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Luftbild des 2010 von israelischen Behörden zerstörten Dorfs al-Araqib im Negev. Foto: Miki Kratsman und Shabtai Pinchevsky

Was Israels Landkarten zu verbergen haben

Journalist:innen und Wissenschaftler:innen, die während der Militäroperation «Wächter der Mauern» im Mai 2021 versuchten, Satellitenbilder des Gazastreifens zu erhalten, stießen auf ein Phänomen, das aus einer anderen Zeit zu stammen scheint: körnige Fotos mit schlechter Auflösung. Obwohl die Aufnahmen von Gaza und Israel in den kostenlosen Satellitendiensten von Google kürzlich aktualisiert wurden, unterscheidet sich ihre Qualität deutlich von der aus anderen Regionen der Welt, einschließlich Nordkoreas. Der Grund dafür ist ein vom US-amerikanischen Kongress verabschiedetes Gesetz aus den 1990er Jahren, das es US-Unternehmen bis vor kurzem untersagte, Satellitenbilder von Israel in höchster Auflösung zu zeigen.

Eine Ausstellung im Tel Aviv Museum of Art macht deutlich, was es bedeutet, wenn der Zugang zu qualitativ hochwertigen Fotoaufnahmen beschränkt ist. Die von Raz Samira kurierte Ausstellung «Anti-Mapping» der Künstler Miki Kratsman und Shabtai präsentiert spektakuläre Fotos und bietet eine Alternative zu den offiziellen, staatlich kontrollierten Mitteln der Kartierung.

Gebiete, die verschwinden sollen

Kratsman und Pinchevsky sind mehrere Jahre im Land herumgefahren und haben Orte fotografiert, an denen Kriege und ideologische Kämpfe ausgetragen wurden und immer noch werden: im Krieg von 1948 zerstörte palästinensische Dörfer, vom Staat als illegal erklärte Beduinendörfer und verschiedene Orte entlang der Grünen Linie. Mithilfe verschiedener Technologien nahmen sie eine detaillierte Kartierung eben jener Gebiete in Israel vor, die der Staat am liebsten auslöschen, verschwinden lassen oder verbergen würde.

Das Ziel, erklärte Kratsman im Gespräch mit einer Journalistin der Zeitung Haaretz, sei es gewesen, Orte zu zeigen, die aus zweierlei Gründen auf offiziellen Karten nicht sichtbar sind: zum einen, weil ihre Namen vollständig getilgt oder bestenfalls durch die Bezeichnung «Ruine» ersetzt wurden und ihre Überreste in den vom Jüdischen Nationalfonds angelegten Wäldern, den neu gebauten Siedlungen oder Militärbasen untergehen; zum andern, weil ihre Konturen auf Satellitenbildern mit niedriger Auflösung nicht zu erkennen sind. Obwohl das oben erwähnte Verbot in den USA vor einigen Monaten aufgehoben wurde, haben die Satellitendienste, insbesondere Google, ihre Karten noch nicht aktualisiert.

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Friedhof von Umm al-Hiran. Foto: Miki Kratsman und Shabtai Pinchevsky
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Bei genauerem Hinsehen erkennt man Details in den in besonders hoher Auflösung gedruckten Fotografien. Foto: Margarita Perlin/Tel Aviv Museum

Um diesen Bildern mit schlechter Auflösung etwas entgegenzusetzen, schlugen Kratsman und Pinchevsky alternative Wege des Kartierens ein, und zwar von der Luft und vom Boden aus. Sie nahmen mit Drohnen Tausende von Bildern von oben auf und setzten sie mit einer als Fotogrammmetrie bezeichneten Technik zu einem dreidimensionalen Modell zusammen. Aus 2.500 Drohnenfotos entstand am Ende ein Bild, dass für die Ausstellung in einer ungewöhnlichen Auflösung von 1,5 cm pro Pixel gedruckt wurde – mehr als das Hundertfache dessen, was normalerweise im Internet verfügbar ist. Die Fotos wurden auf Tapeten gedruckt, die an den Wänden der Fotogalerie des Tel Aviv Museums of Art angebracht wurden.

Textur verstörender Details

Das Ergebnis ist in der Tat faszinierend. Die Arbeiten wurden entsprechend der Größe der Wände und der Proportionen der Galerieräume angeordnet. Auf den ersten Blick scheint es sich um vertraute Satellitenbilder zu handeln, aber bei genauerer Betrachtung lässt sich eine Textur mit vielen spannenden und verstörenden Details erkennen. Ein prägnantes Beispiel ist das Bild des Dorfes Khan al-Ahmar, das sich in der Nähe der Siedlung Kfar Adumim befindet. Das Dorf liegt in einem Gebiet in der Westbank, das zur Zone-C gehört und in dem ungefähr ein Dutzend palästinensischer Familien lebt, denen die Vertreibung droht. Obwohl es in diesen Gebieten verboten ist, mit Drohnen Aufnahmen zu machen, gelang es Kratsman und Pinchevsky, unbeobachtet von israelischen Soldat:innen den Alltag der Menschen, die dort in Zelten und Hütten ohne grundlegende Infrastruktur wie Straßen, Wasser und Strom leben, zu dokumentieren. Diese Familien wurden bereits mehrmals aus ihren Wohnorten vertrieben, und auch jetzt sind Gerichtsverfahren gegen Abrissverfügungen des Dorfes sowie dessen Schule anhängig, die Freiwillige 2009 aus recyceltem Material, wie Reifen, Schlamm und Lehm bauten.

Kratsman und Pinchevsky haben auch das Beduinendorf al-Araqib in der Nähe von Be’er Sheva fotografiert, das, nachdem es mehr als einhundert Mal abgerissen und wieder aufgebaut wurde, zum Symbol des Kampfes der vertriebenen und von Vertreibung bedrohten Beduin:innen im Negev/Naqab geworden ist. «Wir sind dort ein paar Stunden herumgelaufen auf der Suche nach den Überresten des Dorfes», erzählte Pinchevsky, «aber erst als wir die Drohne aufsteigen ließen, konnten wir erkennen, dass das Dorf direkt unter uns lag. Aus der Luft konnten wir Anzeichen einer massiven Landnahme ausmachen, in Form von Spuren von Bulldozern, die Häuser zerstört und den Boden planiert haben.»

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Abbildung von Khan al-Ahmar. Foto: Margarita Perlin/Tel Aviv Museum of Art

Vom Boden nicht zu erkennen

Die Bilder zeigen, was Luftaufnahmen alles offenlegen können, das vom Boden aus nicht zu sehen ist. In einem Dorf in der Nähe von Modi’in zum Beispiel entdeckten die beiden Künstler die Konturen eines ganzen Dorfes, das ausradiert worden war. Vom Boden aus ist nichts zu sehen, aber nach Bearbeitung der Drohnenaufnahmen aus der Luft ließen sich Steinmauern entlang etwas erkennen, das einmal eine Straße gewesen sein muss. Im Dorf Beit Guvrin nahe der Grünen Linie entdeckten sie Überreste von durch niedrige Steinmauern getrennten landwirtschaftlichen Parzellen, die vom Boden aus nicht sichtbar waren. Und in Kfar Hoshen in Obergaliläa fanden sie die Überreste der Ruinen des muslimischen Dorfs Safsaf. Dutzende seiner Bewohner:innen waren 1948 einem Massaker zum Opfer gefallen, nachdem die israelischen Armee Safsaf eingenommen hatte.

Kratsman und Pinchevsky haben auch «Porträts» von Orten gemacht, das heißt, sie haben diese vom Boden aus ganz regulär horizontal fotografiert. Diese sensiblen Bilder, die das Innere und Äußere von Zelten und Hütten zeigen, vermitteln einen sehr menschlichen Zugang zu diesen Orten, der die quasi wissenschaftliche Perspektive aus der Luft ergänzt. Im Bewusstsein, dass es sich bei Fotos immer nur um Momentaufnahmen handelt, sind alle Abbildungen mit genauen Angaben zu den Koordinaten, dem Abstand der Aufnahme zum Objekt und einem Zeitstempel versehen. Auf diese Weise ist das Projekt «Anti-Mapping» auch ein Archiv der Gegenwart und bietet die Grundlage, um alle zukünftigen Veränderungen, Auslöschungen, Zerstörungen (und vielleicht sogar Wiederherstellungen) erfassen zu können.

Kratsman und Pinchevsky haben verschiedene Quellen herangezogen, um die von ihnen fotografierten Orte auszuwählen: Gespräche mit Bewohner*innen, die «Nakba-Karte» von Zochrot, Dokumente des Negev Coexistence Forum for Civil Equality sowie der «Atlas of Palestine» von Salman Abu-Sitta. Kratsman, ein prominenter Menschenrechtsaktivist in Israel, dokumentiert seit mehr als einem Jahrzehnt das Leben in den nicht anerkannten Beduinendörfern im Negev/Naqab, meist in enger Kooperation mit dessen Bewohner:innen. Pinchevsky, ehemals Student von Kratsman am Fachbereich Fotografie der Bezal’el-Akademie für Kunst und Design in Jerusalem, schließt derzeit sein Masterstudium in Kunst an der Northwestern University in Chicago ab. Seine Arbeiten beschäftigen sich mit der Verbindung von fotografischen Praxen und der israelischen Besatzung, darunter ein Simulator, der es ermöglicht, über Palästina in den Grenzen vor 1948 zu fliegen, oder eine Arbeit, in der Archivfotos wie in einem Puzzle zusammengesetzt sind. Beide, Kratsman und Pinchevsky, verstehen ihr Kartierungen und Fotografieren aus der Luft explizit als politischen Akt, mit dem sie im Kultur- und Kunstbereich Debatten anstoßen wollen.

Das Recht zu sehen, was zu sehen ist

Die Ausstellung «Anti-Mapping» verdeutlicht die Notwenigkeit, nach einem Jahr Online-Ausstellungen und digitaler Kunst wieder in die Ausstellungsräume von Museen und Galerien zurückzukehren. «Es ist essenziell, dass sich das Publikum auf die Bilder zubewegt», sagt Kratsman und fügt hinzu, dass auch er bis heute immer wieder neue Details in den Fotos entdeckt. Der Gang durch die Galerieräume ist tatsächlich ein Erlebnis, man ist als Besucher*in beeindruckt von der Qualität der Arbeit der beiden Künstler und verspürt den Wunsch, in jedem Bild immer wieder etwas Neues ausfindig zu machen. Zwischen der Ästhetik der aus der Luft und horizontal aufgenommen Fotos und der Gewalt, die diese abzubilden versuchen, kommt der Protest der beiden Künstler zum Ausdruck, die sich dagegen verwehren, dass einige wenige Kontrolle über die Betrachtung des geografischen Raums ausüben. «Zurzeit haben nur sehr wenige – Geheimdienste und private Unternehmen – Zugang zu diesen Informationen», sagt Pinchevsky. «Und wenn man heute etwas verlangen kann, dann ist es zumindest, dass alle das Recht haben sollten, zu sehen, was ist.»

Die Ausstellung «Anti-Mapping» war bis Ende November 2021 im Tel Aviv Museum of Art zu sehen.

Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin

Gili Merin ist Architektin und Fotografin und promoviert an der Architectural Association School of Architecture in London. Sie arbeitet als Dozentin für Geschichte und Theorie der Architektur am Royal College of Arts in London und ist Gastdozentin an der Syracuse University im Bundesstaat New York.

Der Artikel wurde ursprünglich am 16. Juni 2021 auf Hebräisch in der Tageszeitung Haaretz veröffentlicht.

Anmerkungen

Die Karte findet sich unter:

www.zochrot.org/

Abu-Sitta, Salman H.: Atlas of Palestine 1917–1966, unter:

https://www.plands.org/en/maps-atlases/atlases/the-atlas-of-palestine/pdfs/atlas-part-1.pdf

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