Alternative text missing

Demonstration auf dem Safra-Platz gegen den Krieg in der Ukraine und gegen Putin in Jerusalem, März 2022. Foto: Lena Kuznetsova Horesh (Shatil Stock)

Ein Getto für Penelopes – Ukrainische Geflüchtete in Israel

«Wir schlafen voller Angst und Einsamkeit ein und wachen genauso wieder auf», sagt Olga. Olga (Pseudonym) ist 40 Jahre alt. In Lwiw hat sie als Krankenschwester in einem Rehabilitationszentrum gearbeitet, in Israel geht sie putzen. Seit bald eineinhalb Jahren ist sie mit ihren drei Kindern hier, ihr Mann ist in der Ukraine geblieben. Vor einigen Monaten erhielt er die Möglichkeit, seine Familie für ein paar Wochen zu besuchen. Die israelischen Behörden hielten ihn jedoch am Flughafen fest und verweigerten ihm die Einreise. Sie fürchteten, er würde bleiben. Ohne Frau und Kinder gesehen zu haben – sie hatten am Flughafen auf ihn gewartet –, reiste er wieder ab.

Olga ist mit einem Touristenvisum nach Israel gekommen: «Im letzten Frühjahr haben meine Cousinen und ich die Ukraine verlassen und sind zu unserer Tante nach Israel geflohen, die mit einem Juden verheiratet ist. Damals dachten wir, es wäre gut, irgendwo hinzugehen, wo wir jemanden kennen. Vor einigen Monaten sind sie aber wieder in die Ukraine zurückgekehrt. Die eine hat ein kleines Kind und konnte nicht arbeiten gehen. Sie hatte keine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die anderen beiden haben die Schule abgeschlossen und wollen ein Studium beginnen. Es gibt für sie keine Zukunft hier. Ich selbst kann im Moment nicht nach Hause zurück, meine mittlere Tochter fürchtet sich extrem vor dem Luftalarm. In der Ukraine heult der Alarm teilweise alle zwei Stunden. Hier sind die Kinder ruhiger, selbst dann, wenn es Raketenalarm gibt.»

Ein ukrainischer Pass genügt

Der russische Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 hat eine massive Fluchtbewegung ausgelöst, die jene von 2015 im Kontext des syrischen Bürgerkriegs sogar noch übertrifft. Statistiken des UNHCR zeigen, dass sich Stand August 2023 weltweit mehr als 6,2 Millionen Ukrainer*innen auf der Flucht befinden, 367.000 von ihnen außerhalb Europas. Die meisten ukrainischen Geflüchteten – 2,8 Millionen – halten sich in Russland auf. In der EU führt Polen mit mehr als 1,5 Millionen Geflüchteten die Rangliste an, gefolgt von Deutschland (mit etwas mehr als einer Million Geflüchteten) und Tschechien (500.000 Geflüchtete). Rasch wurde in den EU-Ländern (erstmals) die Richtlinie über den sogenannten «vorübergehenden Schutz» aktiviert, die Zugang zu Wohnraum, Sozialleistungen, Gesundheitsversorgung und zum Arbeitsmarkt gewährt. Ukrainer*innen können damit eine Aufenthaltserlaubnis in der EU beantragen und ihre Kinder einschulen.

Die 23-jährige Anna lebt seit mehr als einem Jahr in Irland. Als der Krieg ausbrach, studierte sie in Russland. Im Land des Feindes zu leben, während dieser ihre Verwandten in einer Kleinstadt nahe Kiew bombardierte, wurde immer unerträglicher. Auf ihrer Flucht durchquerte sie drei Länder. Sie reiste von Moskau über Kasachstan in die Türkei und dann nach Irland. Ihr Ziel waren die USA, wo sie während eines Schüleraustauschs Freundschaften geschlossen hatte. Weil Irland sie mehr als freundlich empfing, beschloss sie zu bleiben. Schon am Flughafen organisierte man für sie auf Basis des «vorübergehenden Schutzes» Sozialleistungen, eine Krankenversicherung und eine Arbeitserlaubnis. Sie musste dazu nur ihren ukrainischen Pass vorzeigen, niemand fragte nach Beweisen oder einer Rechtfertigung. Nach einigen Monaten im Aufnahmesystem absolvierte sie ein Praktikum bei einer Bank, die ihr anschließend einen Job anbot. Ihre Erfolgsgeschichte macht Mut.

Leider ist sie alles andere als typisch. Yulia Koroleva, Partnerin der Anwaltskanzlei Belimy Avocats und zugelassene Rechtsanwältin bei der Pariser Anwaltskammer, schilderte uns die Situation in Frankreich, die mit anderen EU-Ländern vergleichbar ist: «Mit einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis darf man angestellt oder einzelunternehmerisch arbeiten. Man hat damit auch sofort Zugang zu den französischen Sozialversicherungen, insbesondere zu einer umfänglichen Krankenversicherung. Geringverdiener*innen können Sozialleistungen beziehen. Die vorläufige Aufenthaltserlaubnis wird für sechs Monate erteilt und in der Regel automatisch verlängert. Je nach Lage in der Ukraine werden diese Bewilligungen maximal noch bis zum 4. März 2025 gewährt. Neben dem ‹vorübergehenden Schutz› haben Ukrainer*innen aus bestimmten Grenzregionen (u. a. Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson) die Möglichkeit, subsidiären Schutz zu beantragen, was länger dauert als das Verfahren für den ‹vorübergehenden Schutz›. Berechtigt sind Menschen, die vor oder bei Kriegsbeginn in der Ukraine lebten. Am Ende des Verfahrens steht eine vierjährige Aufenthaltserlaubnis.»

Alternative text missing
Demonstration auf dem Safra-Platz gegen den Krieg in der Ukraine und gegen Putin in Jerusalem, März 2022. Foto: Lena Kuznetsova Horesh (Shatil Stock)

Ausschließlich Rückkehrer*innen, keine Geflüchteten

Um die Lage in Israel zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass das Land so gut wie nie einen offiziellen Flüchtlingsstatus gewährt und dass auch Anträge auf vorübergehendes Asyl wenig Chancen auf Erfolg haben.

Ukrainer*innen in Israel fallen in verschiedene Kategorien. Manche haben jüdische Wurzeln und können gemäß dem Rückkehrgesetz die israelische Staatsbürgerschaft beantragen. Das erleichtert vieles: Sie haben das Recht, ein Bankkonto zu eröffnen, wodurch sie leichter eine Wohnung anmieten können; sie haben Zugang zu kostenlosen Hebräischkursen und zur Krankenversicherung. Außerdem erhalten sie für sechs Monate eine finanzielle Unterstützung in der ungefähren Höhe ihrer Lebenshaltungskosten (außer Miete). Allerdings muss die jüdische Herkunft in einigen Fällen nachgewiesen werden und manche Geflüchtete verfügen nicht über die entsprechenden Dokumente. Auch Lebenspartner*innen und Ehegatt*innen sowie Kinder oder Eltern israelischer Staatsbürger*innen müssen ihr Recht auf Familienzusammenführung nachweisen. Sie dürfen sich mit einem temporären Visum für eine bestimmte Zeit im Land aufhalten und fallen deshalb gemeinsam mit jenen Ukrainer*innen, die mit einem Touristenvisum nach Israel eingereist sind, in die zweite Kategorie. Zur dritten Kategorie gehören Ukrainer*innen, die zwar israelische Staatsbürger*innen sind, bei Kriegsbeginn aber in der Ukraine lebten und die nun nach Israel einreisen. Diese Gruppe hat die ersten sechs Monate nach ihrer Ankunft weder Anspruch auf Sozialleistungen noch auf eine Krankenversicherung. Die vierte und letzte Gruppe besteht aus Ukrainer*innen, die vor dem russischen Angriff ein Arbeitsvisum hatten. Hierbei handelt es sich in der Regel um Männer, denen es teilweise gelungen ist, ihre Frauen und Kinder nach Ausbruch des Kriegs nach Israel zu holen.

Israels Botschafter in der Ukraine Michael Brodsky betonte in einem Interview für die ukrainische Ausgabe von Zerkalo Nedeli, dass Israel ein Land sei, dessen Priorität auf Rückkehrer*innen liege, nicht auf Geflüchteten: «Israel hat ca. 15.000 Rückkehrer*innen aus der Ukraine aufgenommen. Sie alle sind auch Geflüchtete, denn sie sind während des Krieges eingereist.» Seiner Meinung nach ließe sich aber nicht wirklich von ukrainischen Geflüchteten sprechen: «Keine einzige Person ist aus der Ukraine direkt nach Israel geflohen. Sie alle sind aus europäischen Ländern eingereist, in denen sie hätten bleiben und einen Flüchtlingsstatus beantragen können.»[1] Und er stellte klar: «Deshalb sprechen wir nicht von Geflüchteten. Das sind Leute, die sich legal und ohne zeitliche Begrenzung in Israel aufhalten und schon jetzt eine Arbeitserlaubnis haben.»

Im vorliegenden Artikel soll es um jene Ukrainer*innen gehen, die ein Touristenvisum haben bzw. deren Aufenthaltsstatus temporär und ungeklärt ist. Wir werden sie weiterhin «Geflüchtete» nennen, denn gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention sind sie genau das.

Ein Jahr nach Kriegsbeginn schrieb die israelische Zeitung Haaretz basierend auf Zahlen des israelischen Ministeriums für Wohlfahrt und Soziale Dienste, mehr als 50.000 ukrainische Geflüchtete seien nach Israel gekommen – jene mit Anspruch auf Einbürgerung eingeschlossen. Die meisten von ihnen seien (infolge der Mobilisierung ukrainischer Männer zwischen 18 und 60 Jahren) Frauen und Kinder. Von diesen Menschen halten sich derzeit aber nur noch 15.000 in Israel auf.

Obergrenzen und erschwerter Zugang zum Arbeitsmarkt

Anders als in zahlreichen europäischen Ländern trafen ukrainische Geflüchtete in Israel nicht auf einen warmen Empfang und eigens aufgesetzte Unterstützungsprogramme. Im Gegenteil: Viele von ihnen kämpfen nach wie vor dafür, überhaupt nach Israel einreisen zu dürfen. Im März 2022, einen Monat nach Kriegsbeginn, beschränkte das Innenministerium rückwirkend die Zahl nichtjüdischer ukrainischer Einreisender auf 5.000. Die Obergrenze trat im Juli 2022 in Kraft, wurde aber sogleich von Israels Oberstem Gericht annulliert. Trotzdem wird Hunderten von ukrainischen Geflüchteten seit Juli 2022 am Flughafen die Einreise verweigert. Als Grund wird die «Immigrationsgeschichte» dieser Menschen oder ihrer Verwandten angeführt – also zum Beispiel das Verbleiben im Land nach Ablauf eines Visums, ein Asylantrag in der Vergangenheit oder auch einfach der Verdacht auf Bleibeabsicht.

Die größte Schwierigkeit für ukrainische Geflüchtete besteht allerdings nicht in der Einreise, sondern darin, in dem fremden Land zu überleben. Zahlreiche Geflüchtete sind bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, in die Ukraine zurückgekehrt. Eine der Herausforderungen, denen sie sich in Israel gegenübersahen, war der erschwerte Zugang zum Arbeitsmarkt.

Seit Ausbruch des Krieges hat das Innenministerium die arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen für Ukrainer*innen mehrfach geändert. Im Mai 2022, drei Monate nach Kriegsbeginn, verkündete das Innenministerium, dass ukrainische Geflüchtete bei Fortdauer des Kriegs und der Unmöglichkeit einer Rückkehr auf Grundlage einer Nichtverfolgungsentscheidung arbeiten dürfen. Es handelte sich dabei also nicht um eine Arbeitserlaubnis, sondern um eine Absichtserklärung des Staates, von der strafrechtlichen Verfolgung arbeitender Ukrainer*innen und deren Arbeitgeber*innen abzusehen. Im Juni desselben Jahres beschloss das Innenministerium zusätzlich eine geografische Beschränkung für sämtliche Geflüchtete in Israel: Sie sollten nunmehr in 17 israelischen Städten (darunter Tel Aviv, Eilat, Haifa und Jerusalem) nicht mehr arbeiten dürfen. Ausgenommen waren Arbeitskräfte in der Baubranche, der Landwirtschaft, in öffentlichen Pflegeeinrichtungen oder in der Gastronomie. Diese Vorgabe sollte ab Oktober 2022 gelten, ihr Inkrafttreten wurde aber dank einer Petition von Menschenrechtsaktivist*innen zunächst auf Anfang 2023 und dann auf unbestimmt verschoben.

Der jüngste Erlass geht auf den 5. Juli 2023 zurück. Die Aufenthaltsbestimmungen für ukrainische Geflüchtete wurden dahingehend geändert, dass jene, die über einen Reisepass verfügen und sich seit mehr als 90 Tagen in Israel aufhalten, nun offiziell einer Arbeit nachgehen können. Zusätzlich wurden die Touristenvisa aller Ukrainer*innen, die sich bereits vor Kriegsbeginn in Israel aufgehalten haben oder während des Krieges eingereist sind, bis 31. Januar 2024 verlängert. Dieses bemerkenswerte Umschwenken wurde vor allem dank der Bemühungen von Menschenrechtsorganisationen, humanitären Organisationen, engagierten Freiwilligen und Journalist*innen erreicht, die für das Recht der Geflüchteten auf Arbeit kämpften. Geflüchtete haben nun wenigstens die (unbefriedigende) Sicherheit, für mindestens sechs Monate in Israel bleiben und arbeiten zu dürfen.

«Solange Freiwillige uns mit Nahrung und Kleidung versorgen, haben wir eine Chance zu überleben»

Eine der Nichtregierungsorganisationen, die sich an der Petition beteiligt hat, ist die Hebrew Immigrant Aid Society (HIAS). HIAS koordiniert die Arbeit diverser engagierter Freiwilliger und Nichtregierungsorganisationen und unterstützt Geflüchtete. Die Organisation hilft Ukrainer*innen bei der Einreise nach Israel und hat darüber hinaus Studien durchgeführt, um festzustellen, welche konkreten Bedürfnisse diese Gruppe hat. Die Studien offenbarten eine große Versorgungslücke in Bezug auf die Verfügbarkeit von richtigen Informationen über die Rechtslage, die medizinische Versorgung, Wohnraum, Nahrung und viele weitere Bereiche – und das trotz einer vom Ministerium für Wohlfahrt und Soziale Dienste im März 2022 eingerichteten humanitären Hotline für ukrainische Geflüchtete. Viele Geflüchtete wussten nicht, an wen sie sich mit ihren Anliegen wenden sollten.

Die Berichte der HIAS-Studienteilnehmenden fielen je nach persönlichen Beziehungen und Umständen unterschiedlich aus. Viele berichteten von Problemen mit der Sprache (obwohl damit geworben worden war, dass die staatliche Hotline ihre Dienste auf Russisch, Ukrainisch und Englisch anbietet, was im Endeffekt nicht der Fall war). Die meisten Teilnehmenden verfügten zum Zeitpunkt der Befragung über genug Nahrung, äußerten aber ihre Sorge darüber, ob und wann sie in Zukunft Essen kaufen oder erhalten würden. Die meisten von ihnen wohnten bei Verwandten oder Freund*innen, die entweder nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion oder aber vor dem Krieg mit Arbeitsvisa eingewandert waren. Bereits ein Jahr später waren viele auf der Suche nach einer neuen Bleibe, da Verwandte und Freund*innen sie nicht über einen so langen Zeitraum beherbergen konnten.

Eine israelische Tante mietete für unsere Gesprächspartnerin Olga, ihre Kinder, Schwestern und Neffen gleich nach deren Ankunft eine Wohnung an. So konnte Olga Probleme beim Abschluss des Mietvertrags umgehen. Aber die Tante war nicht in der Lage, die Miete für Olga zu bezahlen, schon gar nicht über längere Zeit. Jetzt hilft sie mit den Nebenkosten und dem Internet aus. Die Miete für die Wohnung muss Olga selbst aufbringen, sodass wenig Geld für Essen übrig bleibt. «Ganz am Anfang haben wir einige Essensmarken über 700 Schekel [rund 170 Euro] erhalten. Was uns rettet, sind die Freiwilligen. Sie geben uns Essen und Kleider, so können wir überleben», sagt Olga.

Ganz am Anfang haben wir einige Essensmarken über 700 Schekel [rund 170 Euro] erhalten. Was uns rettet, sind die Freiwilligen. Sie geben uns Essen und Kleider, so können wir überleben

Ein weiteres Problem ist die medizinische Versorgung. Bis zum 9. August dieses Jahres erhielten Geflüchtete über 60 Jahre eine staatliche Krankenversicherung. Der Rest konnte nur auf eine Notfallversorgung zählen, die das Terem-Netzwerk mit seinen Notfallzentren anbot. Allerdings gibt es nicht in jeder Stadt ein solches Zentrum und die Anreise kann mehrere Stunden in Anspruch nehmen. Olga meint dazu: «Wenn ein Kind hohes Fieber hat oder sonst etwas Dringendes passiert, kann man nicht mit dem öffentlichen Verkehr anreisen. Man muss ein Taxi nehmen, das kostet. Außerdem bietet Terem keine zahnmedizinische Versorgung an. Ich würde meine Kinder gern versichern, aber ich habe drei Kinder und in Israel kann man Kinder nur versichern, wenn auch ein*e Erziehungsberechtigte*r versichert ist. Und eine Versicherung für alle vier kann ich mir schlicht nicht leisten.»

Am 9. August 2023 verwandelte sich die ohnehin schon schwierige Situation in eine Katastrophe: Das Ministerium für Wohlfahrt und Soziale Dienste verkündete ohne jede Vorwarnung, dass Geflüchtete aus der Ukraine keinen Anspruch auf eine kostenlose Versorgung in den Terem-Kliniken mehr hätten. Auch das Anrecht auf medizinische Versorgung für ukrainische Bürger*innen über 60 wurde mit sofortiger Wirkung abgeschafft. In zahlreichen Krankenhäusern wurden Patient*innen aufgefordert, nach Hause zu gehen, obwohl ihr Zustand kritisch war. Operationen und notwendige medizinische Untersuchungen wurden abgesagt. Plötzlich war es unmöglich, an Medikamente wie Insulin und Blutdrucksenker heranzukommen, weil das Ministerium die Zahlungen für die medizinische Versorgung Geflüchteter gestoppt hatte. Menschenrechtsorganisationen und engagierte Freiwillige schlugen Alarm und schickten Briefe ans Finanzministerium, in denen sie die Fortsetzung der Zahlungen forderten. Sie bereiteten eine Klage vor dem Obersten Gericht vor.

Am 18. August beschloss die Regierung auf Druck der Nichtregierungsorganisation hin, die kostenlose medizinische Versorgung um weitere sechs Monate zu verlängern. Jedoch trafen die nötigen Gelder nicht sofort ein, was dazu führte, dass viele Menschen die dringend benötigte Hilfe nicht erhielten.

Auch Lena Dubrovner, die in Bat Jam lebt und sich freiwillig für Geflüchtete engagiert, sagt: «Ich habe wirklich ungern Recht. Aber vor einem Jahr habe ich den Geflüchteten gesagt, sie sollen ihre Kinder auf israelische Schulen schicken. Viele haben das gemacht. Olgas älteste Tochter studiert in Israel und macht gleichzeitig ein Fernstudium in der Ukraine. Aber viele waren sich so sicher, dass alles nur vorübergehend ist, dass sie nach Hause würden zurückkehren können. Und jetzt?»

Lenas Tür steht allen offen, jeden Tag kommen Menschen vorbei. Manche bringen humanitäre Hilfe wie Nahrung und Kleidung, andere kommen, um sie abzuholen. «Heute hat jemand Jungensandalen in Größe 34 gebracht. Jetzt muss ich herausfinden, wer sie wollte» – Lenas Telefon ist voll mit Nachrichten von Menschen, die Hilfe und Rat suchen. «Auch wenn sie eigentlich wissen, was zu tun ist, fragen sie – zum Beispiel wenn sie einen Arzt brauchen. ‹Lena, mein Sohn hat sich den Arm gebrochen, was soll ich tun?› Sie brauchen einfach Unterstützung. Sie haben hier niemanden.»

Lena weist auch auf Probleme bei der Wohnungssuche hin. Da Geflüchtete weder über israelische Bankschecks noch Bürg*innen verfügen, fallen viele von ihnen skrupellosen Makler*innen in die Hände, die ihnen auch noch das letzte Geld abnehmen. Auch das Essen spielt eine Rolle, sagt sie: «Gebraucht wird, was schnell geht. Die Mütter arbeiten den ganzen Tag. Wenn sie nach Hause kommen, kümmern sie sich um die Kinder und haben mit eigenen Problemen zu kämpfen. Und dann müssen sie auch noch kochen. Das ist alles sehr schwierig, vor allem, wenn man allein ist.»

Das Interview mit Lena fand vor dem 9. August 2023 statt und Lena war noch der Meinung, dass das Problem mit der medizinischen Versorgung gelöst werden könnte, auch was Schwangerschaft und psychologische Hilfe angeht. Dafür müssten sich die Menschen an Freiwillige und einschlägige Organisationen wenden. Allein sind die Geflüchteten mit der Bürokratie überfordert, gemeinsam kann man Lösungen finden. Aber Lena sagte auch: «Es gibt trotzdem ein riesiges Problem, und zwar bei den sogenannten Rückkehrer*innen. Das sind jene, die mit einer israelischen Staatsbürgerschaft eingereist sind und die in den ersten sechs Monaten keine medizinische oder soziale Hilfe erhalten. Egal, ob sie aus der Ukraine oder aus Russland kommen. Viele haben kein Geld, sind Hals über Kopf aufgebrochen. Oft benötigen sie dringend Hilfe und man lässt sie allein. Gerade psychologische Hilfe wäre entscheidend. Und selbst wenn ich für jene aus der Ukraine freiwillige Psycholog*innen finden kann, so kann ich es bei denen aus Russland vergessen. Ich habe selbst erlebt, wie jemand eine Panikattacke hatte und die Ärzte ihm jede Hilfe verweigert haben. Ich finde es daneben, dass man Menschen nicht hilft. Und das sind nicht einmal Geflüchtete, sondern israelische Staatsbürger*innen, für die wir eigentlich verantwortlich wären.»

Am 9. August war Lena schockiert. Innerhalb eines Tages erhielt sie mehr als 200 Nachrichten von Menschen, die plötzlich keine medizinische Versorgung mehr hatten. Wie viele andere Freiwillige sagte auch sie, sie schäme sich für den Staat: «Wir haben diese Menschen aufgenommen, wir können sie nicht einfach sterben lassen.» Wie die anderen Freiwilligen wird Lena weiter für das Leben der Menschen kämpfen, für die sie sich verantwortlich fühlt.

Ein weiteres Problem besteht nach Lenas Meinung darin, dass Israel zu einem Flüchtlingsgetto geworden sei. Geflüchtete, die mit einem Touristenvisum hier leben, können das Land nicht verlassen, weil die erneute Einreise ohne ein gültiges Touristenvisum nicht möglich ist. Verlässt man Israel mit einem abgelaufenen Touristenvisum, darf man nicht zurückkehren. In den allermeisten Fällen wird Verwandten die Einreise nach Israel verwehrt, egal ob sie in der Ukraine geblieben oder in Europa untergekommen sind. Lena hat eine klare Meinung: «Wenn die Ehemänner und Söhne Fronturlaub bekommen, können ihre Frauen und Mütter nicht in die Ukraine einreisen und auch sonst keine Verwandten und Freund*innen in anderen Ländern besuchen. Und niemand weiß, wie lange das noch dauern wird. Wir haben ein Getto für ‹Penelopes› geschaffen.»

Übersetzung von Gegensatz Translation Collective.

[1] Seit Kriegsbeginn gibt es zwischen der Ukraine und Israel keinen Luftverkehr, und aus israelischer Sicht haben Menschen, die über Drittländer einreisen, kein Anrecht auf einen Flüchtlingsstatus.

Autor:innen

Nadia Eizner-Choresh, Bloggerin, Redakteurin, Content-Autorin, Medienberaterin und soziale Aktivistin. Ehemalige Chefredakteurin der Nachrichten-Website "Relevant Info".

Marianna Belenkaya, Orientalistin und Journalistin, Nahost-Korrespondentin seit über zwanzig Jahren. In den letzten fünf Jahren hat sie für die wichtige russische Zeitung Kommersant“ gearbeitet.