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Ohne uns

Mitte Juli reiste ich mit einem Freund nach Jerusalem, um an einer der Demonstrationen gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seine Regierung teilzunehmen. Tausende mit unterschiedlichen Anliegen marschierten von der Knesset zur Residenz des Regierungschefs an der Balfour-Straße. Obwohl Menschen aus vielen verschiedenen Gesellschaftsgruppen zusammengekommen waren, konnte ich unter ihnen keine palästinensischen Bürger*innen ausmachen – abgesehen von mir selbst, dem Journalisten Suleiman Maswadeh von der Israeli Public Broadcasting Corporation und Ayman Odeh, Vorsitzender der Gemeinsamen Liste der arabischen Parteien.

Wäre die Welt nicht, wie sie ist, könnte man eine höhere Beteiligung der palästinensischen Bevölkerung Israels an einer Demonstration gegen die fehlgeschlagene Coronapolitik der Regierung erwarten. Immerhin sind wir von der Pandemie und ihren wirtschaftlichen Auswirkungen stark betroffen: Etwa 20 Prozent der rund 1 Million Bürger*innen, die sich seit März arbeitslos gemeldet haben, sind palästinensisch.

Weshalb also zieht der Kampf gegen institutionelle Ungerechtigkeit, der von einer ganzen Allianz verschiedener Gruppen geführt wird, nicht diejenigen an, denen die Institutionen historisch Schaden zugefügt haben? Die Antwort liegt im Status des palästinensischen Bevölkerungsteils als marginalisierte, diskriminierte Minderheit im Land.

Die Ausgangsposition von Palästinenser*innen in Israel unterscheidet sich fundamental von derjenigen der meisten jüdischen Protestierenden. Aus unserer Perspektive handelt es sich um Demonstrationen, die Veränderungen erreichen sollen, in die wir nicht miteinbezogen sind und die uns deshalb nicht besonders interessieren. Eine Absetzung von Netanjahu liegt zwar offensichtlich in unserem Interesse, doch halten sich unsere Begeisterung und unsere Hoffnung in Grenzen mit Blick auf das, was folgen könnte; es macht für uns keinen Unterschied, wer als nächstes an die Regierung kommt. Schließlich hat uns die Geschichte gezeigt, dass palästinensische Bürger*innen am Verhandlungstisch unerwünscht sind.

Könnten die Dinge anders sein? Ayman Odeh von der Gemeinsamen Liste streamte Live-Videoclips der eingangs genannten Demonstration und forderte palästinensische Bürger*innen zur Teilnahme auf. Es ist zu bezweifeln, dass dies viel bewirken würde – ein wirklicher Wandel kann erst mit ganz neuen Spielregeln eintreten und zwar dann, wenn die jüdisch-israelische Öffentlichkeit die Probleme und Bedürfnisse der palästinensischen Bevölkerung anerkennt. Versuche, die palästinensische Community zu erreichen, müssen auf Verständnis und gutem Willen beruhen.

Wir sind eine Gemeinschaft mit Wunden. Seit der Staatsgründung Israels 1948 hat uns jede Regierung von innen geschwächt. Durch die Nichtbeachtung, Diskriminierung und den Rassismus, die unsere Lebensrealität prägen, steuern wir schon länger auf einen Abgrund zu; die jüdische Öffentlichkeit realisiert nun endlich, dass die politische Klasse nicht nur uns, sondern alle irreführt und mit unser aller Zukunft spielt.

Waffengewalt ist alltäglich geworden und außer Kontrolle geraten, ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Dem politischen Establishment sind wir schon lange egal und es tut bei weitem nicht genug, um gegen die Gewalt vorzugehen und unsere Lage in Bezug auf Infrastruktur, Wirtschaft und Bildung zu verbessern. Zwar hören wir oft von spektakulären Polizeiaktionen, bei denen Waffen und Drogen sichergestellt werden, doch auf jeden dieser Berichte folgt alsbald ein neuer Mord, die nächste Schießerei, neue Gewalt – besonders gegen Frauen.

Wir brauchen ein offenes Ohr und gemeinsame Bemühungen, um die drängenden und langfristigen Anliegen anzugehen. Wir benötigen eine gemeinsame Vision für die Zukunft der nächsten Generationen. Aber wir wissen, dass sich aus der Führungsschicht niemand wirklich für die palästinensische Bevölkerung einsetzt, erst recht nicht während einer Pandemie. Wer hat jetzt schon Zeit, über Gleichberechtigung und Menschenrechte zu sprechen?

Und dennoch, Verbesserungen für den palästinensischen Bevölkerungsteil liegen offensichtlich im Interesse der jüdischen Bevölkerung. Den Bewohner*innen der arabischen Stadt Umm al-Fahm müssen die gleichen Rechte und Möglichkeiten offenstehen wie denjenigen der jüdischen Gemeinde Herzliya. Produktivität und Wohlstand erreicht man durch Vielfalt, nicht durch Trennung.

Wenn die Demonstrierenden von heute wirklich an einer langfristigen Perspektive interessiert sind, ist eine gemeinsame Anstrengung möglich. Es geht nicht nur darum, eine Führungsänderung zu bewirken, sondern um Änderungen für die Menschen. Wir wollen ein System, dass die palästinensischen Bürger*innen nicht ausschließt.

Und dann – dann könnten die Balfour-Proteste der Beginn von etwas Neuem sein.

Dieser Artikel erschien im Juli auf der israelisch-palästinensischen Webseite +972.

Übersetzung aus dem Englischen von Lisa Jeschke und Tabea Magyar vom Gegensatz Translation Collective.