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Der Skandal um die verschwundenen Kinder

Das Verschwinden Tausender Kleinkinder vornehmlich jemenitischer Abstammung aus staatlichen Gesundheitsinstitutionen in den 1950er Jahren wurde lange vertuscht. Die Aktivistin Naama Katiee über die rassistischen Hintergründe dieses Skandals und den Kampf der betroffenen Familien um Gerechtigkeit.

Infobox

Während der ersten Jahre nach der Staatsgründung, insbesondere in den 1950er Jahren, verschwanden in Israel Tausende Säuglinge und Kleinkinder, die aus Jemen, aber auch aus anderen Ländern im Nahen Osten, in Nordafrika und auf dem Balkan stammten. Die genaue Anzahl der verschwundenen Kinder ist umstritten; nach den verschiedenen Schätzungen waren es zwischen 1.500 und 5.000. Die Familien von insgesamt 1.053 Kindern haben deswegen bei israelischen Behörden Beschwerde eingereicht. In 1.033 Fällen sind die Kinder in Israel verschwunden, in den übrigen 20 Fällen verschwanden sie in einem Übergangslager in Chasched in Jemen, kurz vor der Übersiedelung ihrer Familien nach Israel.

Zu dieser Zeit verließen zirka 50.000 Juden und Jüdinnen den Jemen und wanderten nach Israel aus in einer Operation, die die Bezeichnung auf «Auf Adlerflügeln» oder «Fliegender Teppich» trug. Die meisten Kinder waren zum Zeitpunkt ihres Verschwindens nicht älter als vier Jahre. Laut Register der israelischen Behörden befanden sich unter den damals aus Jemen eingewanderten Menschen 5.824 Kinder in dieser Altersgruppe. Rund 700 der Beschwerden über verschwundene Kinder sind von jemenitischen Familien eingegangen. Mit anderen Worten: Jedes achte Kind von aus Jemen stammenden Familien verschwand damals. Diese Zahlen sind noch beunruhigender, wenn man bedenkt, dass sie sich auf einen relativ kurzen Zeitraum beziehen: nämlich Ende 1948 bis Mitte 1950, als sich die meisten der betroffenen Familien in sogenannten Übergangslagern befanden. Aufgrund der schwierigen Bedingungen in den Lagern für Übersiedler in Jemen und anderswo waren viele der Kinder und Säuglinge in einem schlechten gesundheitlichen Zustand und litten zum Teil unter Unterernährung. Auch in Israel waren dies harte Jahre, in denen Lebensmittel rationiert wurden und die medizinische und logistische Infrastruktur eher mangelhaft war. Obwohl im jungen Staat Israel auch die Verwaltung noch nicht gut funktionierte, ist das Verschwinden mehrerer Tausend Kleinkinder wohl nicht mit bürokratischen Schwächen zu erklären. Vielmehr ist von einem rassistischen Hintergrund auszugehen.[1]

«Es war schon 8 Uhr, als plötzlich drei Leute kamen, zwei Frauen und ein Mann. Der Mann hatte einen langen Bart und eine Glatze und die beiden Frauen waren ungefähr 40 bis 45 Jahre alt. Sie sprachen Jiddisch und nahmen die Kinder mit. Wir fragten: Wohin bringt ihr die Säuglinge? Sie sagten: Wir bringen sie zum Arzt. Wo? In Be‘er Ja’akow. Wann bring Ihr sie zurück? In zwei bis drei Wochen. Ich saß und hielt das Baby in meinen Armen. Sie gingen mit 14 Säuglingen weg. Ich sagte, gut dass sie gehen. Wenn sie zu mir reinkämen, würde ich mein Kind nehmen und weglaufen. Plötzlich kamen die beiden Frauen zurück und sagten: Gib mir Dein Baby. Ich sagte: Das mache ich nicht. Gib mir Dein Baby! Ich hielt mein Kind ganz fest. Eine von ihnen kam und hielt mir die Hände fest, die zweite hat das Baby an sich gerissen und ist damit weggelaufen.» Dieser Augenzeugenbericht der mittlerweile verstorbenen Naomi Gabra wurde im Rahmen der populären israelischen Fernsehdokumentation «Uwda» [Fakt] von Ilana Dayan 1996 aufgezeichnet.

Naomi und Avraham Gabra waren 1949 zusammen mit anderen Verwandten aus dem Jemen nach Israel gekommen und waren dort in dem Lager Ein Schemmer untergebracht worden. Ungefähr zwei Monate nach ihrer Ausreise wurde ihr Sohn Zion geboren. Wie andere Mütter auch wurde Naomi Gabra gebeten, Zion im örtlichen Babyhaus zu lassen. Sie musste mit ansehen, wie er dort von einer Fremden mitgenommen wurde. Im Laufe der Jahre wandten sich die Eltern wiederholt an Untersuchungskommissionen, aber sie erhielten nie eine Auskunft, was mit ihrem Sohn Zion geschehen ist.

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Immigrationslager jeminitischer Einwander*innen, Rosh Ha’ayin, Israel, 1950.Foto: GPO

Hintergrund

Der Augenzeugenbericht über die Entführung von Zion Gabra ist keine Ausnahme. Es existieren Tausende von solchen Berichten. In den ersten Jahren nach der Staatsgründung, als viele Menschen aus «orientalischen» Ländern nach Israel einwanderten, wurden Tausende von Säuglingen und Kleinkindern ihren Familien weggenommen, insbesondere Familien, die vorher im Jemen oder in anderen arabischen Ländern gelebt hatten und damals in Übergangslagern untergebracht waren. Die Augenzeugenberichte enthalten immer wieder die gleichen Elemente: Die Eltern werden gebeten, die Kinder im Baby- oder im Krankenhaus zu lassen und nach Hause zu gehen. Nach ein paar Tagen wird ihnen mitgeteilt, dass ihr Kind gestorben sei, ohne dass ihnen die Möglichkeit gegeben wird, den Leichnam oder das Grab zu sehen und auch ohne dass die Eltern ein amtliches Dokument (wie zum Beispiel einen Totenschein oder eine Bestattungsbescheinigung) erhalten, aus dem hervorgeht, dass ihr Kind gestorben ist. Gesuche der Eltern, ihr Kind beerdigen, den Leichnam sehen zu dürfen oder eine amtliche Todesbescheinigung zu erhalten, wurden abgewiesen und verächtlich abgetan. In ihrer Not wandten sich die Eltern an die Verantwortlichen in den Übergangslagern, beschwerten sich bei der Polizei und schrieben mit Hilfe von leitenden Gemeindemitgliedern an die verschiedenen Institutionen – aber sie wurden ignoriert oder erhielten höchstens unzulängliche Antworten.

Untersuchungskommissionen – das Vertuschen durch die Institutionen

Erst 1967, nachdem viele der Familien Einberufungsbefehle zum Armeedienst für ihre angeblich verstorbenen Kinder erhalten hatten, wurde die erste offizielle Untersuchung eingeleitet. Die sogenannte Bahlul-Minkowski-Kommission ermittelte in einigen Hundert Fällen und kam zu dem Schluss, dass die meisten dieser Kinder gestorben waren. Nach langen Auseinandersetzungen wurde 1988 eine weitere Untersuchungskommission eingesetzt, die Schalgi-Kommission, die zu ähnlichen Ergebnissen gelangte. Beide Kommissionen wurden in der Öffentlichkeit stark kritisiert, unter anderem, weil sie keine offiziellen staatlichen Untersuchungskommissionen und nicht befugt waren, das Vorgehen des Establishments[2] zu untersuchen. Erst nach dem hartnäckigen Kampf des Rabbiners Uzi Meschulam, der große Medienaufmerksamkeit auf sich zog, wurde im Jahr 1995 die erste offizielle staatliche Untersuchungskommission eingesetzt, um die Angelegenheit zu untersuchen.

Uzi Meschulam hatte bereits in den 1970er Jahren mit seinem kompromisslosen Kampf um Aufklärung begonnen. Er deckte den rassistischen Hintergrund dieser Praxis auf, die sich über Jahrzehnte hin erstreckt hatte. Er fand zudem heraus, dass nicht nur Kinder von aus Jemen eingewanderten Familien verschwunden sind, sondern auch von anderen Mizrachim-Familien. Meschulam sprach von einer «Entführungsaffäre, die Kinder aus dem Jemen, dem Orient und dem Balkan betrifft». Im April 1994 umstellte die Polizei im Zuge einer Auseinandersetzung mit einem lokalen Handwerker das Haus von Meschulam. Die Situation eskalierte, und der Gebäudekomplex wurde für ungefähr zwei Monate abgeriegelt, während die Polizei mit dem Rabbiner und seinen bewaffneten Anhänger*innen verhandelte, bis sie übereinkamen, dass Meschulam für ein Gespräch mit dem Polizeichef das Haus verlassen sollte. Ihm wurde zugesagt, danach wieder ungehindert nach Hause zurückkehren zu können, doch der Polizeichef hielt sein Versprechen nicht, Meschulam wurde verhaftet, sein Haus durch die Polizei gestürmt. Dabei wurde ein Schüler Meschulams, Schlomi Assouline, von einem Scharfschützen der Polizei erschossen. Meschulam wurde zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er fünf Jahre abbüßte. Wegen seines sehr schlechten Gesundheitszustandes wurde Meschulam 1999 aus der Haft entlassen, unter der Auflage, dass er sich nicht zu der Affäre der verschwundenen Kinder äußert. Meschulam starb 2013 im Alter von nur 60 Jahren. Ohne die beharrlichen Bemühungen von Rabbiner Meschulam und seiner Anhänger*innen hätte es 1995 nicht die Einrichtung der ersten offiziellen staatlichen Untersuchungskommission zur Aufklärung des Skandals der verschwundenen Kinder gegeben.

Die staatliche Cohen-Kedmi-Untersuchungskommission

Die Cohen-Kedmi-Kommission hat 1.053 Fälle untersucht, einschließlich derjenigen, die bereits von den drei vorhergehenden Kommissionen geprüft worden waren. Hierzu gehörten auch die Fälle von 20 Kindern, die in dem vom Joint[3] verwalteten Übergangslager in Chasched von ihren Eltern getrennt worden waren. Ungefähr 70 Prozent der Beschwerden über verschwundene Kinder wurden von aus Jemen eingewanderten Familien eingereicht, 26 Prozent von Familien, die aus anderen «orientalischen» Ländern kamen, und zirka 4 Prozent von Familien, die vom Balkan stammten. In den allermeisten Fällen (ca. 85 Prozent), die von der Kommission untersucht wurden, ging es um Kinder, die zum Zeitpunkt ihres Verschwindens noch kein Jahr alt waren. Die Kommission beschränkte sich bei ihren Ermittlungen auf den Zeitraum von 1948 bis 1954. Entführungen, die sich später ereigneten oder bei denen die Opfer ältere Kinder oder gar Erwachsene waren, wurden nicht untersucht, mit der Begründung, dies fiele nicht in den Aufgabenbereich der Kommission.

Die Kommission hörte Hunderte von Familien, Dutzende von Krankenschwestern, Ärzten, Regierungsbeamten und andere Funktionäre an. Im Gegensatz zu dem verächtlichen Ton und der skeptischen Haltung, die den betroffenen Familien bei ihrer Anhörung entgegengebracht wurde, wurden die Zeug*innen des Establishments mit Verständnis und Respekt behandelt. Einige der Vorgeladenen machten sich nicht einmal die Mühe, zur Zeugenaussage zu erscheinen. Wenn sie aussagten, verzichteten die Mitglieder der Kommission auf eine ernsthafte Befragung zu deren persönlichen Rolle in der Affäre. Empfehlungen, die Ermittlungen in verschiedene Richtungen auszuweiten, wurden einfach ignoriert. Für das Verständnis der Ereignisse entscheidende Archivdokumente verschwanden oder wurden just zu dem Zeitpunkt vernichtet, als die Kommission ihre Arbeit aufnahm. Die Aktenvernichtung geschah wohl entgegen ausdrücklicher Anweisungen, aber die Kommission erachtete es nicht für notwendig zu klären, was genau mit den Unterlagen passiert ist. Vor der Kommission sagten Dutzende von Familien aus, denen es gelungen war, ihre Kinder zurückzubekommen, obwohl diese von den Behörden für tot erklärt worden waren. Die Kommission sprach in diesem Zusammenhang von «Missverständnissen und fehlender Kommunikation zwischen den behandelnden medizinischen Teams und den Eltern».

Im Jahr 2001, sechs Jahre nach ihrem Arbeitsbeginn, veröffentlichte die offizielle staatliche Untersuchungskommission ihre Ergebnisse, aber auch diese brachten den Familien keine hinlänglichen Antworten auf ihre vielen Fragen. Die Kommission kam zu dem Schluss, dass die meisten Kinder «mit großer Sicherheit» gestorben und ohne Kenntnis der Eltern begraben worden seien. Aber die staatlichen Stellen teilten nur in einem Drittel der Fälle den Familien den Ort mit, wo ihre Kinder angeblich begraben wurden. Als einige dieser Familien beantragten, diese Gräber öffnen zu lassen, um die Identität der dort Begrabenen zu überprüfen, lehnten die Behörden dies zunächst ab. Erst nachdem die Familien gegen die Ablehnung geklagt hatten, ließen die staatlichen Stellen zehn Gräber öffnen. Nur in einem Fall konnte anhand einer DNA-Probe festgestellt werden, dass die im Grab befindlichen sterblichen Überreste von einer Person stammen, die mit Sicherheit mit der Familie, die nach ihrem Kind suchte, verwandt war. In den anderen neun Fällen, so die Behauptung der Behörde, sei eine solche Untersuchung nicht möglich gewesen.

Die Kommission zog das Fazit, es sei kein «organisiertes» Vorgehen der offiziellen Stellen zu erkennen, allenfalls könne man ihnen eine bedauerliche Fahrlässigkeit nachsagen. Erstaunlicherweise sah die Kommission keinen Widerspruch zwischen dieser Feststellung und ihrer Schlussfolgerung die Register und Dokumente eben dieser Stellen ließen «mit Sicherheit» darauf schließen, dass die meisten verschwundenen Kinder verstorben seien. Wenn damals wirklich «Fahrlässigkeit» und «Unordnung» geherrscht hat, wie kann dann auf Grundlage der Register und Dokumente aus dieser Zeit eine solche Aussage getroffen werden? Wie Professor Boaz Sangero in seiner Kritik an den Untersuchungsergebnissen erklärt, ging die Kommission von einem «fehlenden Anfangsverdacht» aus und hat praktisch alles getan, um das Establishment zu entlasten.

Zugleich hat die Kommission nichts unversucht gelassen, um den Opfern selbst erhebliche Mitschuld am Verschwinden ihrer Kinder zuzuweisen. So heißt es in ihrem Abschlussbericht: «Die Familien hätten aufpassen und dafür Sorge tragen müssen, dass die Kinder nach ihrer Gesundung aus dem Krankenhaus wieder zurückkommen, oder falls die Kinder gestorben sind, hätten die Familien sich um ihre Beerdigung kümmern müssen.» Dies ist eine skandalöse Aussage und eine besonders schwerwiegende Form von victim blaming. Die Familien, die damals gerade erst ins Land gekommen waren, die keinerlei Ressourcen oder Verbindungen hatten und nicht einmal Hebräisch sprachen, wurden für das Verschwinden ihrer Kinder aus staatlichen Institutionen verantwortlich gemacht, während das mächtige Establishment und der Staat fast vollständig von ihrer Verantwortung freigesprochen wurden. Die Ergebnisse der Kommission haben die Familien entmutigt und jedes Vertrauen in das Establishment genommen. Die Kommission hat nicht nur «festgestellt», es habe keinerlei Entführungen gegeben und damit die Familien zu verrückten Spinnern erklärt. Selbst in den Fällen, in denen sie anerkennen musste, es habe «gelegentliche Übergaben zur Adoption» gegeben, versuchte sie noch, den betroffenen Eltern hierfür eine Schuld anzulasten.

Nach der Veröffentlichung des Berichts der Kommission wurden alle für die Ermittlungen relevanten Dokumente im Staatsarchiv verschlossen, wobei für einen Teil der Unterlagen eine Sperrfrist von 70 Jahren gilt. Das ist eine außergewöhnlich lange Sperrfrist, wenn man bedenkt, dass es bei der Untersuchung um Ereignisse aus der Zeit der Staatsgründung (1948) geht. Wir haben die Verantwortlichen des israelischen Staatsarchivs kontaktiert, aber bis heute konnte niemand eine klare Auskunft darüber geben, wer diese lange Sperrfrist festgelegt hat und warum.

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"Anerkennung, Gerechtigkeit,Heilung" Protest für die Aufklärung der Affäre um die verschwundenen jeminitischen Kinder, Jerusalem 2017. Foto: Activestills

Der Kampf um Aufklärung geht weiter

Jahrelang haben die Familien vergeblich darum gekämpft zu erfahren, was mit ihren Kindern geschehen ist. Aber das Establishment begegnete den Beschwerden der Familien lange mit Skepsis und Verachtung, und die diversen Untersuchungskommissionen begnügten sich mit oberflächlichen und nachlässigen Ermittlungen.

Als Antwort darauf habe ich mit einigen anderen Mizrachim-Aktivist*innen die Organisation Amram gegründet. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die öffentliche Debatte über die entführten Kinder und die Hintergründe dieses Skandals – nämlich den gesellschaftlichen und institutionellen Rassismus in den Jahren nach der Staatsgründung – neu zu entfachen. Dieser Rassismus bildete die ideologische Legitimation dafür, den Eltern ihre Kinder wegzunehmen. Die daran beteiligten Behörden und Institutionen taten dies wohl in der Annahme, dass es für Kinder von Mizrachim besser sei, in anderen Familien aufzuwachsen. Bei Amram gehen wir davon aus, dass ein vom Establishment begangenes Verbrechen nicht vom Establishment selbst untersucht, schon gar nicht hinter verschlossenen Türen aufgeklärt werden darf. Zudem ist Vorsicht beim Umgang mit staatlichen Registern, Dokumenten und Unterlagen geboten. Sie sind nicht immer und unter allen Umständen zuverlässige Beweise und Informationsquellen. Wir fordern die israelische Gesellschaft dazu auf, endlich anzuerkennen, dass das Establishment an einem Verbrechen beteiligt war. Deswegen ist es wie ein Angeklagter zu behandeln ist und darf nicht die Funktion des Ermittlers und Richters übernehmen.

Im Jahr 2014 wurde zum ersten Mal ein ganzer Tag der Aufklärung des Schicksals und dem Gedenken an die entführten Kinder von Familien aus Jemen, anderen «orientalischen» Ländern und dem Balkan gewidmet. Überall in Israel fanden Vorträge und Tagungen statt, mit denen die betroffenen Familien eine Plattform erhielten. Im Laufe der letzten Jahre haben Hunderte von Familien unserer Organisation Augenzeugenberichte über die damaligen Ereignisse zukommen lassen. Wir haben diese Berichte in hebräischer und englischer Sprache in ein Online-Archiv hochgeladen, um den Familien und den Adoptierten bzw. Entführten zu ermöglichen, einander zu finden, und um der israelischen Öffentlichkeit Informationen direkt zugänglich zu machen, ohne die Intervention des Establishments. Wir haben zudem in Zusammenarbeit mit einer privaten Firma im Ausland dafür gesorgt, dass Familien und Adoptierte mithilfe von DNA-Untersuchungen feststellen können, ob sie mit einander verwandt sind. In einigen glücklichen Fällen ist es zu einer Familienzusammenführung gekommen. Im Frühjahr 2016 wandten wir uns zusammen mit der Organisation «Ärzte für Menschenrechte – Israel» mit der Forderung an den Rechtsberater der Regierung, das Archivmaterial der offiziellen staatlichen Untersuchungskommission öffentlich zugänglich zu machen, was Ende des Jahres 2016 für einen Großteil der Unterlagen beschlossen wurde. Minister Tzachi Hanegbi, der für die Freigabe der unter Verschluss gehaltenen Dokumente der Untersuchungskommission verantwortlich war, erklärte hierzu: «Hunderte von Kindern wurden bewusst ihren Familien geraubt.»

Das Archivmaterial der Kommission umfasst Zeugenaussagen von Krankenschwestern und anderem Personal, die belegen, dass Kinder in der Tat von ihren Eltern unter falschen Vorwänden getrennt und anderen Personen übergeben wurden, und dass dies auf «Anordnung von oben» geschah. Andere Unterlagen dokumentieren, dass manche der medizinische Behandlungen nachlässig bis kriminell waren und gegen grundlegende ethische Standards verstießen. Sie zeigen zudem, dass medizinische Eingriffe an Einwanderer*innen ohne deren Zustimmung oder Wissen vorgenommen wurden, bei denen unklar ist, ob sie den Patient*innen helfen oder vielmehr der medizinischen Forschung dienen sollten. Die Mitglieder der Kommission haben diesen belastenden Zeugenaussagen und Dokumenten keine weitere Beachtung geschenkt. Im Abschlussbericht der Kommission finden sie noch nicht einmal Erwähnung.

Mit dem Wiederaufleben der öffentlichen Debatte wächst die Zahl der Zeugenberichte vonseiten der betroffenen Familien, aber auch von damaligen (Mit-)Täter*innen, die neues Licht auf die Affäre werfen und dabei den Schlussfolgerungen der Untersuchungskommission widersprechen. Von den zirka 700 Fällen, auf die sich die Zeugenberichte beziehen, die wir in den letzten drei Jahren gesammelt und der Öffentlichkeit über das Online-Archiv von Amram zugänglich gemacht haben, sind nur etwa ein Fünftel in den Kommissionen untersucht worden. Anscheinend haben sich die meisten Familien nicht an die offiziellen Stellen gewandt, sei es wegen ihrer starken Scham- und Schuldgefühle, die im Laufe der Jahre durch das Establishment geschürt wurden, oder wegen mangelnden Vertrauens in staatliche Instanzen. Die Zeugenberichte zeigen aber: Das Ausmaß des damals stattgefundenen Unrechts ist noch größer als gedacht. Es sind insgesamt wohl fast 5.000 Kinder von ihren Eltern getrennt worden und verschwunden (was der Schätzung von Rabbiner Uzi Meschulam entspricht), und das in einem Zeitraum, der sich von den 1930er bis in die 1970er Jahre hinein erstreckte.

Wie konnte ein solches Unrecht geschehen?

Um dies zu verstehen müssen wir uns die damals vorherrschende Atmosphäre und Weltanschauung allgemein und insbesondere in Israel vergegenwärtigen. Die aus dem «Orient» und insbesondere aus dem Jemen eingewanderten Menschen wurden als primitiv und ignorant angesehen. Man sprach ihnen die Fähigkeit ab, Vermögen zu besitzen und ihre Kinder vernünftig großziehen zu können. Bis zur Staatsgründung wurden die aus Jemen stammenden Menschen im Jischuw auf schändliche Weise behandelt. Dies zeigt zum Beispiel die Vertreibung 1929 von aus Jemen stammenden Bewohner*innen einer Ortschaft am Ufer des Sees Genezareth, in der sie seit 1912 lebten – zugunsten europäischer Juden und Jüdinnen, die in direkter Nähe 1913 einen Kibbuz geründet hatten. Ein weiteres Beispiel hierfür ist die Misshandlung von aus Jemen stammenden Frauen (die sogenannte Makov-Affäre), die Dan Almagor in seinem Gedicht «Trockene Zweige» verewigt hat.[4] Die rassistische Haltung gegenüber den jemenitischen Einwanderer*innen bestand auch nach der Staatsgründung fort. Ihnen wurden bei ihrer Übersiedelung Kulturgüter und Wertgegenstände weggenommen und nie zurückgegeben, darunter Manuskripte, religiöse Gegenstände, Schmuck und Kunstwerke. Ihre Kultur wurde als rückständig bezeichnet und als Bedrohung für den «neuen jüdischen Menschen» im jungen Staat Israel. Diese Geringschätzung kam auch darin zum Ausdruck, dass man meinte, ihnen das Recht auf ihre eigenen Kinder vorenthalten zu können. «Nach 40 Jahren bin ich nur froh, dass mein Kind eine gute Erziehung erhalten hat», erklärte die ehemalige Oberschwester Sonja Milstein bei ihrer Anhörung vor der staatlichen Untersuchungskommission, nachdem sie die Säuglinge der aus Jemen stammenden Eltern als «Kadaver» und «Bündel» bezeichnet hatte. Ahuva Goldfarb, die damals die Sozialdienste der Jewish Agency im ganzen Land beaufsichtigte, sagte in einem Interview mit dem Journalisten und Forscher Avner Farhi, viele Kinder seien im Übergangslager in Aden und dann auch in Israel verschwunden und anschließend zur Adoption freigegeben. «Vielleicht», so ihre Einschätzung, «haben wir ihnen damit einen Gefallen getan.» Die meisten Menschen in Israel waren damals wahrscheinlich der Meinung, dass man kinderreichen Familie aus Jemen etwas Gutes tut, wenn man ihre Kinder in einer aschkenasischen Familie aufwachsen lässt, und vielleicht sogar, dass es sich dabei um ausgleichende Gerechtigkeit gehandelt habe für die, «die keine eigenen Kinder (mehr) hatten».

Ausblick: Anerkennung, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Wir wissen heute, dass Menschenraub sowie der Handel mit Kindern, die man ohne Wissen und Zustimmung der Eltern zur Adoption freigab, sowie die Ausnutzung machtloser Bevölkerungsgruppen für verschiedene Zwecke sehr weit verbreitete Phänomene zu der damaligen Zeit waren. Bei fast jedem Zusammentreffen des «weißen Mannes» mit «Eingeborenen» kam es zu der Entführung von Kindern. Uns sind ähnliche Vorgänge aus Australien, Kanada, den USA, Frankreich, Irland, der Schweiz und Spanien bekannt. In jüngster Zeit haben einige Regierungen in diesen Ländern damit begonnen, das geschehene Unrecht anzuerkennen, die Verantwortung dafür zu übernehmen, sich zu entschuldigen und sich zu verpflichten, die Opfer zu entschädigen.

Wir hoffen, in den nächsten Jahren ähnliche Schritte auch von der israelischen Regierung zu sehen. Wir fordern vom israelischen Staat, dass er die Verantwortung für das begangene Unrecht übernimmt, dass er anerkennt, dass das Establishment für diese Taten verantwortlich ist, sowohl für die Entführungen selbst als auch für das langjährige Vertuschen dieser. Das Establishment, das sich kriminell verhalten hat, muss auf der Anklagebank sitzen, und es ist inakzeptabel, dass es als Ermittler und Richter agiert. Wir fordern vom Establishment, alle Unterlagen, die zur Aufklärung dieses Skandals in all seinen Aspekten erforderlich sind, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und jeder der betroffenen Familien eine klare Auskunft über das Schicksal ihrer Kinder zu geben. Der Staat hat zudem die Aufgabe, das Andenken an diese Unrechtstaten aufrechtzuerhalten, eine Auseinandersetzung mit dem Rassismus, auf dem sie basieren, zu führen und den Opfern eine angemessene Entschädigung zu gewähren. Dies sind unsere grundlegenden Pflichten als Gesellschaft gegenüber den Eltern, von denen noch einige am Leben sind, und gegenüber den weiteren Familienangehörigen wie den Geschwistern und selbstverständlich den Entführten, die ein Recht darauf haben, die Wahrheit zu kennen und eine Entschuldigung und Wiedergutmachung zu erhalten.

Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin

Naama Katiee ist Feministin und eine der Gründerinnen der Mizrachim-Organisation Amram, die für die Anerkennung des begangenen Unrechts und für Gerechtigkeit für die Familien der entführten Kinder kämpft. Sie studierte Geschichte, Philosophie und Wissenschaftstheorie und veröffentlicht in verschiedenen Foren Aufsätze über diesen Entführungsskandal und über den gesellschaftlichen und institutionellen Rassismus, der diesem zugrunde liegt. Sie arbeitet in der Hightechbranche, hat zwei Kinder, lebt in Haifa und ist die Enkelin von Schoschana (Schama) Katiee, die ihren eigenen Sohn vor der Entführung retten konnte.

Weiterführende Links:

Bericht der «Ärzte für Menschenrechte – Israel» (Englisch) zur Beteiligung von Gesundheitspersonal an den Entführungen von Kindern, deren Familien aus Jemen, dem Balkan und dem Nahen Osten stammen.

Zvi Ben Dor - Zwischen Ost und West – Die Mizrachim

Ella Shohat - Mizrachim in Israel: Zionismus aus der Sicht seiner jüdischen Opfer

Efrat Yerday - Weiße und "andere" jüdische Menschen

Assia Istoshina - Die mysteriöse russische Seele

Interview mit Shula Keshet - „Das Streben nach Gleichberechtigung verbindet uns jenseits der partikulären Identität miteinander“

Interview mit Tigist Mahari - „Jeder Polizist weiß, dass er mit uns alles machen kann“

Anmerkungen:

[1] Die hier genannten Zahlen basieren hauptsächlich auf den Daten der offiziellen Cohen-Kedmi-Kommission, die nach ihrer Veröffentlichung von Professor Boaz Sangero analysiert wurden.

[2] Mit Establishment sind zum einen staatliche Stellen und Behörden gemeint, zum anderen aber auch Institutionen wie den Gewerkschaftsdachverband Histadrut mit seinem medizinischen Dienst oder die Jewish Agency, die zwar ein Teil des Herrschaftsapparats waren, aber keine Staatsorgane sind.

[3] Der volle Name der Organisation ist American Jewish Joint Distribution Committee. Dabei handelt es sich um eine Hilfsorganisation von Juden und Jüdinnen in den USA. Sie wurde 1914 gegründet, um den während des Ersten Weltkriegs notleidenden jüdischen Gemeinden in Palästina und Mittel- und Ost-Europa zu helfen. Neben ihrem ursprünglichen Hauptsitz in New York hat sie heute einen zweiten in Jerusalem [Anm. d. Übers.].

[4] Demnach bestrafte ein Bauer namens Makov 1913 drei jemenitische Frauen, die für ihn arbeiteten, für das unerlaubte Sammeln von trockenen Zweigen auf seinem Land auf besonders demütigende Art und Weise. Er ließ sie von anderen Arbeitern einfangen und an den Schwanz eines Esels binden. Den Esel trieb er dann durch die Hauptstraße des Städtchens Rechovot – wofür er lediglich ein symbolisches Bußgeld zahlen musste [Anm. d. Übers.].

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