietet das Ein- oder Ausreisen mit Ausnahme weniger als humanitär eingestufte Fälle.

FREIZÜGIGKEIT
Alle israelischen Bürger*innen können das Land zu jeder Zeit verlassen und wieder betreten.
Palästinenser*innen ist es weitgehend verwehrt, von Israels internationalem Flughafen ins Ausland zu reisen. Sie benötigen zudem eine Genehmigung, um zum Flughafen in Jordanien zu gelangen.
POLITISCHE TEILHABE
Israelische Bürger*innen – ob jüdisch oder palästinensisch – haben das Recht, an der nationalen Politik teilzunehmen. Sie können wählen und für öffentliche Ämter kandidieren. Allerdings untergraben führende Politiker*innen konsequent die Legitimität palästinensischer politischer Vertreter*innen.

POLITISCHE TEILHABE
Die rund 5 Millionen Palästinenser*innen, die in den israelisch besetzten Gebieten leben (inklusive in Ost-Jerusalem), haben keine Teilhabe am politischen System, das über ihre Leben und ihre Zukunft bestimmt. Die meisten dürfen zwar theoretisch an den Wahlen der Palästinensischen Autonomiebehörde teilhaben, allerdings sind dessen Befugnisse rein symbolisch und dem israelischen Staat untergeordnet.

POLITISCHE TEILHABE
Palästinenser*innen wird nicht nur das Wahlrecht verwehrt, sie haben auch keine politischen Rechte wie z.B. Rede- oder Versammlungsfreiheit. Zudem ist es ihnen untersagt, Kritik an der israelischen Regierung auszuüben und sich für sozialen oder politischen Wandel einzusetzen.

DAS IST APARTHEID
Das Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer wird von einem einzigen Regime regiert, das eine israelisch-jüdische Suprematie aufrechterhält.
Mit diesem Ziel hat der israelische Staat das Gebiet und die palästinensische Bevölkerung in mehrere verschiedene Zonen aufgeteilt. Dort werden Palästinenser*innen unterschiedliche Rechte zugesprochen, die denen der jüdischen Bevölkerung nie gleichkommen.
DAS IST APARTHEID
Diese Politik, die Palästinenser*innen unzählige Rechte verwehrt – insbesondere das Recht auf Selbstbestimmung –, wird durch die Verwaltung des Gebiets auf geographischer, demographischer und politischer Ebene durchgesetzt. Dies wird mitunter mit folgenden Methoden erreicht: Jüd*innen auf der ganzen Welt und deren Verwandten wird die Staatsangehörigkeit angeboten, während sie Palästinenser*innen weitgehend verwehrt bleibt; Land wird eingenommen und Jüd*innen zugesprochen, während Palästinenser*innen in kleine, überbevölkerte Enklaven umgesiedelt werden; die Freizügigkeit der Palästinenser*innen wird eingeschränkt; Millionen von Palästinenser*innen wird die effektive politischer Mitsprache verwehrt.

Ein Regime, das Gesetze, Maßnahmen und organisierte Gewalt einsetzt, um die Vorherrschaft einer Gruppe über eine Andere zu gewährleisten, ist ein Apartheidregime. Es ist nicht aus dem Nichts entstanden, sondern hat diese Form allmählich angenommen. Ein solches Bündel an Maßnahmen, die öffentliche und rechtliche Unterstützung genießen und sowohl in der Praxis als auch juristisch verankert sind, weisen darauf hin, dass alle Kriterien erfüllt sind, um Israel als Apartheidregime zu definieren.

WARUM JETZT?
In den letzten Jahren hat sich die israelische Regierung zunehmend zu einer Ideologie jüdischer Suprematie bekannt. Dieser Prozess mündete in der Verordnung des Grundgesetzes: Israel – Der Nationalstaat des jüdischen Volkes, in dem die Unterscheidung zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Israelis als grundlegend erklärt und legitimiert wird und das die institutionelle Diskriminierung in Landverwaltung, Entwicklung, Wohnraum, Bürgerschaft, Sprache und Kultur ermöglicht.
Derweil bestätigen öffentliche Aussagen über die formelle Annektierung weiterer Teile der Westbank Israels langfristige Absichten, dauerhafte Kontrolle über das Land zu gewinnen.
WARUM JETZT?
Dies ist ein Aufruf zum Wandel. Ungerechtigkeit lässt sich nicht bekämpfen, ohne sie zu benennen: Apartheid. Es ist schmerzhaft, der Realität ins Auge zu blicken, noch schmerzhafter ist allerdings ein Leben in Unterdrückung. Aus diesem Grund ist ein entschlossener Kampf für eine Zukunft, die sich auf Menschenrechte, Freiheit und Gerechtigkeit gründet, jetzt wichtiger denn je. Die hier beschriebene Realität mag harsch sein, aber wir dürfen dabei nicht vergessen, dass dieses Regime von Menschen erschaffen wurde und auch von Menschen wieder abgeschafft werden kann.
Eine gerechte Zukunft im Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer lässt sich auf verschiedenen politischen Wegen erreichen, aber alle müssen sich als erstes dazu entschließen, zu sagen: Nein zur Apartheid.
Übersetzung: Gegensatz Translation Collective
Dieser Artikel erschien im Februar 2021 auf der Website von B’Tselem – The Israeli Information Center for Human Rights in the Occupied Territories