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"Keine Freiheit - kein High-Tech": High-Tech-Demonstrant*innen in der Kaplan Straße in Tel Aviv, Januar 2023. Foto: ZoHaDerech

Israels Tech-Kapital und die Protest­bewegung gegen Netanjahu

In den vergangenen Wochen waren in Israel die spektakulärsten Protestaktionen in der Geschichte des Landes zu beobachten. Zusätzlich zu den Samstagabendveranstaltungen mit Hunderttausenden Teilnehmer*innen beteiligten sich Zehntausende auch an werktäglichen «Störungen». Sie blockierten nicht nur die wichtigste Autobahn, sondern auch die Häfen von Aschdod und Haifa sowie den Ben-Gurion-Flughafen. Die Bewegung will die Ende Januar verkündete Justizreform des Justizministers Yariv Levin stoppen. Dabei brach sogar ein angeblich unantastbares Tabu der israelischen Gesellschaft: Tausende Militäroffizier*innen und Elitesoldat*innen teilten den Israelischen Streitkräften (IDF) mit, dass sie den freiwilligen Reservedienst verweigern würden, sollte die Reform verabschiedet werden.

Die Justizreform, die Gegner*innen als «Staatsstreich» bezeichnen, ist weitreichend. Netanjahus Gefolgsleute in der Knesset beabsichtigen unverhohlen, das Vetorecht des Obersten Gerichtshofs gegenüber dem Parlament per «Überstimmungsklausel» außer Kraft zu setzen, damit Netanjahu selbst nicht wegen seines laufenden Korruptionsverfahrens ins Gefängnis kommt. Sie wollen auch die Rechte von Frauen und LGBTQI+-Personen beschneiden, den Siedler*innen freie Hand bei der Übernahme palästinensischer Gebiete geben und das Streikrecht einschränken. Da Israel keine geschriebene Verfassung hat, räumt die Überstimmungsklausel der Knesset effektiv unbegrenzte Befugnisse ein. Sie kann auch das aktive und passive Wahlrecht festlegen, wodurch unmittelbar ein Wahlrechtsentzug für die palästinensischen Bürger*innen Israels droht.

Doch obwohl die Justizreform das Leben vieler, vielleicht sogar der meisten Israelis stark beeinträchtigen könnte, bilden die Protestierenden, ähnlich wie bei den früheren Protestwellen gegen Netanjahu, soziologisch gesehen eine eher homogene Bewegung. Wie die «Balfour» -Bewegung von 2021/22 wird vor allem die säkulare, größtenteils aschkenasische obere Mittelschicht mobilisiert, die nicht nur den extremistischen Siedler*innen des Westjordanlands, sondern auch Israels ärmster jüdischer Gemeinde, den ultraorthodoxen Haredim, weitgehend feindlich gesinnt ist. Die sich primär aus Mizrachim zusammensetzende jüdische Arbeiterklasse lässt sich zwar nur langsam zu Netanjahus Gunsten mobilisieren, unterstützt die Regierungskoalition jedoch weiter passiv. Israels palästinensische Bürger*innen wiederum werden verständlicherweise durch die Fetischisierung nationaler Symbole wie der Flagge und der Nationalhymne abgeschreckt und sitzen den Kampf aus.

Diese Rolle, die Ethnie und Klasse innerhalb der politischen Landschaft Israels spielen, wird informierten Leser*innen sicherlich vertraut sein. Am aktuellen Ausbruch des fortdauernden israelischen Kulturkampfs beteiligen sich jedoch neue, gewichtige Akteur*innen: Kapitalist*innen des IT-Sektors, der am schnellsten wachsenden Branche des Landes, sind dem Beispiel ihrer Angestellten gefolgt und engagieren sich in der Bewegung. Die Spitzen anderer wichtiger Wirtschaftsbereiche wie Energie, Chemie und Immobilien unterstützen den Protest zwar nicht, doch die Informationstechnologie ist für die israelische Wirtschaft so wichtig, dass allein die Drohung eines Investitionsstopps in diesem Bereich den Aktienmarkt ins Wanken brachte. Internationale Ratingagenturen sprachen Warnungen aus, und einzelne Vertreter*innen des Finanzministeriums schätzten die volkswirtschaftlichen Kosten der Reform als hoch ein. Wenn die Protestbewegung die Justizreform verhindern kann – und das scheint immer wahrscheinlicher , wird dieser Wirtschaftskrieg entscheidend gewesen sein.

Warum aber beteiligt sich Israels Hightech-Branche so aktiv an den Protesten? Das von ihnen selbst vorgebrachte Argument, dem Tech-Sektor gehe es um die Erhaltung  demokratischer Strukturen, ist mit Vorsicht zu genießen: Wie Malcolm Harris in seiner umfassenden Geschichte des Silicon Valley zeigt, war die IT-Branche immer eng mit dem kapitalistischen Staat verflochten und versorgte ihn eifrig mit Unterdrückungs- und Überwachungsinstrumenten, um im Gegenzug nur wenig Regulierung und etliche Monopolgewinne zu erhalten.[1] Ähnliches gilt für das «Silicon Wadi» (arabisch für «Tal»), das es ohne direkte staatliche Subventionen nicht zu weltweiter Bekanntheit gebracht hätte,[2] sowie für die indirekte Unterstützung durch das israelische Militär, das den hochrangigen Beschäftigten der Branche hochmoderne technische Schulungen bietet. Was die staatlichen Ressourcen für solche Schulungen und die Erprobungsräume für IT-Produkte in den Bereichen Sicherheit und Bewaffnung angeht, sind die IDF auf die fortgesetzte militärische Besetzung der palästinensischen Gebiete angewiesen. Im äußerst prekären Zustand der aktuellen Weltwirtschaft verschrecken die Untergangsprophezeiungen der Tech-Kapitalist*innen womöglich Investor*innen und erweisen sich somit als selbsterfüllend, aber damit ist nicht bewiesen, dass die Reformen selbst profitschädlich wären. Um die Beteiligung der IT-Branche an der Protestbewegung zu verstehen, müssen wir uns ein differenzierteres Bild von ihrer Rolle in der sozioökonomischen Landschaft Israels machen.

Ein Merkmal der Weltordnung, die vom IT-Kapital vorangetrieben wird, ist das, was Harris als «Aufspaltung» (Bifurcation) bezeichnet: die Herausbildung einer Gruppe von Facharbeiter*innen in der Tech-Branche, die von hohen Löhnen, Aktienoptionen und steigenden Immobilienwerten profitieren, wodurch sie sich, anders als frühere Arbeiteraristokratien, nicht für breite Bündnisse innerhalb der Arbeiterklasse interessieren. In Israel versorgt das Militär die Branche weiterhin mit den allermeisten hochqualifizierten Facharbeiter*innen. Elitäre Auswahlverfahren sorgen zudem dafür, dass Arbeitsplätze im IT-Sektor in erster Linie den Söhnen und (in weit geringerem Maße) den Töchtern der säkularen aschkenasischen Gründungselite des Staates zufallen. Die meisten Angehörigen dieser Schicht verbleiben zwar außerhalb der Branche und wählen andere berufliche Schwerpunkte in Bereichen wie Gesundheit und Wissenschaft, doch zunehmend lassen sie sich vom Geld und den Privilegien innerhalb des Sektors anziehen. Die meisten säkularen aschkenasischen Jüdinnen und Juden in Israel haben enge Verbindungen zur Tech-Branche,[3] und wer ein schuldenfreies Zuhause in Zentralisrael besitzt – was auch mit ethnischen Privilegien verbunden ist – hat enorm vom durch Tech-Gewinne getriebenen Immobilienboom profitiert.

Israels Tech-Klasse hat bestimmte weltanschauliche Grundgedanken von ihren ausdrücklich nicht technikaffinen Eltern übernommen. Im Kulturkampf der israelischen Politik seit den 1970er Jahren steht sie klar auf der Seite des «Ersten Israel», der Gründungselite, die früher nicht nur die wirtschaftliche Orientierung, sondern auch die Agenda der entwicklungspolitischen Verwestlichung vorantrieb, und blind war für die eigene koloniale Rolle im Nahen Osten und die kulturelle Ausgrenzung von Mizrachim und anderen religiösen Jüdinnen und Juden oder palästinensischen Bürger*innen. Mit der Regierungsübernahme des Likud durch Stimmen des «Zweiten Israel» der Mizrachim im Jahr 1977, wurde das Ende dieser Ära eingeläutet, obwohl erst während der Netanjahu-Jahre ab 2009 eine religiös und ethnisch hybride Vision der Israelität (die weiterhin die Palästinenser ausschloss) kulturelle Hegemonie erlangte. Durch Grundbesitz und eine neu gewonnene IT-Verbundenheit konnte das «Erste Israel» seine enorme wirtschaftliche Macht bewahren, und seine ererbte Neigung zum Liberalismus, zur Technokratie und «zum Westen» wiesen eine erhebliche Schnittmenge mit der kalifornischen Ideologie auf.

Allerdings bietet diese Ideologie den meisten anderen Israelis noch recht wenig. Die Kehrseite von Harris’ «Aufspaltung» ist neben der Nerd-Aristokratie eine immer größer werdende Bevölkerungsgruppe, die vom geschaffenen Mehrwert der Branche gänzlich ausgeschlossen ist und Niedriglohndienstleistungen erbringen muss, auch in der technologiegestützten Gig-Ökonomie, die auf verstärkter Ausbeutung beruht. In Israel konnte die starke Lobby der Taxifahrer*innen im Likud bislang entgegen den Bemühungen von Giganten wie Uber die Ausbreitung der Gig-Ökonomie im Straßenverkehr verhindern, während es im weniger organisierten Sektor der Lebensmittellieferung zur Verbreitung von Niedriglohnarbeit, prekären und unsicheren Beschäftigungsverhältnissen kam (aber auch zu einem leichten Anstieg organisierter Arbeiter*innen). Wer für Wolt Motorrad fährt oder an der Kasse der Discounter-Kette «Rami Levy» arbeitet, hat durch die Justizreform nichts zu gewinnen. Doch während der Oberste Gerichtshof die bürgerlichen Freiheiten verteidigte, bot er keinen Schutz vor den negativen Auswirkungen der wirtschaftlichen Umstrukturierung. So erklärt sich die Gleichgültigkeit der prekär Beschäftigten gegenüber einer möglichen Außerkraftsetzung der höchstrichterlichen Entscheidungen durch die Knesset. Wenn die politische Landschaft radikale Veränderungen ausschließt, wird Schadenfreude zur politischen Motivation.

In ihrer aktuellen Analyse einer ähnlichen politischen Polarisierung in den USA behaupten Dylan Riley und Robert Brenner, dass in der heutigen Wirtschaftsordnung eine klassenbezogene Mobilisierung eher durch die strategische Zusammenarbeit der Klassen ersetzt wird, wobei die Demokratische Partei Bildungsgrade verteidigt und die Republikaner*innen sie ablehnen.[4] Das gilt auch für Israel, aber hier bestimmt primär die soziale Herkunft und erst in zweiter Linie die Hochschulbildung – die weitgehend öffentlich, relativ erschwinglich und relativ offen für Mizrachim und palästinensische Bürger*innen ist – die parteipolitische Ausrichtung und die Nähe zur IT-Branche. Das israelische Tech-Kapital vertritt nicht seine von der Reform kaum bedrohten finanziellen Interessen, wenn es sich in der Protestbewegung gegen Netanjahu hinter seine Beschäftigten stellt, sondern es verteidigt ein indirektes Interesse an der staatlich subventionierten Reproduktion seiner privilegierten Belegschaft – die zu einem großen Teil von ihrer anhaltenden kulturellen Vormachtstellung und von der fortgesetzten Kolonialisierung abhängt.

Die Ziele der Protestbewegung sind zwar nicht unmittelbar dem Bedürfnis der Kapitalakkumulation untergeordnet, doch die Zusammenarbeit der Klassen in der Bewegung, ihre positive Haltung gegenüber der disziplinierenden Macht des Kapitals und ihre Ablehnung jedes Versuchs, demokratische Forderungen auch auf die besetzten Gebiete zu beziehen, deuten auf ihre ethnisch und klassenmäßig begrenzte Basis hin, was die Möglichkeit ausschließt, eine alternative gesellschaftliche Gruppe an die Macht zu bringen, selbst wenn es ihr gelingt, die Reform zu stoppen und die Netanjahu-Regierung zu stürzen. Das würde wie 2021 zu einer «Regierung des Wandels» führen, einer äußerst schwachen Koalition, die nicht mit den ihr weltanschaulich nahen palästinensischen Parteien der Gemeinsamen Liste zusammenarbeiten wollte und nach einem guten Jahr an der Macht Netanjahus Attacken von rechts zum Opfer fiel.

Das heißt nicht, dass es für Israels Linke sinnlos wäre, sich mit der Bewegung zu befassen. Sie hat auf den Protesten sogar palästinensische Flaggen gezeigt und sich mit fortschrittlichen wirtschaftlichen Forderungen eingebracht. Sicherlich bewirkte die enthusiastische Unterstützung der Justizreform durch extremistische Siedler*innen und das libertäre Kohelet-Forum – ein rechter Thinktank, der sich der Sicherung der Zukunft Israels als alleine Heimstätte des jüdischen Volkes verschreibt –, dass einige Protestierende auf die zerstörerischen Einflüsse des Rassismus und des Neoliberalismus aufmerksam wurden, und wie bei früheren Protestwellen ist auch von dieser zu erwarten, dass sich eine Minderheit der Beteiligten radikalisiert. Doch trotz der Kritik an der «jüdischen Vorherrschaft», wie sich eine Führungsfigur der Proteste kürzlich ausdrückte, setzte sich die hurrapatriotische Aneignung zionistischer Symbole fort und wird sich im Vorfeld des 75. Unabhängigkeitstages Israels Ende April voraussichtlich noch verstärken. So steht auch zu erwarten, dass die Bewegung im leider wahrscheinlichen Fall von Gewaltereignissen anlässlich der sich überschneidenden Ramadan- und Pessachfeiertage ihre Flaggen zusammenfaltet und zu den Einberufungszentren aufbricht. Denn dieser Kampf richtet sich nicht gegen die Besatzung oder den Rassismus in der israelischen Gesellschaft, und schon gar nicht gegen den Kapitalismus.

Übersetzung aus dem Englischen von Gegensatz Translation Collective

Anmerkungen

[1] Malcolm Harris, Palo Alto: A History of California, Capitalism, and the World (New York: Little, Brown and Company, 2023).

[2] Erez Maggor, «The Politics of Innovation Policy: Building Israel’s ‚Neo-Developmental‘ State,», Politics & Society 49, Nr. 4 (1. Dezember 2021),S. 451–487.

[3] Dabei handelt es sich um eine persönliche Beobachtung aus meinem eigenen sozialen Umfeld. Zu diesem Thema liegen keine quantitativen Daten vor.

[4] Dylan Riley und Robert Brenner, «Seven Theses on American Politics», New Left Review, Nr. 138 (21. Dezember 2022): 5–27.

Autor:in

Dr. Matan Kaminer ist Anthropologe und Postdoktorand am Stiftungsfonds Martin-Buber-Gesellschaft an der Hebrew University, und Mitglied mehrerer politischer Initiativen, darunter Academia for Equality und LeftEast.