Protest gegen den Gaza-Krieg, mit der Forderung nach einem Waffenstillstand, Tel Aviv am 27. Februar 2024. Foto: Tomer Neuberg/Flash90
In der Kriegsblase
Die Stimmung in Israel könnte nationalistischer kaum sein – doch es gibt auch andere Stimmen. Gerade deshalb brauchen Linke im Land internationale Unterstützung für eine Gegenöffentlichkeit, auch wenn ihre politischen Strategien, Begriffe und Botschaften auf den ersten Blick nicht in das Schema der sehr aufgeheizten internationalen sowie deutschen linken Debatten zu passen scheinen.
Am Freitagmittag, dem 26. Januar, lief in vielen israelischen Haushalten der Fernseher oder das Radio mit einer Liveschalte aus Den Haag. Im öffentlich-rechtlichen Radiosender Kan Reshet Bet kommentierte beispielsweise die Moderatorin Liat Regev, gemeinsam mit einem Rechtsexperten von der Universität Tel Aviv, fortlaufend die Urteilsverkündung des dortigen Internationalen Gerichtshofs der UNO zum Antrag Südafrikas auf eine einstweilige Verfügung gegen Israel wegen der Gefahr eines Völkermordes im Zusammenhang mit dem aktuellen Krieg in Gaza. Es ging Regev dabei weniger um das, was gesagt wurde, sondern vielmehr darum, ob dies nun auf eine Entscheidung in die ein oder andere Richtung («Völkermord oder kein Völkermord?») hinweise.
Als eine Richterin des Gerichtshofs an einer Stelle minutiös die immense Zerstörung der Infrastruktur sowie die horrend hohen Todeszahlen im Gazastreifen infolge der israelischen Kriegshandlungen beschrieb, schreckte Regev auf, als ob dies per se ein Hinweis auf eine drohende Verurteilung Israels sei. Der Rechtsexperte an ihrer Seite beruhigte: Dies seien lediglich die Fakten, für die Hörer*innen bestehe also kein Grund zur Sorge – Sorge vor einer, wie es die meisten politischen Kommentator*innen in Israel sahen, historischen Tiefpunkt für den internationalen Ruf des Landes.
Nachdem das Urteil gefallen war – und damit auch die Anerkennung der Möglichkeit eines Völkermords durch das Gericht –, drehte sich der Großteil der Analysen in Israel darum, dass das Gericht Israel nicht zu einem Stopp des Militäreinsatzes aufgerufen hatte. Dass diese Entscheidung des Gerichts jedoch eine weitere Wegmarke darstellt in der internationalen Isolation des Landes, vor allem im sogenannten globalen Süden, wurde wenig thematisiert. Es schien, als habe die Erleichterung über das Ausbleiben der Forderung nach einem Stopp des Krieges die Feststellung überwogen, dass dieser Krieg eine genozidale Komponente haben könnte. Die Tatsache, dass sich die Klage Südafrikas in Den Haag auf das Verbrechen der Verbrechen» konzentrierte und nicht auf niedrigschwellig beweisbare Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, hat vielleicht ungewollt das Gefühl der Mehrheit der israelischen Bevölkerung verstärkt, vor Gericht «davongekommen» zu sein.
Keine Werbepause ohne Kriegsparole
Die Analysen und Kommentare des 26. Januar spiegeln die Isoliertheit der konservativen und liberalen Diskurse in Israel von der internationalen Debatte über den Krieg in Gaza wider. Seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober befindet sich Israel im Modus der permanenten Kriegssondersendungen. Das blau-weiß gestreifte Banner mit dem Motto «yachad nenazeach» («Gemeinsam werden wir gewinnen») wird alle paar Minuten eingeblendet, keine Werbepause vergeht ohne einen Bezug zum Krieg und zum propagierten nationalen Zusammenhalt.
Israel ist ein Land, in dem Nachrichtensendungen, ähnlich wie in den USA, weniger der Information, als der stundenlangen Unterhaltung dienen, und in dem die Grenzen zwischen Nachricht, Analyse und Meinung regelmäßig verschwimmen. Die Folge: Fast den ganzen Tag sitzen sogenannte Expert*innen aus den TV-Sendern – aus Militär, Politik, Wissenschaft, aber auch Angehörige israelischer Geiseln im Gazastreifen – in Fernsehstudios und diskutieren über das aktuelle Kriegsgeschehen und das innenpolitische Chaos, in dem sich das Land gerade befindet – und das fast ausschließlich aus jüdisch-israelischer Pro-Kriegs-Perspektive. Unterschiede gibt es lediglich in der Bewertung des Regierungshandelns und der – zweifellos elementaren – Frage, ob die Befreiung der Geiseln aus den Händen der Hamas oder die «totale Zerstörung» der Organisation das oberste Ziel von Regierung und Armee sein soll. Es entsteht somit ein sich selbst reproduzierender, isolationistischer Diskurs, der sich beinahe völlig von der Katastrophe, die sich gerade einmal 70 Kilometer südlich von Tel Aviv ereignet, abschottet, den Nachrichtenangeboten in anderen Teilen der Welt teils diametral entgegensteht und aus der die meisten (jüdischen) Israelis kaum noch herauskommen.
"Seit einigen Wochenenden finden Demonstrationen gegen den andauernden Kriegseinsatz Israels in Gaza statt."
Ganz selten bekommen die Zuschauer*innen dieser Dauersendungen Stimmen zu hören, die sich diesem Krieg und seinen unvorstellbaren Konsequenzen für die Palästinenser*innen im Gazastreifen entgegenstellen. Auch palästinensische Staatsbürger*innen Israels, die seit dem 7. Oktober mit erhöhter Repression und einer Einschüchterungskampagne konfrontiert sind, kommen kaum zu Wort. Hinzu kommt, dass linke palästinensische Knesset-Abgeordnete wie Ayman Odeh oder Ahmad Tibi aufgrund dieser Berichterstattung und des daraus resultierenden Klimas keine Einladungen in Fernsehstudios mehr annehmen. Wenn sich dann Kriegs- und Besatzungsgegner wie der Haaretz-Kolumnist Gideon Levy ins Studio wagen, dann bekommen sie in aller Regel weniger Redezeit als die anderen Gäste. Nicht selten greifen die Moderator*innen auch ein, wenn ihre Aussagen zu sehr an der Einigkeit der Kriegsbefürworter*innen kratzen.
Einsamer Kampf der Linken für Gegenöffentlichkeit
Die ohnehin marginalisierte israelische Linke und das Antikriegs- und Friedenslager führen in diesen Wochen einen einsamen Kampf für eine progressive, auf Frieden und egalitärer Partnerschaft basierende Gegenöffentlichkeit. Sie sehen sich mit einer überwältigenden kriegsbefürwortenden öffentlichen Meinung, einem sich weiter entmenschlichenden öffentlichen Diskurs über Palästinenser*innen und Kriegsgegner*innen und mit verstärkten polizeilichen Schikanen gegen geplante Antikriegsproteste konfrontiert. Aktivist*innen, die sich gegen den Krieg, für einen Waffenstillstand oder für eine jüdisch-palästinensische Partnerschaft auf Augenhöhe innerhalb Israels einsetzen, werden in den sozialen Medien massiv angefeindet und müssen sich genau überlegen, welche Statements sie überhaupt noch abgeben. Sie agieren in dem nationalistischsten Klima und unter der rechtsradikalsten Regierung, die es jemals im Land gab.
Dennoch gibt es auch und gerade in diesen düsteren Zeiten Solidaritätsinitiativen und Bündnisse, die verdeutlichen, dass es noch genügend Akteur*innen gibt, die an eine gemeinsame, sozial gerechte und egalitäre Zukunft für alle Menschen zwischen Mittelmeer und Jordan glauben. So finden seit einigen Wochenenden wieder jeden Samstagabend in den Großstädten Jerusalem, Tel Aviv und Haifa Demonstrationen gegen den andauernden Kriegseinsatz Israels in Gaza, die Eskalation der Siedlergewalt im Westjordanland, für eine sofortige Freilassung der israelischen Geiseln (auch durch einen Gefangenenaustausch) und für eine politische Lösung des Konflikts mit den Palästinenser*innen statt. Diese Demonstrationen werden von Bündnissen aus der israelischen Zivilgesellschaft getragen, die kürzlich auch ein Statement mit der Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand veröffentlichten. Anfang Februar fand zudem in Haifa eine Konferenz der jüdisch-palästinensischen Graswurzelbewegung «Standing Together» statt, für die mehr als 1.000 Menschen ins Kongresszentrum kamen, um gemeinsam Strategien für den Aufbau einer jüdisch-palästinensischen Massenbewegung in Israel zu diskutieren, die auf den Prinzipien der sozialen und Klimagerechtigkeit basiert.
Diese Initiativen, deren Ursprung bereits auf die Zeit vor dem 7. Oktober zurückgeht, könnten in Kürze auch auf der tagespolitischen Ebene Wirkung zeitigen. So bieten die wegen des Krieges mehrfach verschobenen Kommunalwahlen am 27. Februar eine Plattform für jüdisch-palästinensische Wahllisten, die sich aus zivilgesellschaftlichen Organisationen und Parteien zusammensetzen. In Tel Aviv-Jaffa etwa tritt mit Amir Badran erstmals ein palästinensischer Staatsbürger Israels für das Amt des Oberbürgermeisters an – als Teil einer linken Wahlliste, bestehend aus der linkssozialistischen Chadasch, der auf soziale Gerechtigkeit und jüdisch-palästinensische Partnerschaft begründeten Initiative «Ir Sgula» (Lila Stadt) und der Grünen Liste. Die Liste wurde als viertstärkste Fraktion in den Stadtrat von Tel Aviv-Jaffa gewählt, ein respektabler Erfolg trotz niedriger Wahlbeteiligung und der aktuellen Kriegssituation, die zu weiteren Spannungen zwischen jüdischen und palästinensischen Bürgern Israels beiträgt.
"Auch auf der Seite der ‹Unterdrücker› braucht es Alliierte, die sich der in ihrem Namen verursachten Unterdrückung entgegenstellen."
Trotz der immensen Bedeutung der lokalen Organisierung der unterschiedlichen Bewegungen vor Ort ist die israelische Linke fundamental auf politische Unterstützung und praktische Solidarität aus der internationalen Linken angewiesen – vorausgesetzt, diese erkennt die internen Herausforderungen dieser Akteur*innen an und sucht aktiv die Zusammenarbeit mit denjenigen, die die dramatische Lage im Land von innen heraus verändern wollen.
Es ist verständlich, dass angesichts der andauernden israelischen Angriffe auf die Palästinenser*innen in Gaza (und im Westjordanland) der Fokus der internationalen linken Proteste auf der Mobilisierung gegen dieses Unrecht liegt. Gleichzeitig ist es gerade auch in diesem asymmetrischen Konflikt wichtig, Alliierte auf israelischer Seite zu unterstützen, die sich der in ihrem Namen verursachten Unterdrückung entgegenstellen. Dass dieser Widerstand innerhalb Israels aus politischen und strategischen Gründen anders aussehen muss als international, darf dabei kein Grund sein, diese innere Opposition pauschal als nicht radikal genug und deshalb nicht unterstützenswert abzutun. Dies würde jedoch den Willen voraussetzen, neben all der Kritik an der historischen und gegenwärtigen Unterdrückung der Palästinenser*innen auch die komplexen Realitäten innerhalb Israels anzuerkennen und über das binäre Schema von Kolonisierenden und Kolonisierten hinaus zu denken. Denn für jede Lösung, die das gleichberechtigte Zusammenleben aller Menschen in Israel und Palästina zur Prämisse hat und sich der vorherrschenden Logik des Militarismus und Nihilismus widersetzt, braucht es eben auch die Solidarität mit Akteur*innen innerhalb Israels, die diese Vision gegen alle Widerstände weiterhin aufrechterhalten.
Dieser Artikel ist am 20.02.2024 ursprünglich in analyse & kritik erschienen.
Autor:in
Gil Shohat leitet seit März 2023 das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.