Die weiße DNA des dunklen Likud
Der konservative Likud galt mehr als vierzig Jahre lang als politische Heimat für Israels Mizrachim, die einst aus Nordafrika und dem Nahen Osten eingewanderten Juden. Eine neue Studie zeichnet jedoch ein differenzierteres Bild der lange vernachlässigten Bevölkerungsgruppe.
Der jüngste Aufruf der Knesset-Abgeordneten Miri Regev an ihre Partei, deren «weiße DNA» aufzugeben und einen aus den Nahen Osten oder Nordafrika stammenden Abgeordneten – am besten sie selbst – an die Parteispitze zu wählen, hat einige Wellen geschlagen. «Die Likud-Mitglieder unter den Mizrachim haben lange Zeit Weiße zu ihrer Führung auserkoren“, sagte Regev im Sommer der Tageszeitung Jedi’ot Acharonot. „Ich denke, nach Bibi Netanjahu wird der Likud Bilanz ziehen müssen», so die rechte Abgeordnete und ehemalige Verkehrsministerin.
Regevs ungenierter Rückgriff auf Identitätspolitik stützt sich auf die langjährige Annahme, die Dominanz des Likud in der israelischen Politik während der vergangenen 40 Jahre beruhe auf seiner mizrachischen Wählerbasis. Doch Stimmen aus der Politikwissenschaft und neue Befragungen deuten darauf hin, dass die Bande zwischen der Partei und den Mizrachim schwächer sind als angenommen.
Noch bedenklicher für Regevs wenig aussichtsreiche Ambitionen auf die Parteiführung ist, dass sowohl unter jüngeren wie unter gut ausgebildeten und fest in der Mittelschicht verankerten Mizrachim die Unterstützung für den Likud bröckelt.
Überholte Stereotype
«Manche halten nur zu gerne an dem Stereotyp fest, dass die Wahlentscheidung der Mizrachim auf einem irrationalen Gefühl der Gruppenloyalität beruhe und den eigenen Interessen zuwiderlaufe», sagt Gal Levy von der Open University. Zusammen mit Maoz Rosenthal und Ishak Saporta hat er Befragungen durchgeführt, denen zufolge das Wahlverhalten der Mizrachim viel differenzierter ist als Regev und andere das glauben.
Die enge Verbindung zwischen Mizrachim und Likud reicht mindestens bis zum Wahlsieg Menachem Begins bei den Parlamentswahlen 1977 zurück, der nach 29 Jahren Vorherrschaft der Arbeitspartei den Likud an die Macht brachte. Die Verbundenheit nahm während der hart umkämpften Wahl von 1981 weiter zu, bei der die ethnische Polarisierung eine entscheidende Rolle spielte. Es gilt als Gemeinplatz , dass sich die Partei dank einer verlässlichen mizrachischen Wählerschaft an der Macht halten konnte. Auch wenn der Likud bei der Wahl im vergangenen März nicht genügend Koalitionspartner für eine Regierungsbildung finden konnte, vereinigte er in der Tat mit Abstand die meisten Stimmen auf sich.
Dennoch liegen keine offiziellen Zahlen zum Wahlverhalten der verschiedenen ethnischen Gruppen in Israel vor, da das Zentralamt für Statistik seine Daten nicht danach aufschlüsselt. Analyst:innen sind deshalb darauf angewiesen, für entsprechende Einschätzungen eigene statistische Untersuchungen durchzuführen.
Abweichungen von der Regel
Hinzu kommt, dass Abstimmungsmuster oft allein aus den Wahlergebnissen in den Hochburgen der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen gewonnen werden. So erhielt der Likud laut Zahlen des Israel Democracy Institute bei der Wahl im März 2021 in ärmeren Kleinstädten der israelischen Peripherie, die einen hohen Mizrachim-Bevölkerungsanteil aufweisen, 39,3 Prozent der Stimmen – 15 Prozent mehr als im landesweiten Durchschnitt.
Doch nur ein Teil dieser Stimmen kommt aus abgelegenen Kleinstädten. Levy und seine Kollegen kamen bei ihrer Untersuchung so auch zu einem ausgewogeneren Ergebnis: Statt die Mizrachim als einheitlichen Block aufzufassen, schlüsselten sie die Grundgesamtheit nach Geburtsort, Religiosität und Bildung weiter auf, wobei die beiden letzten Kategorien als Indikatoren für den sozioökonomischen Status dienten.
Die Ergebnisse ihrer Untersuchung werden die Forscher im Kapitel «Ethnic Demons and Class Specters: An Update on Ethnic and Class Voting in Israel» des in Vorbereitung befindlichen Bandes «The Elections in Israel, 2019-2021» veröffentlichen. Darin wird eine große Kluft innerhalb der Mizrachim deutlich.
Laut Levy gibt es einen signifikanten Unterschied zwischen in Israel geborenen und aus dem Ausland Zugewanderten, sowie zwischen Gebildeten und weniger Gebildeten. «Miri Regevs Einlassungen offenbaren eine sehr spezielle Perspektive auf die Mizrachim, ihr Stimmverhalten und ihre Interessen – sie reduziert sie auf einen besonderen Teil dieser Bevölkerungsgruppe, um Aussagen treffen zu können, die ihren eigenen politischen Zielen entgegenkommen.»
Schwindende Wählerschaft, wachsende Mittelschicht
Der Kern der mizrachischen Wählerschaft, von dem Regev spricht, wird immer kleiner. Die Bevölkerungsgruppe der im Ausland geborenen, meist in den 1950er Jahren eingewanderten Mizrachim altert und schrumpft, weil keine Migrant:innen mehr nachkommen. Obwohl zwischen Aschkenasim und Mizrachim in Israel nach wie vor ein großes Gefälle hinsichtlich Bildung und Einkommen besteht, hat sich der Abstand über die Jahre verringert. Außerdem ist die gehobene mizrachische Mittelschicht gewachsen, wenngleich auf Kosten einer weit auseinandergehenden Einkommensschere unter den Mizrachim selbst.
Kurz gesagt, die Wähler:innen, auf die sich der Likud am stärksten stützt, werden weniger.
Was Umfragen jedoch zeigen, ist, dass Mizrachim tatsächlich häufiger als Aschkenasim zu rechten Ansichten neigen: Laut einer Umfrage des Jewish People Policy Institute von 2019 ordneten sich 72 Prozent von ihnen als rechts oder gemäßigt rechts ein, bei Aschkenasim waren es dagegen 58 Prozent. Heute stehen neben dem Likud jedoch auch noch andere rechte Parteien zur Auswahl.
Auf weniger wackeligen Füßen steht Regevs Kritik an der überwiegend aschkenasischen Abstammung der Likud-Führung. Die Partei hatte in den Jahrzehnten ihres Bestehens nur eine Handvoll Vorsitzende, die jedoch alle europäischer Herkunft waren. Das schließt auch den aktuellen Parteivorsitzenden Benjamin Netanjahu ein, den Regev in ihrem Interview nichtsdestotrotz als mutmaßlichen Gegner des askenasischen Establishments pries.
Netanjahus Nachfolger halten sich bereit
Obwohl Netanjahu noch nicht einmal angedeutet hat, den Parteivorsitz in absehbarer Zukunft abgeben zu wollen, sind als potenzielle Nachfolger vor allem vier aschkenasische Männer im Gespräch: Israel Katz, Nir Barkat, Gilad Erdan und Juli Edelstein. Ein weiterer Kandidat, der zwar kein Parteimitglied ist, Gerüchten zufolge aber Interesse an dem Amt zeigt, ist der ehemalige Mossad-Chef Yossi Cohen. Regev ist somit die einzige mizrachische Kandidatin im Reigen.
Regev hat bereits davor gewarnt, dass ein «neuer» Likud entstehen werde, wenn die Partei an ihrer Spitze keinen Platz für einen Mizrachi macht: «Wenn die Likud-mitglieder wieder eine Führung mit weißer DNA wählen, wird ein weiterer Likud aufkommen – ein wahrhaft mizrachischer Likud, der der Stimme der Mizrachim Gehör verschafft, die über lange Zeit ignoriert wurde».
Ergebnissen des Jewish People Policy Institute zufolge spielt die ethnische Herkunft der politischen Führung jedoch für die überwältigende Mehrheit der Likud-Wähler:innen keine Rolle. 63 Prozent der Mizrachim gaben an, dass sie einem Kandidaten oder einer Kandidatin aus ihren eigenen Reihen nicht unbedingt den Vorzug geben würden.
Meir Amor vom Lehrstuhl für Soziologie und Anthropologie an der Concordia University in Montreal behauptet, dass sich selbst führende Mizrachi-Politiker der Partei nicht ernsthaft für die wichtigen Belange ihrer Basis engagieren. Stattdessen agierten sie wie Stimmenlieferanten im Auftrag der aschkenasischen Parteiführung. Der letzte mizrachische Politiker, der wirkliche Chancen auf den Parteivorsitz hatte, war David Levy in den 1990er Jahren. Er scheiterte und zog sich aus der Politik zurück.
Entfremdung von den Marktradikalen
Die, die nach ihm kamen, bezeichnet Amor als „Marionetten“, darunter David Amsalem, Miki Zohar und Amir Ohana, drei Knesset-Abgeordnete, die vor allem als eiserne Unterstützer Netanjahus bekannt sind. «Sie haben keine wirkliche Macht, bringen aber politische Vorteile – das ist eine Polit-Maschinerie, keine demokratische Politik.» Nach Einschätzung des Professors spricht Regev «für eine kleine Minderheit, nicht für die Mehrheit der Mizrachim. Weil sie es in die Schlagzeilen schafft, wirkt es, als stünde reale Politik dahinter. Doch es ist eine PR-Strategie, die aufstacheln soll, keine seriöse Politik wie wir sie brauchen.»
Sowohl Amor als auch Levy sehen Anzeichen dafür, dass die marktliberale Wirtschaftspolitik und die Vernachlässigung des Wohlfahrtsstaats durch den Likud, insbesondere unter Netanjahu, im Stillen zu einer Entfremdung der einkommensschwachen Mizrachim geführt haben, die die rechte, nationalistische Ausrichtung der Partei eigentlich befürworten. Auch wenn Appelle der Linken, die Seiten zu wechseln, ins Leere gelaufen sind – vor allem jene der Israelischen Arbeiterpartei unter Führung des in Marokko geborenen Amir Perez –, stellen Politikwissenschaftler*innen fest, dass die Wahlbeteiligung in Kleinstädten mit hohem Mizrachi-Bevölkerungsanteil auf ein sehr niedriges Niveau gesunken ist.
Bei der Knesset-Wahl im vergangenen März blieben in Bat Jam südlich von Tel Aviv fast 52 Prozent der Wahlberechtigten den Urnen fern. In den zwölf größten Städten mit einer Mizrachi-Bevölkerungsmehrheit kam die Wahlbeteiligung nie über 61 Prozent, während sie im Landesdurchschnitt bei 67 Prozent lag, einschließlich arabischer Städte mit einer Wahlbeteiligung von unter 45 Prozent.
In Anbetracht dessen schätzt Hani Zubida, Politikwissenschaftler am Jezreel Valley College, dass im März nur 17,1 Prozent der wahlberechtigten Mizrachim für den Likud gestimmt haben.« In Israel haben sich zahlreiche Menschen vom System entfremdet, unter ihnen viele Mizrachim, die überhaupt nicht wählen gehen», fasst Amor zusammen. «Das muss man im Auge behalten“, so der Soziologe, der Anzeichen dafür sieht, „dass die unteren Klassen das Interesse verlieren.»
Übersetzung aus dem Englischen von Gegensatz Translation Collective
Der Artikel erschien zuerst am 23. August 2021 in der englischen Ausgabe der israelischen Tageszeitung Haaretz
David E. Rosenberg ist Wirtschaftsredakteur und Kolumnist der englischen Ausgabe von Haaretz und Autor von Israels Technology Economy.
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