Vertriebene Palästinenser*innen, Khan Yunis, Gaza-Streifen, 20.10.2023. Foto: Mohammed Zaanoun, ActiveStills
Gefangen zwischen zwei schmerzhaften Realitäten
In einem Moment berichten mir Freund*innen aus Gaza von massenhaftem Tod und Vertreibung; im nächsten Moment mache ich mir furchtbare Sorgen um meine entführte israelische Freundin.
An jenem unheilvollen, entsetzlichen Samstagmorgen wollte ich gerne glauben, es sei alles nur ein böser Alptraum – gleich wache ich bestimmt auf, es wird alles vorbei sein, ein ganz normaler, langweiliger freier Tag. Aber nein. Wir sind in eine furchtbare Realität geraten – Israelis wie Palästinenser*innen, jüdische und arabische Menschen, hier in Israel und auf der anderen Seite des Grenzzauns in Gaza, im Süden, im Zentrum und im Norden, in Jerusalem und dem Westjordanland, überall. Das Klima ist erstickend. Das Grauen der Leichen, der Verletzten, der Entführten lässt uns nicht los.
An jenem Tag wussten wir, dass eine massive, grausame und maßlose israelische Reaktion für mehr als zwei Millionen Menschen, die in ihrer überwältigenden Mehrheit genau wie wir völlig entsetzt sind, das Tor zur Hölle aufstoßen wird. Ihr einziges Vergehen besteht darin, seit 16 Jahren im belagerten Gaza-Streifen zu leben – unschuldige Menschen, die den furchtbaren Preis für «Israels Vergeltung» bezahlen werden.
Die moralischste Armee der Welt macht sich sofort ans Werk, sie muss ihre verlorene Ehre wiederherstellen und geht zum Angriff über. Ihre Bombardierungen mögen das Verlangen stillen, die Menschen auf der anderen Seite des durchbrochenen Gaza-Grenzzauns auszulöschen, aber in diesem Blutbad drohen wir alle zu unterzugehen – Israelis wie Palästinenser*innen.
Seit dem 7. Oktober lebe ich in zwei unterschiedlichen Welten. In der einen sehe ich auf TikTok und Instagram entsetzliche Videos von Israelis aus dem Süden des Landes, die bewaffnete, maskierte Männer anflehen, sie am Leben zu lassen, und dann massakriert werden. Bilder von ermordeten Kindern, Alten, Frauen und Männern. Tote Kinder, entführte alte Frauen, eine völlig verängstige Mutter, die ihre zwei Kleinen im Arm hält und auf Rettung hofft.
Kein Mensch kann in einer solchen Situation die Fassung bewahren: im Angesicht eines sicheren Todes im Keller des eigenen Hauses, auf dem Küchenboden, draußen auf der Straße, auf dem Weg zum Fluchtwagen. Das ist echter Terrorismus: in einen Ort einzudringen, der vollkommen sicher scheint, und das Feuer auf wehrlose Menschen zu eröffnen. Anders kann man einen solchen Akt nicht bezeichnen.
In der anderen Welt verfolgen mich Videos von Zerstörung, Bombardierungen, zerfetzten Körpern, von ganzen Familien, die unter den Trümmern ihrer Häuser begraben sind. Videos der Gewalt von «Iron Swords» (Eiserne Schwerter), wie das israelische Militär seine «Operation» in Gaza getauft hat: ein palästinensisches Massengrab aus Betonbrocken und Müll; Väter, die mit blutüberströmten Säuglingen auf dem Arm davonrennen; Mütter, die in Gazas brennenden Straßen vor Schmerz und Trauer schreien.
«Der Tod kommt von allen Seiten»
Die israelischen Luftangriffe halten schon seit Tagen an. Überall schlagen Granaten, Raketen und Bomben ein. Von meinem Haus im Zentrum des Landes aus kann ich die israelischen Kampfjets über mir am Himmel hören und sehen, es nimmt kein Ende. Mein Sohn kennt sich inzwischen bestens mit den Geräuschen des Krieges aus: Eine israelische Bombe erschüttert die gesamte Gegend und erzeugt ein grelles Licht; die Raketen der Hamas schlagen mit einem viel schwächeren kurzen Knall ein, und wenn das Abwehrsystem Iron Dome sie abfängt, sieht man die Explosion in der Luft – wie ein Pilz am Himmel.
Einerseits verfolge ich die Nachrichten über die Vermissten und Ermordeten aus der Naqab/Negev-Region; jüdische Freund*innen und Bekannte suchen online nach Angehörigen, eine ganze Beduinenfamilie – darunter vier Kinder –, die ohne Schutzraum in der Wüste Naqab lebte, wurde ermordet. Andererseits versuche ich Freundinnen in Gaza, die ich vor zwei Monaten in den Flüchtlingslagern kennengelernt habe, über WhatsApp anzurufen, um sicherzugehen, dass sie noch am Leben sind.
«Meine Onkel haben im großen Palestine Tower gewohnt, der zuerst bombardiert wurde», berichtet eine von ihnen. «Sie bekamen einen Anruf vom Militär, dass sie das Gebäude verlassen sollen, fünf Minuten später sind sie los. Alle Bewohner*innen haben mit eigenen Augen gesehen, wie ihre Wohnungen einstürzten. Meinen Onkeln geht es gut, manche von ihnen sind mit Angehörigen draußen auf der Straße oder in Schulen, aber auch dort ist es gefährlich. Am zweiten Tag [der Bombardierungen] gab es keine Vorwarnungen mehr, die Bomben fielen vom Himmel und das war’s. Der Tod kommt von allen Seiten, jeder kann jeden Moment sterben. Falls ich überleben sollte, wird sicherlich jemand anderes aus meiner Familie umkommen.»
Eine andere Frau aus dem Flüchtlingslager Al-Maghazi erzählt mir: «Ich habe bei zwei Bombardierungen 15 Angehörige verloren. Mein Bruder und seine Kinder haben es nicht mehr geschafft, rechtzeitig das Haus zu verlassen. Neffen und Cousinen, alle haben sich zusammen auf den Boden geworfen. Bislang wurden sieben Leichen gefunden; wann und wie wir sie beerdigen werden, weiß ich nicht.»
Aus dem Flüchtlingslager Deir al-Balah schreibt mir eine Aktivistin des Frauenzentrums: «Wir erwarten den Tod und hoffen, es wird ein schneller sein. Es gibt kein Wasser, keinen Strom, kein Essen. Die Menschen hier leben im Belagerungszustand, vielleicht versteht die Welt jetzt, dass wir hier seit Jahren eingesperrt sind.»
Und eine andere Freundin meint: «Natürlich ist [der Angriff der Hamas] furchtbar. Wir haben alle Angst vor diesem Krieg. Die Israelis haben einen heftigen Schlag erlitten, und du weißt, dass ich die Hamas dafür hasse, was sie seit Jahren mit uns macht. Israel bombardiert uns alle ein oder zwei Jahre und bringt seit 15 Jahren Tausende Menschen um. Aber vielleicht gibt es auch die schwache Hoffnung, dass all die Märtyrer nicht umsonst fallen werden, dass es diesmal im Austausch gegen die Geiseln ein wirkliches Waffenstillstandsabkommen geben wird und nicht bloß eine jämmerliche hudna [Feuerpause] – eine hudna ohne Freiheit, ohne Bewegungsfreiheit, ohne die Möglichkeit, die Grenze zu passieren und seinen Lebensunterhalt mit Würde zu verdienen, anstatt auf hundert Dollar aus Katar zu warten, die die Hamas verteilt. Die Welt, besonders die Israelis, wird jetzt begreifen, dass man uns nicht auf ewig einsperren kann.»
Zuflucht in Ramallah?
Ich bekomme diese schwierigen Gespräche mit meinen Freundinnen in Gaza, die in ein paar Stunden vielleicht nicht mehr am Leben sind, einfach nicht aus dem Kopf – und dann erfahre ich, dass meine Freundin Vivian Silver aus dem Kibbuz Be’eri entführt worden ist. Ich scrolle durch unsere Chat-Nachrichten; bei der Vorstellung, wie maskierte Männer sie an einen unbekannten Ort im Gaza-Streifen verschleppen, stockt mir der Atem.
Vivian ist Friedensaktivistin, eine mutige Frau mit großartigem Sinn für Humor, die sich standhaft geweigert hat, aufzugeben. Sie hat sich für das Ende der Belagerung eingesetzt und immer gehofft, eines Tages wieder ungehindert den Gaza-Streifen besuchen zu können. Wir werden uns später Witze über ihre Erlebnisse in der Gefangenschaft erzählen, rede ich mir ein, ganz bestimmt wird sie freikommen.
Die Namen der 13 ermordeten Beduin*innen werden veröffentlicht, gefolgt von der Liste der Entführten und Vermissten aus der Naqab-Region. Die Angehörigen der Geiseln sprechen auf einer Pressekonferenz, aber die Familien der Beduin*innen sehe ich dort nicht. Aus hinlänglich bekannten Gründen bin ich mir ziemlich sicher, dass wir von ihrem Leid nichts mehr hören werden.
Und als wären die palästinensischen Bürger*innen Israels aufgrund all dieser Schocks nicht schon zerrissen und benommen genug, müssen sie nun auch noch Gewaltakte aus der jüdischen Bevölkerung fürchten. In sogenannten «gemischten Städten» – die sich von den traumatischen Ereignissen im Mai 2021 noch immer nicht erholt haben – werden in palästinensischen Chat-Gruppen Warnhinweise für das Verhalten in einem Umfeld gegeben, in dem die Stimmung hochkocht und Gewaltaufrufe gegen Araber*innen weite Verbreitung in hebräischen Sozialen Medien finden.
Meine Kinder haben mir dringend davon abgeraten, mich in hebräischen Medien zu Wort zu melden – jeder Aufruf zu Frieden, Koexistenz, Solidarität und ein Minimum an Vernunft werde an der jetzigen Situation nichts ändern, könne aber die Familie in Gefahr bringen, wie bereits während des Gaza-Kriegs 2014.
Eine Freundin aus Bil’in, einem Ort bei Ramallah im besetzten Westjordanland, ruft an, um zu hören, wie es mir geht – sie hat mitbekommen, dass die Hamas-Raketen auch bei uns eingeschlagen sind und Siedler*innen uns Rache androhen. «Ihr Araber in Israel tut mir wirklich leid», meint sie. «Ihr werdet von allen Seiten angegriffen. Egal was ihr macht, euch trifft es immer. Kommʼ doch mit den Kindern für ein paar Tage zu mir.» Eine Palästinenserin aus Ramallah bietet einer Palästinenserin aus Israel Zuflucht an, weil sie Angst hat, eine Rakete der Hamas oder der Zorn der jüdischen Bevölkerung, in deren Mitte sie lebt, könne sie treffen.
Mir rast der Kopf vor all den Gedanken über diesen unfassbar komplizierten, mit einem Fluch beladenen Ort, in den wir hineingeboren wurden, über die erbärmliche Führung auf beiden Seiten, die uns – eine so vielfältige Gesellschaft, so traurig und lebensfroh zugleich – ins Nichts führt. Mein Herz und mein Verstand haben sich abgemeldet: totaler Stillstand. Ich kann nicht mehr. Ich brauche einfach nur Ruhe.
Übersetzung aus dem Englischen von Gegensatz Translation Collective.
Dieser Artikel ist am 13.10.2023 ursprünglich in englischer Fassung in +972Magazine erschienen.
Autor:in
Samah Salaime ist eine palästinische feministische Aktivistin und Autorin.