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Die politische Ökonomie der Kibbuz-Bewegung

Bislang befasst sich die Kibbuz-Forschung mit dessen Organisierungsmodell, das seinen Mitgliedern Teilhabe auf vorbildliche Weise ermöglicht. Doch, dienten Kibbuz-Praxen nicht gleichzeitig einer Politik, die jüdische Kontrolle über das Land forcierte - auf Kosten der einheimischen Bevölkerung?

Gemeinschaftliches Leben ist in der Weltgeschichte spätestens seit der Zeit des griechischen Altertums (beispielsweise in Platons Politeia) ein wiederkehrendes Motiv öffentlicher Debatten. Auch der Soziologe und Nationalökonom Max Weber widmete sich ihm in seiner grundlegenden Analyse des sozialen Handelns, wo er den gemeinschaftlichen Konsum (von ihm „Kommunismus“ genannt) als Ausdruck einer Handlung begreift, die auf einer „gefühlten Solidarität“ statt auf einer „Errechnung von Versorgungsoptima“ beruht. Laut Weber sei dieser nicht-patriarchale „Kommunismus“ besonders für das Heer und für religiöse Gemeinschaften charakteristisch.

Webers Beobachtungen haben praktisch keinen Einfluss auf die umfassende Sozialforschung zu den Formen gemeinschaftlichen Lebens und kollektiver Wirtschaftsweisen gehabt, die seit Ende der 1960er und während der 1970er Jahren entstanden. Die meisten Sozialwissenschaftler*innen griffen bei ihren Arbeiten auf die Begriffe „utopische Gemeinschaften“ oder „intentionale Gemeinschaften“ zurück. Entsprechend lag ihr Fokus auch stärker auf den internen Prozessen, die das Gemeinschaftsleben fördern, und nicht so sehr auf den externen Einflüssen, wie etwa den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen das Gemeinschaftsleben als Praxis gedieh.

Großen Einfluss hatte dieser auf interne Prozesse fokussierte, kulturelle Ansatz zur Erforschung des Gemeinschaftslebens auch auf die Forschung zu den Kibbuzim in Israel. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges propagierte der Religionsphilosoph Martin Buber den Kibbuz als mögliches Modell für die Organisierung der Gesellschaft weltweit, als sozialistische Alternative zum Sowjet-Modell (vgl. sein Buch Pfade in Utopia). Bis heute ist das der wichtigste Forschungsansatz im Bereich der Kibbuzim geblieben. Die Kibbuzim wurden in der soziologischen Forschung zuallererst als Organisationen oder Gemeinschaften behandelt, die darum bemüht waren, die Ideale eines gemeinschaftlichen Lebens, von Gleichheit und Demokratie umzusetzen. Und natürlich wird ihre wichtige Rolle beim zionistischen Besiedlungsprojekt vor 1948 nirgends bestritten. Nach der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 war die Kibbuz-Forschung jedoch praktisch ausschließlich darauf fokussiert, wie sich die Ideale gemeinschaftlichen Lebens aufrechterhalten ließen.

Anders als die soziologische Analyse stellen detaillierte historische Berichte von sozialen Bewegungen die Behauptung in Frage, wonach die Ursprünge kollektiver Praxen zuallererst in abstrakten Idealen zu suchen seien. Vielmehr wurden kollektive Praxen in Prozessen von Versuch und Irrtum entwickelt und entsprangen dabei nicht notwendigerweise einem vorbestimmten Plan oder einer konsequent gemeinschaftsorientierten Ideologie. Vor dem Hintergrund dieses Phänomens schlägt der US-amerikanische Historiker Donald Pitzer eine alternative, dem Weberschen Ansatz ähnelnde Herangehensweise zur Erforschung kollektiver Praxen vor. In seinen Texten über „Entwicklungskommunalismus“ legt er seinen Schwerpunkt auf die Rolle des Gemeinschaftslebens als Mittel zur Erreichung anderer Ziele, als Praxis, die entsprechend sich verändernder Umstände übernommen oder wieder abgelegt wird. Den Erkenntnissen Pitzers folgend betrachte ich das in den Kibbuzim praktizierte Gemeinschaftsleben als Mittel zur Ausweitung und Konsolidierung der Kontrolle über das Land. Mittels der politischen Ökonomie als Perspektive zeige ich, dass die finanzielle, rechtliche und politische Unterstützung, die den Kibbuzim durch die Zionistische Weltorganisation (WZO) und den israelischen Staat zuteilwurde, entscheidend dafür war, um sich gegen das Erodieren von gemeinschaftlichen Lebenspraxen zu stemmen.

Die Besiedlung von Israel/Palästina und die Geburt der Kibbuz-Bewegung

Das moderne zionistische Besiedlungsprojekt in Israel/Palästina entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts und war von Beginn an auf die Errichtung rein jüdischer Siedlungen ausgerichtet. Nach dem Ersten Weltkrieg rückte die jüdische Besiedlung in den Fokus der Aktivitäten zionistischer Organisationen, allen voran der WZO. Die zionistischen Besiedlungsbemühungen setzten sich nach der Gründung des Staates Israel 1948 fort, dann unter der organisatorischen Ägide und Kontrolle der entsprechenden Behörden. Die Grenzen Israels wurden niemals in einem abschließenden Abkommen festgelegt und jüdische Siedlungen haben jahrelang ihrer kontinuierlichen Ausdehnung gedient. Der Versuch, die jüdische Kontrolle über das Land zu sichern, begann also vor über 100 Jahren.

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Holzhütte Kibbuz Degania, 1910.

Die Kibbuzim entstanden als Teil des zionistischen Siedlungsprojekts. Das erste Kibbuz, Degania, wurde im Nachgang zur Annahme des kooperativen Siedlungsplans des zionistischen Soziologen Franz Oppenheimer durch die WZO gegründet. Diese kleine und junge Gründer*innengruppe ließ sich 1910 auf WZO-Land nieder und kombinierte kollektive Produktion mit kollektiven Konsum. In den Folgejahren verpflichteten sich die Mitglieder von Degania nach und nach zu einer permanenten Ansiedlung und weiteten ihre kollektiven Praxen aus, indem sie sich einer gleichen Bezahlung, demokratischer Verwaltung und kollektiver Erziehung verschrieben. Ihre Verpflichtung zur „Eigenarbeit“ (bei der sie auf das Anheuern fremder Arbeitskraft verzichteten) und damit zur ausschließlich jüdischen Arbeit, war für die Pläne der WZO von ganz zentraler Bedeutung. Denn das Anheuern palästinensischer Arbeitskräfte zur Bearbeitung von Land, das sich im Besitz jüdischer Gemeinschaften befand, wäre dem zionistischen Ansinnen zur Erreichung einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit in immer mehr Teilen des Landes und den Bemühungen in Richtung eines zukünftigen jüdischen Staates zuwidergelaufen.

Im Jahr 1920 gesellten sich neue jüdische Einwanderer*innen aus Europa den bereits erfahrenen Arbeitskräften hinzu und gründeten die „Arbeiterlegion“ (Gedud Ha-Avoda), zu deren Grundprinzipien gleiche Bezahlung und die Vermeidung privaten Eigentums gehörte. Bis 1923 hatten sich Dutzende neue Gemeinschaften, die sich selbst „Kwuza“ oder „Kibbuz“ nannten, auf dem Land der WZO niedergelassen. Daher lässt sich spätestens seit Anfang der 1920er Jahre von einer Kibbuz-Bewegung sprechen.

Umfassende Unterstützung erhielten die Kibbuzim durch die WZO aufgrund ihrer enormen strategischen Bedeutung für das zionistische Projekt: Sie galten als beste Siedlungsform zur Verankerung und Ausweitung der jüdischen Kontrolle über das Land. Die kollektiven Praxen der Kibbuzim wiederum versetzten sie in die Lage, besser auf die Bedrohung durch die einheimische arabische Bevölkerung zu reagieren, die allzu oft Widerstand gegen die Übertragung der Kontrolle über das Land an Juden und Jüdinnen leistete. Eine halboffizielle Militärgeschichte Israels von 1955 („Sefer Toldot Ha’Hagana“ von Ben-Zion Dinur) fasste diesen Aspekt prägnant zusammen: „Von allen Siedlungsformen ist der Kibbuz […] diejenige, die einer militärischen Struktur am nächsten kommt.“

Die ideologische Grundmotivation ebenso wie die Unterdrückung individueller wirtschaftlicher Motive verliehen den Kibbuzim zusätzliche Vorteile im Kampf um die jüdische Kontrolle über das Land. Denn ihre Mitglieder waren gewillt, auch dann zu siedeln, wenn die öffentliche Finanzierung spärlich war und das verfügbare Land aus kleinen, kaum fruchtbaren Parzellen bestand.

Von Beginn an konkurrierten die Kibbuzim jedoch mit weiteren Siedlungsformen um die wirtschaftliche und politische Unterstützung durch die WZO. Besonders bedeutend war der Wettbewerb mit den Moschawim, landwirtschaftlichen Kooperativensiedlungen, deren grundlegende Produktionseinheit die Familie war. Auch die Moschawim hatten sich dem Motto der jüdischen Besiedlung in „Eigenarbeit“ verschrieben, das dazu diente, Palästinenser*innen auszuschließen und mehr potenzielle Siedler*innen anzuziehen. Doch waren sie weniger erfolgreich, gegenüber militärischen Bedrohungen und wirtschaftlichen Risiken.

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Gründung des Kibbuz Chanita in Galiläa. Jüdische Polizei und Hagana-Einheiten tragen Baumaterial, 1938. Foto: GPO

Verbreitung und Niedergang des Gemeinschaftslebens der Kibbuzim, 1920–2010

Während der ersten 70 Jahre der Kibbuz-Bewegung blieb ihre interne Organisationsstruktur relativ einheitlich und stabil. Zwischen den 1920er und 1980er Jahren kam es in Hinblick auf das Ausmaß des Gemeinschaftslebens lediglich zu kleinen Verschiebungen. So wurden in manchen Kibbuzim etwa der gemeinschaftliche Konsum durch die Einführung eines „persönlichen Budgets“ aufgeweicht oder die gemeinschaftlichen Kinderschlafsäle aufgegeben. Dessen ungeachtet blieben kollektive Praxen, wie das gleichberechtigte Teilen, gemeinschaftliche Speisesäle, kollektive Erziehung, direkt-demokratische Entscheidungsstrukturen oder die Einschränkungen bezüglich der Beschäftigung externer Arbeitskräfte, relativ einheitlich und stabil. Die Größe der Kibbuz-Bevölkerung kann daher für den Zeitraum 1920–1990 als Indikator für die Verbreitung kollektiver Praxen in den Kibbuzim dienen.

Während der Bevölkerungszuwachs der Kibbuzim während der 1920er Jahre noch zaghaft war, nahm er zwischen den Jahren 1930–1948 stärker zu, verlangsamte sich anschließend, bis zwischen 1959 und 1967 eine relativ stabile Anzahl von Personen in den Kibbuzim lebte. Im Zeitraum 1967–1985 beschleunigte sich der Zuwachs erneut, nur um in der Zeit seit 1995 wieder abzunehmen (vgl. Abb. 1).

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Abbildung 1: Kibbuz-Bevölkerung, 1920–1995
(Quellen: Für die Jahren 1920–1948: Henry Near, The Kibbutz Movement: A History (Vol. 1, 1909–1939) (Oxford: Oxford University Press, 1992), 32–35, 189, 329; für 1948–1995: Israeli Central Bureau of Statistics, with data corrected according to Henri Near’s The Kibbutz Movement: A History (Jerusalem: Bialik Institute, 2008), 607 (Hebrew).

Ab Ende der 1980er Jahre begann in den meisten Kibbuzim ein weitereichender Prozess der Dekollektivierung. Die Verpflichtung zur Eigenarbeit wurde vielerorts aufgegeben und zuweilen wurden Nichtmitglieder als Bewohner*innen akzeptiert. Darüber hinaus wurde die demokratische Selbstverwaltung drastisch reduziert. 1992 beschloss das erste Kibbuz, seinen Mitgliedern unterschiedliche Gehälter auszuzahlen, ein formaler Bruch mit den Normen kollektiven Eigentums und gleichberechtigten Teilens, die bis dato als bestimmende Eigenschaften der Bewegung gegolten hatten. In den folgenden 15 Jahren folgten mehr als 75 Prozent der Kibbuzim diesem Schritt (vgl. Abb. 2).

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Abbildung 2: Anteil der Kibbuzim mit gleichem Einkommen (keine unterschiedlichen Gehälter), 1990–2010
(Quelle: Raymond Russell, Robert Hanneman, and Shlomo Getz, The Renewal of the Kibbutz: From Reform to Transformation (New Brunswick, NJ: Rutgers University Press, 2013), 99.)

Heute halten nur ein paar Dutzend Kibbuzim noch am System eines Einheitslohns fest. Die meisten befinden sich entweder in stark peripheren Lagen oder wirtschaftlich in einer außerordentlich guten Position, etwa wegen sehr erfolgreicher Produktionsbetriebe. Alle setzten massiv auf den Einsatz externer Arbeitskräfte.

Verbreitung und Niedergang der kollektiven Praxen in den Kibbuzim lassen sich im Rahmen sozialer Studien des Gemeinschaftslebens als eine Reihe von Herausforderungen analysieren, auf die nun näher eingegangen wird. Erstens, warum ist der Anteil an Kibbuzim-Mitgliedern in Israel/Palästina derart hoch verglichen mit ähnlichen Projekten in anderen Ländern? Zweitens, warum hatten kollektive Praxen einen derart langen Bestand in Kibbuzim trotz nur beschränkter Mechanismen zur Durchsetzung von Selbstverpflichtungen, wie etwa Hierarchien oder Isolation, die sonst kennzeichnend sind für langlebige Kommunen? Und drittens, worauf lässt sich der rapide Verfall kollektiver Praxen in den Kibbuzim seit Ende der 1990er Jahre zurückführen, besonders im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrzehnten? Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, diese Fragen vor dem Hintergrund der sich verändernden zionistischen Siedlungspolitik und ihrer Auswirkungen auf die kollektiven Praxen der Kibbuz zu beantworten.

Die Veränderung der zionistischen Siedlungspolitik und ihre Auswirkungen auf die Verbreitung kollektiver Praxen in den Kibbuzim

1921–1929: Zaghafte Unterstützung

Die anfängliche Verbreitung eines Konzepts für das Gemeinschaftsleben in Kibbuz-Form war Teil der WZO-Siedlungsbemühungen, die von einer verstärkten jüdischen Einwanderung zwischen 1920 und 1923 begünstigt wurden, womit in der Folge die Zahl jüdischer Migrant*innen in Palästina von 56.000 auf 90.000 anstieg. In diesen Zeitraum fiel die Gründung von 24 Kibbuzim. Nach einem kurzen wirtschaftlichen Aufschwung im Zuge einer neuerlichen Einwanderungswelle zwischen 1924 und 1925 verschlechterte sich die wirtschaftliche und Beschäftigungssituation in Palästina jedoch im Zeitraum 1926–1928. Bedingt durch die verbesserte Sicherheitslage zu jener Zeit war die WZO-Führung zunehmend skeptisch gegenüber dem Kibbuz-Modell und rief nur noch zur Gründung von Moschawim auf.

Die Gründung von Kibbuz-Föderationen während dieser Zeit verweist auf das wachsende Bewusstsein, dass die Zukunft der Kibbuzim von der zionistischen Siedlungspolitik abhing. In der Folge ging es verstärkt darum, sich gemeinsam zu organisieren, um ein größeres politisches Gewicht im zionistischen Establishment zu erringen. Diese Bemühungen waren größtenteils von Erfolg gekrönt. Die Föderationen entsandten neue Mitglieder zu diesen Kibbuzim, während Einzelpersonen oder gar ganze Gruppen, die eher laxeren, von den Moschaw-inspirierten Praxen anhingen, gehen mussten. Zu jener Zeit kam es also zur Institutionalisierung von Praxen des Gemeinschaftslebens in den Kibbuzim.

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Einwander*innen aus Südamerika, Kibbuz Mefalsim. 1947. Foto: GPO

1930–1948: Wachsende Unterstützung vor dem Hintergrund zunehmender Auseinandersetzungen um Land

Die jüdische Einwanderung nach Palästina nahm 1930 erneut zu. Mit der Ankunft von nahezu 300.000 Migrant*innen im folgenden Jahrzehnt wuchs die jüdische Bevölkerung auf mehr als das Doppelte an. Viele der Neuankommenden hatten bereits in ihren Herkunftsländern in „Trainingskibbuzim“ gelebt und hatten sich dem gemeinschaftlichen Teilen bereits verschrieben. Nach den palästinensischen Aufständen von 1929 war die WZO zur Erneuerung der Siedlungsdynamik entschlossen. Die Sicherheitslage im Zeitraum 1930–1935 war dennoch stabil. Die Priorität galt daher der Gründung von Moschawim.

Im Zuge des Arabischen Aufstands und des Teilungsplans der Peel-Kommission kam es 1936 zu einer Neuausrichtung zionistischer Siedlungspolitik. Das Siedlungsbudget der WZO verdreifachte sich zwischen 1935 und 1940 und politische ersetzten ökonomische Erwägungen. Höchste Priorität wurde der Besiedlung von Gebieten eingeräumt, deren Status als Teil eines zukünftigen Staates Israel nicht sicher war, wo das Land kaum fruchtbar war und die Sicherheitslage ernsthaft gefährdet war. Unter diesen Bedingungen erwies sich das kollektive Organisierungsmodells der Kibbuzim als äußerst wertvoll und in der Folge kam es zur Gründung 36 neuer Kibbuzim.

Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kam die jüdische Einwanderung zum Erliegen, das Budget der WZO sank und die britischen Behörden verhängten neue rechtliche Hürden für die zionistische Besiedlung und den Landerwerb. Während der ersten Kriegsjahre wurden daher nur ganz wenige neue Kibbuzim gegründet. Später wurden die rechtlichen Hürden umgangen, weshalb die Neugründung von Kibbuzim wieder zunahm. Unterdessen hatte die Beteiligung ihrer Mitglieder an Einheiten der britischen Armee sowie an lokalen Verbänden den Ruf der Kibbuzim deutlich verbessert – und dadurch zur erfolgreichen Anwerbung neuer Mitglieder beigetragen.

Im Nachklang des Weltkrieges stand die Zukunft Palästinas erneut im Fokus lokaler und internationaler Debatten. Die zionistischen Besiedlungsbemühungen wurden verstärkt und die Sicherheitslage verschlechterte sich dramatisch. Unter diesem Umständen bekam die Kibbuz-Bewegung die finanzielle Unterstützung, anhand derer sie sich an die Spitze der Besiedlungsbemühungen setzen und zur Basis der militärischen Organisierung werden konnte. Während des Krieges von 1948 diente jedes einzelne Kibbuz als militärischer Außenposten. Die Vorteile der kollektiven Organisierung waren nie sichtbarer als in jenen Jahren.

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Ein arabisches Haus als miltärische Festung für das dort errichtete Kibbuz HaShofet, 1938. Foto: GPO

1949–1966: Stabile Grenzen, gleichbleibende Unterstützung

Ein klarer Wendepunkt in der Geschichte der Kibbuz-Bewegung war die Gründung des Staates Israel. Große Landflächen, die zuvor in palästinensischem Besitz gewesen waren , wurden nach dem Krieg von 1948 vom neuen Staat enteignet. Das Interesse der Regierung an einer raschen Besiedlung, um eine Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge zu verhindern, entsprach auch dem Wunsch angehender Kibbuz-Gruppen in Dörfern und Städten, deren Siedlungsbeginn aufgrund von Landmangel jahrelang hinausgezögert worden war. Es ist daher kein Zufall, dass in den Jahren 1948–1949 nicht weniger als 62 neue Kibbuzim gegründet wurden. Direkt im Anschluss, im Zeitraum 1949–1950 wurden 149 Moschawim errichtet.

Jedoch war die Anzahl Siedlungswilliger beschränkt, weshalb nur Teile des vormals palästinensischen Landes unmittelbar besiedelt werden konnten. Anfang der 1950er Jahre kam es folglich zu erheblichen Bemühungen seitens der israelischen Regierung zur Schließung dieser Lücke. Unter dem Schutz der israelischen Armee war die militärische Überlegenheit der Kibbuzim nicht mehr von derart überragender Bedeutung. In der Folge wurden in den 1950er Jahren nur wenige Kibbuzim errichtet und Priorität erhielten die Moschawim. Im Landwirtschaftssektor kam den Kibbuzim jedoch weiterhin eine bedeutende Rolle zu. Besonders in Gegenden, die von außergewöhnlichen wirtschaftlichen oder sicherheitsrelevanten Hürden betroffen waren, waren sie als Siedlungsmodell noch immer unabkömmlich. Regierung und WZO hielten daher ihre umfassende wirtschaftliche Unterstützung weiterhin aufrecht. Es entstanden auch neue Wege, um junge Leute für die Kibbuzim zu begeistern. Den Grundpfeiler bildete dabei das Nachal-Korps der israelischen Armee, das militärische mit Besiedlungsaktivitäten verknüpfte und es damit der Bewegung ermöglichte, weiterhin einen großen Teil der Jugend in der Kibbuz-Ideologie zu schulen.

Die Besiedlung des Landes, das die Palästinenser*innen 1948 hatten verlassen müssen, war bis Ende der 1950er Jahre so gut wie abgeschlossen, was die jüdische Besiedlungsaktivität signifikant verringerte. Am ausbleibenden bzw. gar rückläufigen Wachstum der Kibbuz-Bevölkerung in den Folgejahren lässt sich die Normalisierung ablesen, die das Land ergriff. Die Regierung war jedoch zur Aufrechterhaltung der jüdischen Kontrolle über das Land weiterhin am Überleben aller Kibbuzim und Moschawim interessiert. Aus diesem Grund regte sie 1958 einen Schuldenerlass für Kibbuzim an sowie eine zentrale Verwaltung und Regulierung der landwirtschaftlichen Produktion und der Vermarktung an. In den folgenden Jahren ermöglichte die Umsetzung dieser Maßnahmen den Kibbuzim tatsächlich einen gewissen wirtschaftlichen Fortschritt.

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Der Speisesaal des Kibbutz Merom Golan wurde zwischen 1968 und 1972 fotografiert. Foto: GPO

1967–1980: Stärkere Unterstützung bei der Besiedlung der besetzten Gebiete

Der Krieg von 1967 eröffnete der zionistischen Besiedlungsbewegung neue Möglichkeiten. Auf Grundlage eines vom Regierungsmitglied und Vertreter der Kibbuz-Bewegung Yigal Allon vorgelegten Plans, förderte die israelische Regierung während der folgenden Jahrzehnte die israelische Regierung den Aufbau landwirtschaftlicher Siedlungen in den besetzten Gebieten. Bis 1982 wurden – im Bestreben, das israelische Territorium auszuweiten – 24 Kibbuzim in den (syrischen) Golan-Höhen, im Jordantal und im Süden des Gazastreifens errichtet. Außerdem wurden 52 Moschawim gegründet, die meisten von ihnen „gemeinschaftlich“, d. h., basierend auf gemeinschaftlichem Teilen, jedoch ohne gemeinsame Speisesäle.

Die Erneuerung der jüdischen Siedlungsbemühungen in jener Zeit waren allerdings – wie bereits zuvor – von der Politik der Regierung abhängig. Die massive Ankunft palästinensischer Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten auf dem israelischen Arbeitsmarkt wurde als Bedrohung der jüdischen Kontrolle über das Land gesehen und verstärkte die Tendenz, Gemeinden, die weiter dem Prinzip der Eigenarbeit verpflichtet blieben, Kompensationszahlungen zu leisten. Die von der WZO und dem israelischen Staat bereitgestellten Mittel für die Landwirtschaft haben sich in der Zeit zwischen 1966 und 1980 verdoppelt (während die finanzielle Unterstützung für die industrielle Entwicklung der Kibbuzim und ihrer regionalen Verbände ebenfalls stieg). Die wirtschaftliche Lage der Kibbuzim verbesserte sich erheblich während der 1970er Jahre, was auch den starken Bevölkerungszuwachs in dieser Zeit erklärt ebenso wie die relative Stabilität der organisatorischen Praxen in den Kibbuzim, trotz einer schwächer werdenden kollektivistischen Ideologie unter den Mitgliedern.

1980–2010: Schwindende Unterstützung aufgrund der reduzierten Rolle in der jüdischen Kontrolle des Landes

Der Wahlsieg der rechtsgerichteten Likud-Partei 1977 läutete eine neue Epoche in den israelischen Territorialbestrebungen ein und führte zu einem komplexen Wandel in der Besiedlungspolitik. Die neue Regierung stimmte im Rahmen eines Friedensabkommens einer Rückgabe der Sinai-Halbinsel an Ägypten bis 1982 zu. Die dortigen Siedlungen – zumeist Kibbuzim und Moschawim – wurden anschließend abgebaut. Gleichzeitig begann die israelische Regierung mit der Kolonisierung der gesamten besetzten palästinensischen Gebiete und intensivierte die jüdischen Besiedlungsbemühungen im nord-israelischen Galiläa, das dicht von Palästinenser*innen – allesamt israelische Staatsbürger*innen - bevölkert war. Um die Errichtung jüdischer Siedlungen in den Bergen der besetzten Westbank und die Besiedlung des Galiläa zu unterstützen – wo es praktisch kein urbares Land im Regierungsbesitz gab –, förderte die Regierung zum allerersten Mal in der israelischen Geschichte umfassende nicht-landwirtschaftliche Siedlungen im ländlichen Raum. Zwischen 1980 und 1985 entstanden so mehr als 70 Siedlungen dieser Art auf beiden Seiten der „grünen Linie“ (der israelischen Grenze vor 1967).

Unter den neuen Rahmenbedingungen, wo die jüdische Kontrolle des Landes weniger von der landwirtschaftlichen Aktivität von Kibbuzim und Moschawim abhing, wurde der israelische Landwirtschaftsetat drastisch gekürzt (um 60 Prozent zwischen 1978 und 1984). Noch Anfang der 1980er Jahre hatten israelische Banken dem Landwirtschaftssektor praktisch unbegrenzte Kredite angeboten, nun allerdings zum ersten Mal mit echten Zinsen, weshalb die meisten Kibbuzim in dieser Phase kurzfristige Schulden anhäuften und dadurch den Großteil ihres Eigenkapitals einbüßten. Im Sommer 1985 verhängte die Regierung als Teil eines Stabilisierungsplans strikte Kreditbeschränkungen für den israelischen Markt. Im Laufe der folgenden vier Jahre fraß der Schuldendienst mehr als ein Drittel des Nettoprodukts der Kibbuzim auf. Ihr Schuldenberg erreichte damals 3,6 Milliarden US-Dollar. Und das ist der Kontext, in dem es von einem Bevölkerungszuwachs in den Kibbuzim zu einem Schrumpfen der Bevölkerung kam.

Zu einem weiteren Einschnitt in der Regierungspolitik kam es Anfang der 1990er Jahre. Im Anschluss an die Erste Intifada verabschiedete Israel seine sogenannte Abriegelungspolitik, die den meisten billigen palästinensischen Arbeitskräften den Zugang zum israelischen Arbeitsmarkt verwehrte. 1993 wurde diese Maßnahme in den Oslo-Abkommen verankert. Ihren Platz nahmen Migrant*innen aus Ost- und Südostasien mit temporären Arbeitsvisa ein. Die „Bedrohung“, dass palästinensische Landarbeiter*innen die jüdische Kontrolle des Landes unterminieren könnten, verschwand damit vollends, weshalb die Regierung ihre Bemühungen zur Förderung der Eigenarbeit in der Landwirtschaft aufgab. Produktionsquoten, die bis dato für stabile und hohe Preise für landwirtschaftliche Produkte gesorgt hatten, wurden abgeschafft und Moschawim-Mitgliedern wurde die Unterverpachtung ihres Landes erlaubt. Unterdessen stieg die Zahl der Lohnarbeiter*innen in der israelischen Landwirtschaft von 27.000 im Jahr 1990 auf 41.000 im Jahr 1996, die meisten von ihnen ausländisch, während die Zahl der Mitglieder der Kibbuzim und Moschawim von 43.000 auf 26.000 sank.

Die Kibbuz-Föderationen, die zuvor die Verpflichtung zur Eigenarbeit und die Errichtung neuer Kibbuzim forciert hatten, spielten unter den veränderten Bedingungen der 1990er Jahre keine Rolle mehr für die Sicherung der jüdischen Kontrolle über das Land. Daher wurden sie von der Regierung entmachtet. Derweil verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage der Kibbuzim bis zum Jahr 1995 zunehmend, als die meisten von ihnen faktisch bankrott waren. In diesem Jahr schlossen Banken, der Staat und die Kibbuzim ein Umschuldungsabkommen, bei dem Letztere zur Aufgabe des Systems gleicher Löhne gezwungen wurden. Der Dekollektivierungsprozess der letzten Jahrzehnte lässt sich daher als weiterer Puzzlestein der weitreichenden Auswirkungen begreifen, die die zionistische Besiedlungspolitik auf die Verbreitung (und den Niedergang) des Gemeinschaftslebens als Praxis der Kibbuzim hatte.

Schlussbemerkung

In der vorliegenden Untersuchung ging es um die Rolle kollektiver Kibbuz-Praxen als Instrument der Besiedlungspolitik, und zwar konkret als Teil der Bemühungen um eine Verankerung und Ausweitung der jüdischen Kontrolle über das Land. Ein Ergebnis ist, dass die außergewöhnliche Verbreitung des Konzepts des gemeinschaftlichen Teilens in Israel im Kontext der außergewöhnlichen wirtschaftlichen und politischen Unterstützung verstanden werden muss, die die Kibbuz-Bewegung genoss: geschenkte Grundstücke, großzügige wirtschaftliche Hilfen und Unterstützung bei der Gewinnung neuer Mitglieder. Diese Unterstützung wiederum lässt sich auf die außerordentliche Entschlossenheit zurückführen, die Errichtung rein jüdischer Siedlungen trotz der schwierigen Sicherheitslage und unter Preisgabe wirtschaftlicher Erwägungen zu forcieren.

Die Kibbuz-Forschung ignorierte bislang fast vollständig den Siedlungskontext für die Entwicklung der Bewegung nach der Gründung des Staates Israel 1948 und damit auch deren Beziehung zum arabisch-jüdischen Konflikt. Entwicklungen wie die Errichtung jüdischer Siedlungen in den besetzten Gebieten nach dem Krieg von 1967 oder die Oslo-Abkommen werden in der Kibbuz-Forschung nur selten thematisiert.

Wie hier gezeigt werden konnte, hing die Verbreitung kollektiver Kibbuz-Praxen sehr eng mit den Veränderungen in der zionistischen Besiedlungspolitik zusammen. Zu Beginn der 1920er Jahre, in den Jahren 1936–1949 sowie in den 1970er Jahren lag der Schwerpunkt der Besiedlungsaktivitäten auf abgelegenen oder isolierten Gegenden, wo die Siedler*innen sich Risiken aussetzten, die persönlichen finanziellen Gewinn entweder stark einschränkten oder komplett verunmöglichten. Unter diesen Bedingungen wurden staatliche Hilfen für Kibbuzim erhöht, neue Kibbuzim gegründet, junge Leute für die Bewegung angeworben und das gemeinschaftliche Leben von einer zunehmenden Anzahl von Personen praktiziert. Im Gegensatz dazu stehen die Jahre gegen Ende der 1920er Jahren, der Zeitraum gegen Ende der 1950er und frühen 1960er Jahre sowie seit die Zeit nach Ende der 1980er Jahre, wo die Besiedlungsbemühungen auf relativ abgesicherte Orte begrenzt waren. Entsprechend wurden die politischen und finanziellen Hilfen für die Kibbuzim zurückgefahren, was zu sozialen und demografischen Krisen führte, die einen stetig steigenden Kibbuz-internen Druck zur Aufgabe des gemeinschaftlichen Teilens erzeugten.

Wenn wir an die theoretische Diskussion zu Beginn dieses Aufsatzes zurückdenken, ließe sich vielleicht sagen, dass der Beitrag der Kibbuzim zum zionistischen Besiedlungsprojekt es ihren Mitgliedern ermöglichte, die Rolle einer „dienenden Elite“ einzunehmen, die öffentliches Prestige genoss und über einen politischen Einfluss verfügte, der in keinem Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung stand. Mit Weber gesprochen beruhten die gemeinschaftlichen Kibbuz-Praxen nicht nur auf einen „Gegensatz zur traditional oder zweckrational, und dann rechenhaft, leistungsteilig wirtschaftenden Umwelt“ – der für „Mönchsgemeinschaften, Sektengemeinschaften und ikarische Sozialisten“ charakteristisch war –, sondern auch auf einem „Haushaltsverband von Privilegierten“, in gewissen Aspekten ähnlich zur herrschenden Schicht von Kriegergesellschaften, wie etwa Sparta.

Die Verknüpfung zwischen gemeinschaftlichen Praxen des Teilens und der Besiedlung unter widrigen Bedingungen scheint auch keinesfalls auf Kibbuzim beschränkt zu sein. Seit jeher wurden periphere Gebiete von Stämmen, religiösen Gemeinschaften oder Heeren bewohnt, den drei Gruppen, die laut Weber „Kommunismus“ praktizieren. Diener etwa stellt fest, dass „die Hutterer über mehr als vier Jahrhunderte eine einzigartige evolutionäre Nische besetzt hielten: die ländlichen Grenzregionen des sich ausweitenden Kapitalismus“. Europäische Siedler*innen in Nordamerika übernahmen Praxen des gemeinschaftlichen Teilens in ihrer ersten Kolonie Plymouth im Jahr 1621. Während der folgenden Jahrhunderte und der Westwärtsbewegung der nordamerikanischen Grenze blieb das gemeinschaftliche Leben ein wichtiger Aspekt des Siedlungsprozesses. Andere Länder, in denen in den vergangenen Jahrhunderten das gemeinschaftliche Leben über Verwandtschaftsbeziehungen hinweg umfassend übernommen wurde, waren Australien und Neuseeland, beides Siedlergesellschaften. Wenn man akzeptiert, dass in bestimmten unbewohnbaren Regionen das Motiv des persönlichen Gewinns keine geeignete Grundlage zur Anwerbung von Siedler*innen ist, könnte die Unterstützung von Gruppen, die sich der Idee des gemeinschaftlichen Teilens verschrieben haben, der einzige Weg für Regierungen und andere Institutionen sein, um neue Gebiete mit einer „modernen“ (d. h. nicht stammesförmig organisierten) Bevölkerung zu besiedeln.

Diese Analyse aus Sicht der politischen Ökonomie soll in keiner Weise die Bedeutung der internen Dynamiken der Kibbuz-Bewegung oder der idealistischen Beweggründe ihrer Mitglieder in Frage stellen. Kibbuz-Mitglieder haben das gemeinschaftliche Leben immer als wichtiges und eigenständiges Ziel erachtet. Für die meisten von ihnen war dieses gemeinschaftliche Ideal der entscheidende Grund zum Verbleib im Kibbuz.

Dennoch: Wenn wir Bubers Überlegung zum Kibbuz als sozialistischem Experiment, als potenzielles Modell für die Organisierung einer Weltgesellschaft erneut einer Überprüfung unterziehen wollen, dürfen wir unseren Blick nicht allein auf die Sphäre des Gemeinschaftslebens richten. Wir sollten auch die kolonialen Aspekte des zionistischen Siedlungsprojekts berücksichtigen, einschließlich seines rein jüdischen Charakters, der zur kontinuierlichen Enterbung palästinensischer Gemeinschaften im ländlichen Raum geführt hat.

Übersetzt von Sebastian Landsberger, lingua•trans•fair

Daniel DeMalach verbrachte die ersten 34 Jahre seines Lebens im Kibbuz Rewiwim im Süden Israels. Anschließend zog er ins benachbarte Beerscheba, wo er seither lebt. Er lehrt Soziologie am Fachbereich für öffentliche Verwaltung am Sapir Academic College.

Weiterführende Links

RLS Israel: Die Kibbuz-Bewegung im Spiegel der israelischen Öffentlichkeit

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