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Israelische Siedler*innen in Ost-Jerusalem: Ideologie, Archäologie und Immobilien

Wie sind die israelischen Siedlungen in Ost-Jerusalem beschaffen? Mit welchen Methoden wird die palästinensische Bevölkerung verdrängt? Und welche Rolle spielt eine ideologisierte Archäologie in diesem Zusammenhang? Das alles beantwortet einer der größten Kenner Jerusalems.

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Im September 2017, nach einem zehnjährigen Rechtsstreit, kamen Polizei- und Sicherheitskräfte zu dem kleinen Haus der Familie Schamasna in Scheich Dscharrah, einem palästinensischen Stadtviertel nördlich der Jerusalemer Altstadt, und setzten die sechs Menschen, die darin lebten, auf die Straße: ein über 80-jähriges Ehepaar, ihre Kinder und Enkel*innen. Einige Stunden danach zogen junge jüdische Siedler*innen ein, die dort bis heute wohnen.

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Proteste gegen die Räumung der Familie Schamasna in Scheich Dscharrah, September 2017. Foto: Activestills

Dies war ein weiterer Erfolg der Siedlerorganisationen in Ost-Jerusalem. Wie auch in anderen Fällen beruhte dieser Erfolg auf diskriminierenden Gesetzen und auf der Unterstützung, die die israelischen Behörden den Siedlerorganisationen in Rechtsstreitigkeiten gewähren. Die Familie Schamasna verlor das Haus, in dem sie seit den 1960er Jahren gewohnt hat, weil es auf Land gebaut worden war, das vor 1948 jüdischen Eigentümer*innen gehört hatte. Im Gegensatz zu den Palästinenser*innen können jüdische Israelis die Rückgabe von ihrem vor und während des Kriegs von 1948 verlassenen Eigentum verlangen. Dieser Erfolg der Siedler*innen vergrößerte die «israelische Insel» in dem palästinensischen Viertel und schürte weiter die Frustration und den Zorn der palästinensischen Einwohner*innen. In den kommenden Monaten werden die meisten Nachbar*innen der Familie Schamasna mit einer ähnlichen Forderung, ihre Häuser und Wohnungen zu räumen, konfrontiert sein. Der Erfolg der Siedler*innen wird den Charakter des palästinensischen Stadtviertels Scheich Dscharrah drastisch verändern.

Die israelischen Siedlungen in Ost-Jerusalem

Die israelischen Siedlungen in Ost-Jerusalem lassen sich in mehrere Kategorien unterteilen. Zur ersten Kategorie, die das Stadtbild in den letzten 50 Jahren geprägt hat, gehören die großen Stadtviertel, die von der Regierung auf freien Flächen in dem nach dem Krieg 1967 annektierten Gebiet errichtet wurden. In diesen Vierteln wohnen mehr als 200.000 Israelis, und einige von ihnen sind größer als so manche Kleinstadt in Israel. Diese Viertel wurden auf Initiative der Regierung seit den späten 1960er Jahren bis 1990 gebaut, und zwar auf Land, das zu diesem Zweck enteignet worden war, zumeist von Palästinenser*innen. Nach internationalem Recht gelten diese Viertel in jeder Hinsicht als völkerrechtswidrige Siedlungen, da sie auf besetztem Land östlich der Grünen Linie [Begriffserklärung siehe Glossar] errichtet wurden, die Israels international anerkannte Grenze darstellt. Dennoch besteht in der internationalen Gemeinschaft mittlerweile ein relativ breiter Konsens darüber, dass bei jedem zukünftigen Abkommen zwischen Israel und den Palästinenser*innen diese Viertel unter israelischer Herrschaft bleiben werden.

Zur zweiten Kategorie gehören die Siedlungen, die auf Initiative von Nichtregierungsorganisationen, die mit der israelischen Rechten verbunden sind, in palästinensischen Vierteln von Ost-Jerusalem errichtet wurden. Im Gegensatz zu den Bewohner*innen der von der Regierung errichteten Vierteln wohnen in diesen Siedlungen zumeist Menschen, für die die Tatsache, dass sie inmitten eines palästinensischen Viertels wohnen, von ideologischer oder religiöser Bedeutung ist. Das erklärte Ziel der Errichtung dieser Siedlungen ist die «Judaisierung», das heißt physische und demografische Veränderungen, mit denen die palästinensische Präsenz in der Stadt reduziert werden soll, insbesondere in der ummauerten Altstadt in Ost-Jerusalem, dem historischen Kern der Stadt, der für alle drei monotheistischen Religionen von großer Bedeutung ist. Ihr Bau wurde zum einen durch umfangreiche Spenden hauptsächlich aus den USA ermöglicht, zum andern durch die enthusiastische Unterstützung, die sie von allen israelischen Regierungen in den letzten Jahrzehnten erfahren haben. Der Staat sorgt für ihre Sicherheit und gibt ihnen politische und rechtliche Rückendeckung.

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Von israelischen Siedler*innen übernommenes Haus im muslimischen Viertel der Altstadt von Ost-Jerusalem, 2016. Foto: Activestills

Trotz dieser breiten Unterstützung haben diese Siedlungen die Grenzen zwischen der israelischen und der palästinensischen Bevölkerung in der Stadt nicht wesentlich verändert. Sie führten auch nicht zu dem demografischen Wandel in den palästinensischen Vierteln, den sich ihre Gründer*innen vielleicht erhofft hatten. Nach mehr als 30 Jahren dieser Art des Siedlungsbaus leben dort etwa 2.500 Siedler*innen, was weniger als einem Prozent der palästinensischen Bevölkerung Jerusalems entspricht. Die Auswirkungen dieser Siedlungen auf die Stadt und ihre palästinensischen Einwohner*innen stehen jedoch in keinem Verhältnis zu ihrer Größe. Sie gehen weit darüber hinaus. Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die Gewalt in den Vierteln zugenommen hat, dass die palästinensischen Bewohner*innen häufiger Erniedrigungen im Alltag erfahren, dass sich die Beziehungen zwischen der palästinensischen Bevölkerung und den israelischen Behörden weiter verschlechtern, dass die politische Situation noch komplizierter wurde und dass die Chancen auf ein israelisch-palästinensisches Friedensabkommen noch geringer geworden sind. Außerdem hat das Vorgehen der Siedlerorganisationen dazu beigetragen, den Rechtsstaat in Israel zu zersetzen. So haben sie Gerichte, Stadtverwaltung und Ministerien mobilisiert, um ihr Siedlungsvorhaben voranzutreiben, oftmals über die «Beugung» von Rechtsgrundsätzen sowie über die offene Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung der Stadt.

Mit der Zunahme des Siedlungsbaus in Ost-Jerusalem entstand eine neue Kategorie von Siedlungen, die als Luxussiedlungen bezeichnet werden können. Hierbei handelt es sich um kleine, gut abgeriegelte Gebäudekomplexe mitten in palästinensischen Vierteln, in denen sich keine jungen idealistischen Siedler*innen niederlassen, sondern eher recht wohlhabende Familien, die hier einen atemberaubendem Blick auf den Tempelberg genießen. Aber auch in diesem Fall gilt, dass ein hohes Maß an ideologischer Überzeugung erforderlich ist, um mitten in einem palästinensischen Viertel zu leben.

Freier Markt? Die Methoden der Verdrängung von Palästinenser*innen aus ihren Häusern

Wenn die internationale Gemeinschaft, die Medien oder Palästinenser*innen sich gegen den Ausbau von jüdischen Siedlungen in den palästinensischen Vierteln wenden, haben die israelischen Regierungssprecher*innen immer eine Antwort parat: Es handele sich um den privaten Kauf von Immobilien auf dem freien Markt; es könne nicht verhindert werden, dass eine jüdische Person etwas kauft oder eine arabische etwas verkauft. Der Staat sei nicht befugt, in diesen Prozess einzugreifen. Das ist natürlich eine scheinheilige Antwort, denn ohne massive Unterstützung vonseiten der Regierung könnten die Siedlungen in Ost-Jerusalem weder errichtet werden noch überleben. Im Laufe der Jahre haben die Siedler*innen in Ost-Jerusalem eine Reihe von Methoden entwickelt, um Häuser an sich zu bringen und dort lebende palästinensische Familien zu vertreiben. All diese Methoden funktionieren dank der Unterstützung, die sie von den verschiedenen Behörden erhalten.

Eine der zentralen Methoden, die auch im Fall der Familie Schamasna Anwendung fand, ist die Übernahme von jüdischem Eigentum, das während des Kriegs von 1948 verlassen wurde. Während des Kriegs von 1948 gaben in Jerusalem viele Menschen ihren Grundbesitz auf, weil sie auf die andere Seite der Grenze flüchten mussten. Zum größten Teil handelt es sich dabei um Häuser und Land im westlichen Teil der Stadt und in den umliegenden Dörfern, die von Palästinenser*innen verlassen wurden, die nach Osten vertrieben wurden oder geflohen sind. Ein kleiner Teil des verlassenen Grundbesitzes war der von jüdischen Menschen, die östlich des Grenzverlaufs, der zur Grünen Linie wurde, wohnten und gen Westen flohen. Das israelische «Gesetz über das Eigentum von Abwesenden» (1950) verhindert es, dass Palästinenser*innen den von ihnen in West-Jerusalem verlassenen Grundbesitz zurückfordern können, während jüdische Menschen den von ihnen in Ost-Jerusalem zur gleichen Zeit verlassenen Grundbesitz zurückverlangen können. Die Siedlerorganisationen suchen gezielt nach Nachkommen von Juden, die vor 1948 in den Ost-Jerusalemer Vierteln lebten, lassen sich von ihnen eine Vollmacht ausstellen und fordern dann, dass palästinensische Familien die Häuser räumen müssen, in denen sie oft schon seit vielen Jahrzehnten leben. So ist zum Beispiel die jüdische Siedlung in Scheich Dscharrah entstanden und ein Teil der Siedlung in Silwan.

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Blick auf Silwan und der israelischen Siedlung inmitten des palästinesischen Viertels. Ost_Jeruselem, 2016. Foto:Activestills

Eine andere Methode bedient sich des bereits erwähnten «Gesetzes über das Eigentum von Abwesenden», das als Rechtsgrundlage für die Beschlagnahmung von Eigentum dient, das palästinensische Geflüchtete auf dem israelischen Staatsgebiet nach dem Krieg von 1948 zurückließen. Das Gesetz erlaubt es unter anderem, dass jede Person, die in Israel Eigentum besitzt und in einem feindlichen Land wohnt oder sich auf dessen Territorium aufhält, zu einer «abwesenden Person» erklärt werden kann. Ihr Eigentum kann dann laut dem Gesetz kompensationslos beschlagnahmt, der Treuhand übergeben und «zur Entwicklung des Landes [Israel]» genutzt werden. Auf der Grundlage dieses Gesetzes wurden alle Häuser, aller Landbesitz und anderes Eigentum von Palästinenser*innen, die während des Kriegs von 1948 geflüchtet sind oder vertrieben wurden, beschlagnahmt, unter anderem auch in West-Jerusalem. Die Besatzung und Annexion im Jahr 1967 führten zu einer kafkaesken Wendung. Nun wurde es möglich, auch das Eigentum von Palästinenser*innen zu beschlagnahmen, die nicht ihre Wohnorte verlassen haben, sondern nur das Pech hatten, dass ihr Eigentum sich im nach dem Krieg von 1967 von Israel annektierten Ost-Jerusalem befindet, während sie nicht oder nicht mehr anerkannte Einwohner*innen der Stadt sind. In diesem Zusammenhang gilt die Westbank, obwohl sie von Israel besetzt ist, formal immer noch als «feindlicher Staat». Zum Beispiel wurde das Cliff Hotel in Abu Dis seinen Eigentümer*innen deshalb weggenommen, weil sie ganze 200 Meter davon entfernt wohnen und damit schon außerhalb der Stadtgrenze von Jerusalem.

Einige der Siedlerorganisationen versuchen auch, mithilfe von Verlockungen, Drohungen und Erpressungen Palästinenser*innen dazu zu bringen, ihr Eigentum zu verkaufen. Die Tageszeitung Haaretz enthüllte 2017 einen Gesprächsmitschnitt, in dem der Leiter der Organisation Ateret Kohanim, eine der beiden großen Organisationen, die sich der «Judaisierung» der palästinensischen Viertel in Ost-Jerusalem verschrieben haben, einen palästinensischen Mann dadurch zum Verkauf zu überreden versucht, indem er ihm sexuelle Dienste verspricht.

Der gerichtliche Kampf gegen Zwangsräumungen dauert viele Jahre, und in diesen Gerichtsverfahren zeigt sich auch die schwache Position der palästinensischen Familien, die mit den Räumungsforderungen konfrontiert sind. Ihre oft unzureichende Kenntnis der hebräischen Sprache und des israelischen Rechts sowie ihre beschränkten finanziellen Mittel machen sie zu einer leichten Beute. Sie kämpfen gegen Organisationen mit viel Geld und cleveren Anwälten, die über unendlich viel Zeit und Geduld verfügen. Für die Siedlerorganisationen bedeutet eine Niederlage vor Gericht oftmals nur eine Verschnaufpause, in der sie den nächsten Angriff planen. Viele Verfahren ziehen sich über Jahrzehnte hin und am Ende sind die palästinensischen Familien oftmals erschöpft und verarmt und verlieren ihre Häuser.

Staatlich finanzierte Sicherheit für Siedler*innen

Die Anwesenheit vereinzelter jüdischer Familien mitten in palästinensischen Vierteln macht es erforderlich, ständig für deren Sicherheit zu sorgen. Zu diesen Sicherheitsmaßnahmen gehören die Umzäunung von Gebäuden, die Aufstellung von Wachposten, die Installierung von Überwachungskameras sowie bewaffnete Sicherheitskräfte, die die Siedler*innen durch die Gassen der Altstadt begleiten, oder gepanzerte Fahrzeuge, die sie zu ihren Häusern in Silwan bringen. An manchen Orten können die Siedler*innen ihre Häuser ohne Begleitung praktisch nicht mehr verlassen. Jedes Mal, wenn Gewalt in Jerusalem wütet – etwa nach der Ermordung des palästinensischen Jungen Muhammad Abu Khadhir oder während der Operation «Protective Edge» im Gazastreifen im Jahr 2014 –, richtet sich der Zorn der Palästinenser*innen zuerst gegen die jüdischen Häuser in ihren Vierteln. Viele Jahre lang ist fast kein Tag vergangen, an dem keine Steine oder Molotowcocktails auf die Häuser oder Fahrzeuge der Siedler*innen geworfen wurden. Die Überwachungskameras, die vergitterten Fenster und Dächer, die verbrannten Türen, der Müll, der vor den Hauseingang geworfen wurde, und die zerrissenen israelischen Fahnen sind zu Symbolen der täglichen Auseinandersetzungen geworden. Andererseits leiden die palästinensischen Nachbar*innen unter der ständigen Präsenz von Polizei- und Sicherheitskräften in der Nähe ihrer Häuser. In den letzten Jahren kam es zu Dutzenden von gewaltsamen Zusammenstößen in der Nähe von jüdischen Häusern. Die Polizei scheut sich nicht, exzessive Gewalt einzusetzen. Zum Beispiel schießt sie mit Gummigeschossen, die schwerwiegende Verletzungen verursachen können, verwendet Tränengas und verspritzt eine Substanz, Stinktier genannt, die einzuatmen zu ernsthaften Gesundheitsschäden führen kann. Die unsichere Situation hat den Staat dazu gezwungen, das Budget für Maßnahmen zum Schutz der Siedler*innen in Silwan immer weiter zu erhöhen. Nach Schätzung einer gut informierten Quelle beliefen sich 2016 die Kosten für den Schutz einer jüdischen Familie, die mitten in Silwan lebt, auf ungefähr eine Million Schekel [ca. 240.000 Euro] pro Jahr. Aufgrund einer politischen Entscheidung Anfang der 1990er Jahre liegt die Verantwortung für die Sicherheit der jüdischen Bewohner*innen Ost-Jerusalems nicht bei der Polizei, sondern beim Bauministerium. Daraus ergeben sich zwei Probleme: Zum einen gehen die Gelder, die für die Sicherheit der Siedler*innen in Ost-Jerusalem verwendet werden, auf Kosten des Budgets, das dem sozialen Wohnungsbau und anderen sozialen Zwecken dienen soll, und zum andern sind die Befugnisse der privaten Sicherheitskräfte, die das Bauministerium zu diesem Zweck anstellt, problematisch. Es lässt sich argumentieren, dass die Siedler*innen in Ost-Jerusalem den Schutz einer Art privater Polizei genießen. Im Gegensatz zur regulären Polizei, die zumindest formell verpflichtet ist, alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen zu schützen, besteht die Aufgabe dieser Sicherheitskräfte gemäß Definition darin, die jüdischen Siedler*innen vor den Palästinenser*innen zu schützen. Eine von der Regierung eingesetzt Kommission kam 2005 zu dem Schluss, dass dieses Sicherheitsarrangement aufgehoben und die Aufgabe der Polizei übertragen werden sollte. Die Regierung fasste auch einen entsprechenden Beschluss, der jedoch auf Druck rechtsnationalistischer Organisationen wieder aufgehoben wurde.

Silwan: Archäologie als Mittel rechtsnationalistischer Politik

Das beste Beispiel für den Erfolg der Siedlungsaktivitäten in Ost-Jerusalem sind die Veränderungen, die im südlich von der Altstadt gelegenen Silwan in den letzten 30 Jahren stattgefunden haben. Silwan ist praktisch ein Armenviertel, in dem 20.000 Palästinenser*innen dicht gedrängt unter sehr schwierigen Bedingungen leben. Die meisten Häuser stehen sehr eng beieinander und wurden ohne richtige Planung und ohne Genehmigung gebaut, wobei anzumerken ist, dass es fast unmöglich ist, in Silwan eine solche zu bekommen. Folglich haben die Palästinenser*innen keine andere Wahl, als ohne offizielle Erlaubnis zu bauen. Die Infrastruktur ist aufgrund langjähriger Vernachlässigung höchst mangelhaft, und es kommt fast täglich zu kriminell oder nationalistisch motivierten Gewalttätigkeiten.

In Silwan ist die Organisation Elad (das Akronym von El Ir David, zu Deutsch «hin zur Davidstadt») tätig, fraglos die wichtigste Siedlerorganisation in Ost-Jerusalem. Die Stärke dieser Organisation besteht nicht nur in ihren großen Erfolgen bei der Übernahme von palästinensischen Häusern mit den oben erwähnten Methoden, sondern auch in ihrer sehr engen Zusammenarbeit mit den Behörden, wodurch sie eine sehr wichtige Rolle bei der Entwicklung des Tourismus und der Archäologie in dem Gebiet spielt.

Im Jahr 1997 übertrug die israelische Regierung der Organisation Elad die Leitung des Davidstadt-Nationalparks, ein großes Gelände, das sich in der Nähe des Tempelbergs und der al-Aqsa-Moschee, auf dem auch Palästinenser*innen leben und sich immense archäologische Schätze befinden. Mit Unterstützung der Behörde für Naturschutz und Parks und der Antikenverwaltung begann Elad mit für Jerusalem beispielslosen Ausgrabungen. Um die Ausgrabungen herum öffnete sie das Gelände für den Tourismus. Aufgrund der guten Beziehungen der Organisation zu den Behörden wurde der Davidstadt-Nationalpark zu einem Ort, den israelische Schüler*innen (auf Klassenfahrten) und Soldat*innen (im Rahmen ihres Armeediensts) besuchen müssen. Heute ist er eines der populärsten Touristenziele in Israel und in der Westbank. Im Jahr 2017 wurde dem Leiter der Organisation Elad, David Be’eri, der Israel-Preis verliehen, die wichtigste Auszeichnung des Landes.

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Ausgrabungsstätte "Ir David" (Davidstadt), Ost-Jerusalem. Photo EAPPI/L. Sharpe

Die Kombination Schaffung von Arbeitsplätzen, Archäologie und Tourismus und dem Ansatz palästinensische Häuser an sich zu bringen, um dort jüdische Menschen anzusiedeln, hat sich für Elad ausgezahlt und der Organisation enorme Macht verliehen. Die Ausgrabungen haben ihre Beziehungen mit den Behörden enger werden lassen. Zudem wurde damit ihre Kontrolle über das Land gestärkt, da es sich bei archäologischen Stätten letztendlich um Immobilien handelt. Und was am allerwichtigsten ist: Die Ausgrabungen erlaubten es der Organisation, die Geschichte Jerusalems einseitig als die Geschichte einer rein jüdischen Stadt zu erzählen und dies den zahlreichen Besucher*innen auch so zu vermitteln. Die Organisation legt einen besonderen Schwerpunkt auf Funde aus der Eisenzeit, die die Existenz des Reichs von David, wie es in der Bibel beschrieben ist, belegen sollen, sowie auf Funde aus der Römerzeit. Besonders hervorgehoben wird der Zweite Tempel und seine besondere Bedeutung für die jüdische Stadtgeschichte. Nach Ansicht vieler Forscher*innen verzerrt dies die Archäologie. Die israelische Regierung jedoch begrüßt diese Ausrichtung und unterstützt die Arbeit der Organisation intensiv. Diese Unterstützung, zusammen mit enormen Spenden, die sie von Juden und evangelikalen Kreisen in den USA erhalten, hat die Organisation Elad zu einer der reichsten und mächtigsten NGOs in Israel und zu einem Vorbild für andere in der Westbank arbeitende Siedlerorganisationen gemacht.

Die archäologischen Aktivitäten von Elad haben eine weitere Facette: nämlich die Schaffung neuer Räume in Jerusalem «aus dem Nichts» durch sehr umfangreiche unterirdische Ausgrabungen. Die größte Ausgrabung dieser Art, die in den letzten Jahren vorangetrieben wurde, ist eine breite Treppenstraße aus der Herrschaftszeit des römischen Klientelkönigs in Judäa, Herodes[1], die vom Teich von Siloah[2] hoch zum Tempelberg führte. Sie befindet sich etwa zehn Meter tief unter der Hauptstraße des palästinensischen Viertels Silwan. Es handelt sich dabei um ein riesiges Wissenschafts- und Tourismusprojekt, das von israelischen Politiker*innen begeistert unterstützt wird. Der rechtsnationalistische Bürgermeister Nir Barkat erklärte seinen Anhänger*innen, das Ziel des Projekts bestehe darin, den Besucher*innen der Stadt «verständlich zu machen, wer wirklich der Herr in dieser Stadt ist». Israels Kulturministerin Miri Regev erklärte: «Ich stehe hier auf dem Weg, auf dem meine Vorfahren vor 2.000 Jahren gegangen sind. Kein anderes Volk der Welt hat eine derartig starke Verbundenheit mit seinem Land.» Archäologische Ausgrabungen mittels eines unterirdischen Tunnels, und nicht vertikal von oben nach unten, gelten als eine veraltete und höchst umstrittene Methode[3]. Im Jahr 2017 enthüllte die Organisation Emek Schaveh Schreiben von führenden Archäolog*innen der israelischen Antikenverwaltung, die das Projekt der Ausgrabung der Herodianischen Treppenstraße scharf kritisieren. Aus den Unterlagen geht hervor, dass diese Archäolog*innen, die in der Behörde für wissenschaftsethische Fragen zuständig sind, eine Fortsetzung der Ausgrabung mit der Tunnelmethode entschieden ablehnen. Einer von ihnen schrieb: «Es ist unmöglich, die gewählte Methode zu rechtfertigen.» Unter dem Druck der Politik hat man ihre Einschätzung ignoriert und die Ausgrabungen mit voller Kraft fortgesetzt. Die Palästinenser*innen, die über dem Ausgrabungstunnel wohnen, weisen auf immer breiter werdende Risse in den Wänden ihrer Häuser hin, die sie auf die Ausgrabung zurückführen. Einige sind bereits aus ihren Wohnungen ausgezogen. Im Mai 2018 genehmigte die israelische Regierung 47 Millionen Schekel (mehr als 11 Millionen Euro) für die die Rekonstruktion der Herodianischen Treppenstraße. Anscheinend soll die unterirdische Straße zu einer Hauptattraktion für Tourist*innen in Jerusalem und zu einer bedeutenden Promenade im historischen Kern der Altstadt werden.

Zusätzlich treiben der israelische Staat und die Organisation Elad ein weiteres Projekt voran, das ähnlich umstritten ist, nämlich den Bau einer Seilbahn, die als Hauptverkehrsmittel in diesem Teil der Stadt dienen und mehrere wichtige Plätze in der Gegend miteinander verbinden soll. Das Gebäude, das die unterirdische Herodianische Straße mit der Seilbahn verbinden soll, ist ein großes Besucherzentrum, das von Elad betriebene Kedem-Zentrum. Wie andere Projekte der Organisation auch wurde der Bau dieses Zentrums von den lokalen Behörden begeistert unterstützt. In den Planungsausschüssen jedoch ist es auf erheblichen Widerspruch gestoßen: Archäolog*innen haben Einwände erhoben wegen drohender Schäden an Altertümern; Architekt*innen waren entschieden gegen die Errichtung eines so massiven Bauwerks so nah an den Mauern der Altstadt; die Einwohner*innen von Silwan protestierten gegen die weitere Inbesitznahme ihres Viertels und die Bebauung der letzten freien öffentlichen Fläche; und linke Organisationen befürchten, dass das Gebäude die Beziehungen zu den Palästinenser*innen weiter beeinträchtigen wird. «Ich bin seit mehr als 45 Jahren mit der Bauplanung in Jerusalem gut vertraut», sagte David Kroyanker, Architekt und Architekturhistoriker in Jerusalem, «aber ich habe noch nie einen so unverschämt waghalsigen und potenziell verheerenden Plan wie diesen gesehen.» Es ist schwerlich zu übersehen, dass mit den Tunneln unter der Straße und mit der Seilbahn in der Luft das, was sich auf dem Erdboden befindet, nämlich der palästinensische Teil von Silwan, «übergangen» werden soll. Die Verwirklichung dieser beiden Pläne wird eine tief greifende geopolitische Veränderung im historischen Kern von Jerusalem bewirken.

Eine auf Kontrolle und Konflikt aufbauende Nachbarschaft

Ein Blick auf die Entwicklungen in Silwan und die Zukunftspläne für dieses Gebiet zeigt, dass es nicht ausreicht die Häuser, die sich Siedlerorganisationen angeeignet haben, und die dort wohnenden jüdische Siedler*innen zu zählen, um den Einfluss der Siedlerbewegung in Ost-Jerusalem richtig einschätzen zu können. Die Siedlerorganisationen arbeiten daran, das Gebiet durch Gebäude, Schilder, Touristenverkehr, Polizei und Sicherheitskräfte zu «judaisieren». Dazu bedarf es keiner demografischen Erfolgsmeldungen. Der Einfluss einer einzigen jüdischen Familie in einem palästinensischen Viertel mit all den damit verbundenen Sicherheits- und Polizeikräften, Wachposten, gepanzerten Fahrzeugen, Zäunen, Mauern, Sicherheitskameras und israelischen Fahnen ist derart dramatisch, dass damit ganze Gegenden innerhalb kurzer Zeit extreme Veränderungen durchmachen. In dieser Hinsicht waren die Siedlerorganisationen eindeutig erfolgreicher als bei dem Versuch, einen demografischen Wandel in Ost-Jerusalem herbeizuführen.

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Private Sicherheitsleute in einem von Siedlern besetzten Gebäude in Silwan. Ost-Jerusalem, 2016. Foto:Activestills

Im Mai 2011 schoss ein Unbekannter – ein Wachmann oder ein Bewohner der Siedlung Beit Jonatan – auf einen 17-jährigen Jungen namens Milad Aijasch. Dieser wurde von einer Kugel getroffen und getötet. Die polizeilichen Ermittlungen wurden schleppend, um nicht zu sagen nachlässig geführt. Es wurden keinerlei Augenzeug*innen vernommen und das Video der Überwachungskamera verschwand. Und am Ende gab es auch in diesem Fall von israelischer Gewalt gegen Palästinenser*innen keine Anklage. Sajid, der Vater des erschossenen Jungen, war ein aktives Mitglied der Volksfront zur Befreiung Palästinas und hat zehn Jahre in einem israelischen Gefängnis verbracht, wo er Hebräisch lernte. Er arbeitet als Übersetzer und übersetzt hebräische Literatur und Medienberichte ins Arabische. «Ich sage Ihnen mit vollem Ernst: Es ist mir nicht wichtig, wer meinen Sohn erschossen hat», erklärte der Vater nach dem Tod seines Sohns dem Haaretz-Korrespondenten Gideon Levy, denn «es macht keinen Unterschied, ob die Schüsse von Siedlern, ihren Wächtern oder von Soldaten abgefeuert werden. Meiner Meinung nach ist die israelische Regierung allein für die Situation verantwortlich. Solange sich die Siedler mitten in den vernachlässigten, armen [palästinensischen] Vierteln, die keine Dienstleistungen von der Stadtverwaltung erhalten, niederlassen, solange diese Situation besteht, ist dies das perfekte Rezept für den Ausbruch einer Feuersbrunst […] Was bezweckt diese Politik eigentlich? Dass wir alle zu Extremisten werden oder dass wir die Siedler akzeptieren, die unser Leben zerstören und sich unsere Häuser aneignen? Wie kann es Ruhe geben, solange sie die Kontrolle haben und es keine Hoffnung auf Frieden und ein Ende dieser verdammten Besatzung gibt?»

(Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin)

Nir Hasson ist in Jerusalem geboren und aufgewachsen und lebt dort auch heute mit seiner Familie. Er arbeitet seit Langem als Journalist bei der israelischen Tageszeitung Haaretz und ist seit 2009 ihr für Jerusalem und Archäologie zuständiger Redakteur. Hasson ist der Autor des auf Hebräisch 2017 erschienenen Buchs: Urschalim: Israelis und Palästinenser in Jerusalem, 1967–2017.

Weiterführende Links

- Eness Elias : Ein gekaperter Markt: Das Pariser Protokoll und die palästinensische Wirtschaft

- Nir Hasson und Tamar Almog: Palästinenser*innen in Ost-Jerusalem – Daten und Fakten

- RLS Israel: Stadtplanung und Stadtentwicklung in Ost-Jerusalem

- Emek Shaveh – Archäologie im Schatten des Konflikts, eine israelische Organisation, die sich gegen den politischen Missbrauch von Archäologie zu politischen nationalistischen Zwecken wendet: http://alt-arch.org/en/.

- Theresa Bauer, König Davids Badewanne. In Jerusalem werden archäologische Grabungen zur Vertreibung der arabischen Bevölkerung missbraucht: https://www.zeit.de/2013/14/davidsstadt-jerusalem-archaeologie.

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Weiterführende Literatur

- Muriel Asseburg & Jan Busse, Der Nahostkonflikt. Geschichte, Positionen, Perspektiven, München 2016.

- Tsafrir Cohen, Lösungsmöglichkeiten aus heutiger Sicht. In: Naher Osten und Europa: Herausforderungen einer Nachbarschaft, Hrsg.: Raimund Krämer & Detlef Nakath, Potsdam 2017, S.35-57.

- Steffen Hagemann, Die Siedlerbewegung. Fundamentalismus in Israel, Schwalbach 2010.

- Ari Shavit: Mein gelobtes Land. Triumph und Tragödie Israels, München 2015.

- Christian Sterzing & Jörn Böhme, Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts, 8. überarbeitete, erweiterte und aktualisierte Auflage, 2018.

- Bernard Wasserstein, Israel und Palästina: Warum kämpfen sie und wie können sie aufhören?, München 2009.

- Eyal Weizman, Sperrzonen – Israels Architektur der Besatzung, Edition Nautilus 2009.

- Idith Zertal, Akiva Eldar: Die Herren des Landes. Israel und die Siedlerbewegung seit 1967, München 2007.

Anmerkungen

[1] 73 vor – 4 vor Chr.

[2] Ein Teich in Jerusalem, in den das Wasser der am Ost-Fuß des Berges Zion gelegenen Gihon-Quelle geleitet wurde und der die Wasserversorgung Jerusalems sicherstellte.

[3] Umstritten ist die Methode auch weil, sie nicht alle archäologischen Perioden gleich behandelt. Man wirft ihr vor, ideologisch vorzugehen und bestimmte historische Perioden auf Kosten anderer zu bevorzugen oder gar bei Ausgrabungen wichtige archäologische Funde aus anderen Perioden zu zerstören.

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