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Die Polizei drängt linke Aktivist*innen während eines Protests gegen den Gaza-Krieg in Jerusalem zurück. Auf dem Plakat steht, «Keine militärische Lösung», 16. Februar 2024. Foto von Yonatan Sindel/Flash90

Die israelische Polizei gehe mit «eiserner Faust» gegen Anti-Kriegs-Proteste vor, sagen Aktivist*innen

Am Abend des 16. Januars versammelten sich einige Dutzend Aktivist*innen vor der «Kirya» in Tel Aviv, dem Sitz des israelischen Verteidigungsministeriums und dem Hauptquartier der Armee. Es war eine der ersten jüdisch-israelischen Demonstrationen seit Kriegsbeginn, deren Teilnehmer*innen den Angriff der Armee auf den Gazastreifen explizit verurteilten. Die Reaktion der Polizei folgte prompt: Dutzende Polizeikräfte kamen bereits im Vorfeld zum Einsatz und verhinderten, dass der Protest am vorgesehenen Ort stattfinden konnte. Sie konfiszierten Schilder, auf denen «Stoppt das Massaker» stand, mit der Begründung, dass sie das öffentliche Empfinden verletzten. Ein Aktivist wurde verhaftet und weitere von der Polizei angegriffen.

Diese Abfolge von Ereignissen stellt bei weitem keine Ausnahme dar. Seit dem 7. Oktober hat die israelische Polizei einen konsequenten Kurs der Unterbindung oder Einschränkung von Anti-Kriegs-Protesten verfolgt, während Proteste zur Solidarisierung mit den Geiseln und ihren Familien an bestimmten Orten stattfinden durften. An diesem Kurs hat sich bisher nichts geändert, obwohl der Oberste Gerichtshof Israels Anfang Januar 2024 eine einstweilige Verfügung erlassen hat, die es dem Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir untersagt, sich in die Polizeiarbeit bei Demonstrationen einzumischen; größtenteils scheint die Polizei nichtsdestotrotz die von dem Minister gewünschte Unterdrückung der Meinungsfreiheit während des Krieges zu praktizieren.

Die für diesen Artikel interviewten Anti-Kriegs-Aktivisten*innen aus dem ganzen Land – sowohl palästinensische als auch jüdische Bürger*innen – nannten vor allem ein Wort: «Angst». Selbst langjährige politische Aktivist*innen sagten, sie hätten noch nie so viel Angst gehabt, zu protestieren. Sie hätten Angst, verhaftet zu werden, was für Palästinenser*innen Monate im Gefängnis bedeuten kann. Es sei gefährlicher denn je, Solidarität mit den Menschen in Gaza zu bekunden, und sie hätten den Eindruck, dass die aufhetzende Rhetorik von Politiker*innen einen direkten Einfluss auf das Verhalten der Polizei habe.

«Seit den ersten Tagen des Kriegs war offensichtlich, dass dies die verfolgte Linie war», sagte Maysana Mourani, eine Anwältin, die für die in Haifa ansässige Menschenrechtsorganisation Adalah arbeitet, gegenüber dem +972 Magazine und Local Call. «Aufgrund angeblicher ‹Personalengpässe› hat sich die Polizei neue Befugnisse angeeignet, durch die sie Proteste sofort unterdrücken kann, selbst dann, wenn keine behördliche Erlaubnis erforderlich ist.»

Adalah hat sich nach dem 7. Oktober mehrmals an den Obersten Gerichtshof gewandt, um solche Unterdrückungen des Demonstrationsrechts durch die Polizei anzufechten. Obwohl das Gericht Anfang Januar 2024 eingeschritten war, blieb es in zahlreichen weiteren Fällen untätig. So hatte die Polizei einen weiten Ermessensspielraum bei der Frage, welche Proteste erlaubt werden. «Es hängt von der Identität der Demonstrierenden und der Parolen ab», sagt Mourani.

«Die Gerichte sehen in jeder Protestaktion eine Gefahr», fährt sie fort. «Die Menschen werden automatisch für einige Tage in Gewahrsam genommen, und daraus wird dann sehr schnell eine Anklage und man entscheidet, sie bis zum Ende des Verfahrens festzuhalten. Es ist vollkommen verrückt; das ist die neue Normalität.»

«Es ist die Regel, dass die Polizei jeglichen Protest unterdrückt», teilte Amjad Shbita, Generalsekretär der linken Partei Chadash, dem +972 Magazine mit. Für den 9. Januar hatte Chadash einen Protest in der nordisraelischen Stadt Kabul organisiert; da weniger als 50 Teilnehmende erwartet wurden, bestand keine Notwendigkeit, eine Genehmigung einzuholen. Trotzdem war der Protest vorbei, bevor er überhaupt begonnen hatte: «Die Polizei nahm den Vorsitzenden des örtlichen Chadash-Parteibüros fest und bedrohte ihn, also gaben wir auf. Der Ortsverband sagte den Protest ab.»

Einige der Beschränkungen scheinen in den letzten Wochen etwas gelockert worden zu sein. In Arraba, einer anderen Stadt im Norden, fand eine Anti-Kriegs-Kundgebung mit ungefähr 150 Menschen statt – eine der größten palästinensischen Versammlungen innerhalb von Israel seit Kriegsbeginn.

Am 20. Januar durften größere Demonstrationen in Haifa und Tel Aviv, die die Polizei anfangs mit der Begründung von Personalengpässen verboten hatte, nach erfolgreichen Gesuchen an das Oberste Gericht stattfinden. Mehr als 1000 Personen nahmen an der Kundgebung in Tel Aviv teil, die von der jüdisch-arabischen Bewegung «Standing Together» organisiert wurde. Eine von der Chadash organisierte Kundgebung in Haifa wurde von der Polizei allerdings auf 700 Teilnehmende beschränkt.

Nichtsdestotrotz haben die Befragten den Eindruck, dass diese Lockerungen marginal sind. «Die Polizei hat ein wenig nachgegeben», sagt Shbita, «aber man spürt immer noch ihre eiserne Faust.»

«Sie versuchen uns einzuschüchtern.»

Die Unterdrückung von Protesten durch die israelische Polizei, sei es während des Krieges oder auch sonst, ist nichts Neues. Aber der gegenwärtige Angriff auf die Meinungsfreiheit erfolgt in einem Tempo und mit einer Gewalt, die beispiellos sind.

Eine Woche nachdem der Krieg begonnen hatte, verkündete der Kommissar der israelischen Polizei Ya’akov Shabtai ein Verbot von Demonstrationen, auf denen Solidarität mit den Palästinenser*innen in Gaza bekundet wird. «Jeder, der sich mit Gaza identifizieren möchte, kann das gerne tun», erklärte er in einem Video, das auf den arabischsprachigen Social-Media-Kanälen der israelischen Polizei gepostet wurde; «ich setze ihn in einen der Busse, die sich gerade auf dem Weg dorthin befinden.»

Am 7. November wies das Oberste Gericht Adalahs Gesuch gegen die Entscheidung der Polizei, wegen «fehlenden Personals» keine Protesterlaubnis für Palästinenser*innen in den Städten Umm al-Fahm und Sakhnin zu erteilen, zurück. Das Gericht sagte allerdings, dass der Polizeikommissar «nicht befugt ist, ein pauschales Verbot auszusprechen, das Demonstrationen von vornherein aufgrund ihres Inhaltes untersagt», und betonte, dass jeder Genehmigungsantrag ordnungsgemäß geprüft werden muss.

Rula Daood, palästinensische Staatsbürgerin Israels und nationale Ko-Direktorin der Organisation Standing Together, beschreibt die außerordentliche Schwierigkeit, unter den derzeitigen Bedingungen Proteste zu organisieren. «Die Polizei erteilte uns eine Genehmigung, zog sie dann aber wieder zurück. Erst sagten sie, die Demonstration sei erlaubt, aber der Ort sei nicht geeignet und die Reden wurden verboten. Die Dinge änderten sich immer wieder.»

«Vorher hatten sie noch gesagt, es könne kein Protestmarsch stattfinden, nur eine Versammlung ohne Redebeiträge», fährt Daood fort. «Wir wollten Tausende von Menschen in Tel Aviv auf die Straße bringen, um ein Ende des Krieges, einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln zu fordern. Wir wollen diese Stimme stärken und über den Tag danach sprechen.»

«Der Staat zeigt nicht, was in Gaza passiert, deshalb ist es wichtig, aufzustehen und zu sagen, dass das Töten von Zivilist*innen in Gaza, das in unserem Namen verübt wird, aufhören muss und dass es keine militärische Lösung gibt.»

Die Begründung der Polizei für die Verbote – dass sie nicht über die nötige Personalstärke verfüge, um den Protest vor Gegendemonstrierenden zu schützen – scheint haltlos gewesen zu sein. Bei keiner dieser Kundgebungen kam es zu nennenswerten Gegenprotesten, abgesehen von einigen Passant*innen, die die Protestierenden beschimpften.

«Sie versuchen uns einzuschüchtern: das Gefühl bei uns zu erzeugen, dass die Polizei unantastbar ist und tun kann, was sie will, und dass niemand etwas gegen sie unternehmen kann», sagt Daood. «Es ist politisch motivierte Polizeiarbeit, und das ist sehr beängstigend. Bei palästinensischen Bürgern ist die Angst mindestens doppelt so groß. Die Menschen haben Angst, sogar an kleinen Kundgebungen teilzunehmen, fotografiert zu werden, etwas zu schreiben.»

Am 9. November plante das High Follow-Up Committee – eine Dachorganisation, die palästinensische Staatsbürger*innen Israels vertritt – eine friedliche Demonstration in Nazareth mit einer begrenzten Zahl von Teilnehmer*innen. Die Polizei führte jedoch vorsorgliche Festnahmen durch, darunter der ehemalige Knesset-Abgeordnete Mohammad Barakeh, Vorsitzender des Ausschusses, und verhinderte den Protest damit. Nach seiner Festnahme zog Barakeh mit seinem Fall vor das Oberste Gericht, aber die Richter*innen wiesen seine Klage zurück. Die Demonstration durfte schließlich später im November stattfinden, ohne dass es weitere Festnahmen gab.

«Es besteht ein Gefühl der Hilflosigkeit.»

Am 19. Oktober gab es eine Anti-Kriegs-Demonstration in Umm al-Fahm. Das brutale Vorgehen der Polizei – die Demonstration wurde mithilfe von Blendgranaten, Schlagstöcken und Schaumstoffgeschossen auseinandergetrieben und die Polizei verhaftete 12 Demonstrierende – ließ sie zu einem Symbol für die Polizeirepressionen seit Kriegsbeginn werden.

Die Polizei beantragte, elf der Festgenommenen, darunter vier Minderjährige, in Untersuchungshaft zu nehmen, und das Magistratsgericht bewilligte den Antrag ohne Anhörung der Festgenommenen, weil der Shabbat bereits begonnen hatte. Nach der Anhörung am Samstagabend wurden neun Festgenommene unter Auflagen freigelassen, und zwei weitere, Ahmad Khalifa und Muhammad Jabarin, aus Sicht der Polizei die Organisatoren der Demonstration, verblieben in Haft.

Die beiden wurden beschuldigt, politische Parolen gerufen zu haben, die dem Gericht zufolge der Aufwiegelung gleichkommen. Sie sollten bis zum Ende des Verfahrens in Haft bleiben. Damit begründet das Gericht seine Entscheidung wohl das erste Mal allein mit dem Skandieren von Parolen. Mourani, die für Adalah tätige Anwältin, vertritt Jabarin. «Sie behaupten, es gehe um Aufwiegelung und Parolen und nicht um die Demonstration als solche, aber man kann das eine nicht vom andern trennen», sagte sie.

«Das ist ein Kurswechsel», fährt Mourani fort. «Als wir über Alternativen zur Haft sprachen, wandten sie ein, dass ein Hausarrest mit Fernüberwachung nicht möglich sei, weil [die Festgenommenen] diesen dann theoretisch verletzen und ihr Haus verlassen könnten, um demonstrieren zu gehen. Das heißt, es geht letztendlich tatsächlich um das Demonstrieren selbst. Das ist politische Verfolgung. Die skandierten Parolen sind nicht neu und beziehen sich nicht explizit auf den 7. Oktober.»

Es ist kein Einzelfall. Seit dem 7. Oktober hat die Staatsanwaltschaft Ermittler*innen in dutzenden Fällen dazu ermutigt, die Gerichte um eine Haftverlängerung bis zum Verfahrensende zu bitten, darunter in Fällen, wo es um eine Anklage wegen «Aufwiegelung» in sozialen Medien geht.

In einer der Anhörungen beschrieb Khalifa – einer der beiden Angeklagten – gegenüber einem Richter die Haftbedingungen im Megiddo-Gefängnis, wo er in Sicherungsverwahrung festgehalten wird: «Den Leuten werden Handschellen angelegt… Sie werden umhergeschleift wie Tiere. Wenn man den Kopf hebt, schlagen sie dir auf den Kopf. Ich habe das täglich gesehen. Wenn ein Wächter jemanden lächeln sieht, nehmen sie ihn mit; es gibt einen Bereich mit einem ‹toten Winkel› [außerhalb des Sichtbereichs der Überwachungskameras], den das ganze Gefängnis kennt.»

Shbita zufolge haben die Menschen wegen solcher Geschichten, die sie von Festgenommenen hören, Angst zu protestieren. «Früher haben sich Aktivist*innen gesagt, ‹man wird uns vielleicht für ein oder zwei Tage inhaftieren, das ist nicht das Ende der Welt›», sagt er. «Aber jetzt herrscht das Gefühl, dass es das Ende der Welt ist, auch unter Menschen, die regelmäßig an Protesten teilnehmen, wegen der physischen Gewalt während der Haft.»

Während in arabischen Ortschaften im Norden in den letzten Wochen kleine Proteste stattgefunden haben, gab es keine solchen Demonstrationen im Negev im Süden. «Es schmerzt mich, dass überall auf der Welt Menschen für uns demonstrieren – in Europa sind Menschen zu Hunderttausenden auf den Straßen, – aber wir selbst können hier nicht protestieren», sagt Huda Abu Obeid, eine politische Aktivistin aus dem Negev. «Es besteht ein Gefühl der Hilflosigkeit. Das Einzige, was wir vor dem Krieg tun konnten, war zu protestieren, und jetzt können wir nicht einmal das.»

Laut Abu Obeid gab es zunächst keine Demonstrationen, weil die Menschen so bestürzt von den Ereignissen des 7. Oktobers waren. «Es war ein echter Schock», sagt sie. «Wir sind Angriffe von Israels Seite aus gewohnt, aber dies war das erste Mal, dass es die Palästinenser waren, die so massiv angegriffen hatten. Wir wussten nicht, wie wir reagieren sollten.»

«Wir werden von allen Seiten zum Schweigen gebracht.»

Da es keine größeren Demonstrationen gab, beschränken sich gegen den Krieg gerichtete politische Aktionen auf kleinere, lokale Mahnwachen, für die keine Genehmigungen erforderlich sind. Doch selbst diese wurden von der Polizei und von Passant*innen angegriffen. Die Mahnwachen werden in den sozialen Medien meist nicht öffentlich, sondern eher in geschlossenen Gruppen angekündigt. Um rechte Gegenproteste zu vermeiden, dauern sie in der Regel weniger als eine Stunde und die Aktivist*innen kommen und gehen gemeinsam, aus Angst, auf dem Weg angriffen zu werden.

Während internationale und lokale arabische Medien diese Proteste und Mahnwachen mit großem Interesse verfolgt haben, werden die Ereignisse von den israelischen Mainstream-Medien fast vollständig ignoriert. «Unsere Stimme wird in Israel kaum gehört», sagt Michal Sapir, Aktivistin beim «Radikalen Block», «wir werden von allen Seiten zum Schweigen gebracht. Der Staat zeigt nicht, was in Gaza passiert, deshalb ist es wichtig, aufzustehen und zu sagen, dass das Töten von Zivilist*innen in Gaza, das in unserem Namen verübt wird, aufhören muss, und dass es keine militärische Lösung gibt.»

Als der Krieg begann, mussten die Aktivist*innen einen Weg finden, um das Demonstrationsverbot zu umgehen. «Wir haben das schrittweise gemacht», sagt Sapir. «Wir wussten nicht, wie die Reaktion ausfallen würde. Zuerst haben wir uns einfach den Familien der Geiseln angeschlossen. Wir wollten sehen, ob es möglich ist, dort mit Schildern zu stehen, auf denen ein Waffenstillstand gefordert wird, und wir sahen, dass es möglich ist. Nach und nach gingen wir zu radikaleren Parolen über und nahmen an den Märschen teil, die vom HaBima-Platz ausgingen [einem großen öffentlichen Platz im Zentrum Tel Avivs]. Wir sahen, was gesagt werden kann und was mit [Polizei-]Gewalt beantwortet wird.»

«Bis zu dem Vorgehen gegen die Schilder [beim Protest am 16. Januar vor der Kirya] hat uns die Polizei mehr oder weniger in Ruhe gelassen, aber jetzt verfolgen sie einen neuen Kurs», fährt Sapir fort. «Sie sind es leid, uns in der Nähe des Hauptquartiers des Militärs zu sehen.»

Von Zeit zu Zeit, ergänzt Sapir, würden die Aktivist*innen von Passant*innen attackiert. «Ein Lieferfahrer bewarf uns mit Eiern. Aber normalerweise werden wir toleriert, manchmal auch unterstützt.»

Aktivist*innen in Jerusalem haben in den letzten Wochen mehrere kleine Demonstrationen gegen den Krieg abgehalten, darunter auch einige vor der Botschaft der USA. Eine davon – eine Mahnwache für die in Gaza getöteten Menschen, die Anfang Januar stattfand – wurde von der Polizei gewaltsam aufgelöst, wobei zwei Demonstrierende verhaftet und Bilder von den in Gaza Getöteten konfisziert wurden. Letzte Woche wurde eine weitere Mahnwache in Jerusalem von der Polizei angegriffen, Schilder wurden beschlagnahmt und Demonstrierende weggedrängt.

«Alles ist beängstigend», sagte ein Aktivist der linken Gruppe Free Jerusalem, der nicht namentlich genannt werden möchte, dem +972 Magazine und Local Call gegenüber. «Es steht jetzt mehr auf dem Spiel. Anders als in der Vergangenheit, als wir offen für Veranstaltungen warben, sind wir jetzt vorsichtiger. Die öffentliche Meinung und die Aussagen der gesamten politischen Führung Israels haben sich nach rechts verschoben, und das hat das Ausmaß der Angst und der Beunruhigung erhöht.»

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Linke Aktivist*innen protestieren in Jerusalem gegen den Krieg und halten Bilder von Palästinenser*innen hoch, die durch Israels Krieg gegen Gaza getötet wurden, 16. Februar 2024. Foto von Yonatan Sindel/Flash90

Ihm zufolge haben Aktivist*innen von Free Jerusalem bei einer der ersten Demonstrationen, auf denen die Freilassung der Geiseln gefordert wurde, ein Ende des Krieges gefordert, um deren Freilassung sicherzustellen und wurden von Passant*innen angegriffen. «Es war noch nicht einmal direkt gegen den Krieg gerichtet, und dennoch gab es Gewalt», sagte er.

«Bei den zwei Demonstrationen, die wir an zwei aufeinanderfolgenden Samstagabenden abgehalten haben [6. und 13. Januar], hat die Polizei uns schon nach wenigen Minuten auseinandergetrieben und uns nicht erlaubt, zu protestieren», fuhr er fort. «Sie nahmen uns unsere großen Schilder ab, auf denen ‹Nein zum Krieg in Gaza› und ‹Waffenstillstand jetzt› stand.»

«Die Polizei beschimpfte uns, nannte uns Schlampen, und sagte, wir sollten zurück nach Gaza gehen.»

In Haifa fanden Aktivist*innen kreative Wege, um der aggressiven Unterdrückung der Anti-Kriegs-Aktivitäten in der Stadt durch die Polizei zu entgehen. Am 28. Dezember organisierte eine kleine Gruppe von Aktivist*innen eine sogenannte «springende» Demonstration, in welcher sie sich von Ort zu Ort bewegten, bevor die Polizei sie stoppen konnte.

«Wir haben es nicht in großen Gruppen [in den sozialen Medien] bekannt gemacht, weil wir wussten, dass Polizeibeamte dort mitlesen», sagte Gaia Dan, eine Aktivistin aus Haifa. «Es hat eigentlich ziemlich gut funktioniert. Wir standen 20 Minuten in der German Colony [ein Stadtviertel im Zentrum Haifas] und als die Polizei da war, waren wir schon woanders. Dort traf die Polizei nach 5 Minuten ein, also flohen wir zum dritten Punkt. Wir versuchen auf die Straße zu gehen, ohne dass es zu Gewalt führt.»

Dan wurde bei einem anderen Protest in der Stadt festgenommen, der vor einem Monat abgehalten wurde, und bei dem Aktivist*innen schweigend mit Klebeband auf dem Mund gegen die politische Verfolgung jener protestierten, die sich gegen den Krieg aussprechen. «Als wir dort ankamen, waren bereits drei Polizeifahrzeuge vor Ort, und innerhalb von Sekunden schrie der Bezirkskommandant durch das Megafon, dass er die Demonstration, wenn wir nicht in zwei Minuten auseinandergehen, gewaltsam auflösen werde.»

Laut Dan stürzte sich die Polizei auf die Demonstration. «Sie nahmen einen Demonstranten fest und begannen Schilder zu zerreißen und überall die Leute wegzudrängen. Sie zerrissen mein Schild, das sehr moderat war: ‹Stoppt das Schweigen.› Ich wurde weggezerrt und getreten. Und dann wurde ich festgenommen.»

Als sie mit zwei weiteren Festgenommenen im Polizeiauto saß, sagt Dan, «beschimpften uns die Polizeibeamten, nannten uns Schlampen, sagten, wir sollten zurück nach Gaza gehen, und fragten, warum wir uns nicht schämen würden, in Kriegszeiten so zu demonstrieren. Während wir im Polizeirevier warteten, schimpften die Polizisten weiter und sangen Lieder über die Rückkehr nach Gush Katif [die jüdischen Siedlungen in Gaza, die 2005 geräumt worden sind] und über die Zerstörung Gazas. Nach drei Stunden wurden wir ohne Auflagen freigelassen.»

Das harte Durchgreifen der Polizei gegen abweichende Meinungen in Haifa begann sofort nach dem Ausbruch des Krieges. Am 18. Oktober plante die Hirak-Bewegung eine Demonstration in der Stadt; Stunden bevor sie beginnen sollte, gab die Polizei die Erklärung ab, dass keine Genehmigung erteilt wurde, und dass sie «kein Zeichen der Unterstützung oder Solidarität mit der Terrororganisation Hamas zulassen» und «mit fester Hand und im Einklang mit dem Gesetz handeln werde, um die Demonstration aufzulösen, was, wenn nötig, auch ‹Crowd Control›-Maßnahmen einschließen würde.»

Die Aktivist*innen demonstrierten trotzdem weiter; dutzende Polizeibeamte kamen hinzu und erklärten den Protest für illegal, lösten ihn gewaltsam auf und nahmen fünf Protestierende, die sich geweigert hatten zu gehen, fest. Adalah, dessen Anwält*innen drei der Festgenommenen vertraten, wurde gesagt, dass die Festgenommenen auf Anweisung des Polizeichefs die ganze Nacht in Haft verbleiben würden. Am nächsten Tag ordnete das Magistratsgericht Haifas ihre Freilassung an.

Am 29. Oktober wurde der Aktivist Yoav Bar in seiner Wohnung festgenommen, weil die Polizei «aufrührerische Materialien» bei ihm gefunden hatte, die sich später als politische Plakate herausstellten. Er wurde später ohne Auflagen wieder freigelassen.

Seit diesen Verhaftungen, so Dan, hätten die Menschen Angst, auf die Straße zu gehen. «Auf der ersten Demonstration waren wir 20; jetzt ist es schwer fünf zu finden», sagt sie. «Die Leute sehen auch, was in Tel Aviv und Jerusalem geschieht – sie wollen nicht zu einer Demonstration gehen und geschlagen werden, und ich verstehe sie. Es ist hart und kraftraubend, jedes Mal am Anfang der Demonstration zu denken, dass es mit einer Festnahme oder damit, dass man auf den Gehweg gepresst wird, enden könnte. Auch ich habe Angst. Aber letztendlich haben wir als Juden das Privileg, in der Regel keine langen Haftzeiten fürchten zu müssen, und es ist wichtig, zu demonstrieren, wie auch immer es uns möglich ist.»

Shbita, der Vorsitzende der Chadash-Partei, hofft nun, dass der jüdische Mainstream drei Monate nach Kriegsbeginn ebenfalls verstehen wird, warum sie protestieren. «Der 7. Oktober war ein echter Schock, aber ich denke, mit der Zeit beginnen die Menschen, Fragen zu stellen», sagt er. «Leider fangen die Menschen in Israel erst dann an, schwierige Fragen zu stellen, wenn ihre eigenen Leute Leid erfahren. Die 20.000 bis 30.000 palästinensischen Opfer kümmern sie nicht, aber die Lebensgefahr, in der sich die Geiseln befinden, die getöteten Soldaten*innen, die diplomatischen Probleme, die wirtschaftliche Krise – all diese Dinge werden die Öffentlichkeit dazu bringen, Fragen zu stellen.»

Das +972 Magazine und Local Call haben die israelische Polizei gebeten, zu ihrer Unterdrückung von Anti-Kriegs-Protesten, zu ihren Befugnissen, Protestschilder zu konfiszieren, und zu dem Umgang der Polizeibeamten mit Festgenommenen in Haifa Stellung zu nehmen.

Darauf antwortete die Pressestelle der Polizei: «Ohne auf konkrete Fälle einzugehen, ist festzuhalten, dass Israels Polizei im Einklang mit den gesetzlichen Bestimmungen und den mit der Richtlinie der Generalstaatsanwältin festgelegten Bedingungen handelt. Israels Polizei gewährt das legitime Recht auf friedlichen Protest, aber sie wird keine Gewalttaten gegen Polizeibeamte zulassen, die für Sicherheit sorgen und die öffentliche Ordnung aufrechterhalten, und sie erlaubt keine Störungen der öffentlichen Ordnung jeglicher Art.»

                                                             Übersetzung von Gegensatz Translation Collective

Dieser Artikel ist am 24.01.2024 ursprünglich in englischer Fassung in +972Magazine erschienen.

Autor:in

Oren Ziv ist ein Fotojournalist, ein Reporter für Local Call und ein Gründungsmitglied des Fotokollektivs Activestills.