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Vereidigungszeremonie mit der hebräischen Bibel für neu rekrutierte Soldaten der israelischen Armee in Massada, 1974

Militarisierung als politische Lösung – eine Chronik des militaristischen Diskurses in Israel

Militarisierung im Dienste des «werdenden Staats»

Seit ihrer Entstehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich die jüdische politische Community in Palästina und danach im Staat Israel immer weiter militarisiert. Dem Soziologen Michael Mann zufolge bedeutet Militarisierung, dass die Präferenz der Gewaltanwendung kulturell und politisch gestärkt und die Androhung oder Vorbereitung von Gewaltanwendung als normal und sogar wünschenswert erachtet wird. Die israelische Militarisierung drückte sich hauptsächlich dadurch aus, dass Gewaltanwendung in den Beziehungen zum arabischen Umfeld legitimiert und  gegenüber anderen Lösungen bevorzugt wurde.

Die naheliegende historische Erklärung für den Militarisierungsprozess ist die zunehmend offene Feindseligkeit zwischen den Bewohner*innen der palästinensischen Ortschaften und den Massen an jüdischen Einwander*innen, die Anfang des 20. Jahrhunderts aus Europa in das britische Mandatsgebiet Palästina kamen (Jischuw). Die anfänglichen lokalen Spannungen entwickelten sich ab den 1930er-Jahren zu Konflikten zwischen den beiden Communities und nachfolgend zu einer offenen Konfrontation zwischen den umliegenden arabischen Staaten und dem Staat Israel, der 1948 offiziell gegründet wurde. Mit der Vergrößerung des Kreises an mit Israel verfeindeten Staaten nahm auch die Militarisierung der israelischen Gesellschaft zu. Dies kann als eine logische Reaktion der Führungselite sowie der israelischen Öffentlichkeit auf feindliche Handlungen interpretiert werden. Sicherheitsaspekte waren auch die Rechtfertigung der jüdischen Einrichtungen im Mandatsgebiet Palästina für die Anwendung von Gewalt sowie die verstärkten Bemühungen, wirtschaftliche und personelle Ressourcen für militärische Zwecke zu mobilisieren. Zu Beginn beschützten Milizen der zionistischen Haganah die jüdischen Gemeinden; später entwickelten sie sich zu einer quasi-regulären Armee, aus der im Mai 1948 die israelischen Streitkräfte (IDF) hervorgingen.

Das ist jedoch nur ein Teil der Wahrheit. Die israelische Militarisierung entsprach verschiedenen Interessen – mindestens drei Ebenen sind hier voneinander zu unterscheiden.

Die erste Ebene war generationsabhängig. Die Generation hebräischsprachiger Jugendlicher, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Palästina aufwuchs, stellte die eher auf Verhandlungen setzende Strategie der Jischuw-Führung infrage und verfolgte einen aktivistischen Ansatz, der die Aufstellung einer eigenen Militäreinheit befürwortete. Dies führte 1920 zur Gründung der Haganah. Zwanzig Jahre später war es wieder eine in Palästina geborene Generation, die die defensive Haltung der Jischuw-Führung gegenüber palästinensischen Angriffen kritisierte und einen offensiven Ansatz favorisierte, der im Jahr 1941 zur Gründung des (der Haganah unterstellten) Palmach, der Guerillaarmee des jüdischen Jischuws, führte.

Zweitens spielten bei der Militarisierung ökonomische Entscheidungen und Klassenauseinandersetzungen eine Rolle. Als die jüdischen Einwander*innen der Zweiten Aliyah (1904–14) beschlossen, einen homogenen jüdischen Arbeitsmarkt aufzubauen, anstatt mit den relativ billigen palästinensischen Arbeitskräften zu konkurrieren, distanzierten sie sich von der lokalen Bevölkerung – und die Konflikte nahmen zu.

Drittens gab es institutionelle Gründe für die fortschreitende Militarisierung. Im Zuge der neuen Einwanderungswellen weiteten sich die gewalttätigen interkommunalen Konflikte aus. Der Aufbau des «werdenden Staates» wurde durch die Erweiterung des Landbesitzes, die Rekrutierung zum Militär und den Aufbau effektiver Verwaltungseinrichtungen vorangetrieben. Dadurch entstand ein institutionelles Interesse an der Aufrechterhaltung des Konflikts – insbesondere vonseiten der Institutionen des «werdenden Staates» wie der Histadrut und der Jewish Agency.

In steigenden Maße, in dem die Militarisierung personelle und materielle Ressourcen mobilisierte, nahm auch die Abhängigkeit der Militärorganisationen von den Institutionen des «werdenden Staates» zu. Dies galt für die vorstaatlichen Militärorganisationen, nach und nach auch für die politischen Institutionen des Jischuws, die die Haganah kontrollierten, sowie später beim Übergang zur Staatsgründung.

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Israelische Soldaten nehmen an einer Vereidigungszeremonie teil, an der Klagemauer in der Jerusalemer Altstadt, 23. Juni 2016. Foto: Flash90

1948 – unter der Ägide des ewigen Konflikts

Nach dem Palästina-Krieg (1947–49) bildeten sich drei Grundpfeiler des israelischen Militarismus heraus: (1) das militärische Denken, das sich von der Armee auf die zivile Führung übertrug.[1] Wesentlich dabei ist, dass der Feind nur die Sprache der Gewalt verstehe und daher grundlegende Probleme nur militärisch gelöst werden könnten. Daraus folgt, dass es notwendig und oberste Priorität ist, immer gut gerüstet und auf einen Krieg vorbereitet zu sein.

(2) Der zweite Grundpfeiler des israelischen Militarismus ist kultureller Natur. Armee und Krieg nehmen in der kollektiven Erfahrung der israelischen Gesellschaft eine zentrale Stellung ein. Dies drückt sich unter anderem aus in der allgemeinen Wertschätzung der Armee mit öffentlichen Militärparaden, dem Gedenken an gefallene Soldat*innen, zahlreichen Kriegsliedern und der großen Bedeutung von Radio Galei Zahal (dt. Armeewelle, militärisch-ziviler Rundfunksender).

Armee und Krieg nehmen in der kollektiven Erfahrung der israelischen Gesellschaft eine zentrale Stellung ein

(3) Der dritte Grundpfeiler ist der materialistische Charakter des Militarismus.[2] Damit sind die Möglichkeiten dominanter sozialer Gruppen, aus ihrem Beitrag zum Militär wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorteile zu ziehen, und ihre Bereitschaft, dafür permanente Kriegsbereitschaft (bzw. Kriegshandlungen) zu legitimieren und als Soldat*innen und Steuerzahler*innen Opfer zu bringen, gemeint. Die Grundlage für diesen materialistischen Militarismus wurde bereits in den ersten Jahren nach der Staatsgründung gelegt: Die Herausbildung einer ethnischen Klassenstruktur stellte die Vorherrschaft der säkularen, damals aschkenasischen Mittelschicht über die Immigrant*innen aus arabischen Ländern (Mizrachim) sicher. Sie basierte auf der Existenz des Konflikts mit den Palästinenser*innen und sicherte Kriegsgewinne etwa durch Landenteignungen.

Hauptakteur der Militarisierung war selbstverständig die Armee. Als Partner der Politik (nicht unbedingt als eine ihr untergeordnete Institution) spielte die Armee eine zentrale Rolle, sei es bei der Erweiterung der Landesgrenzen im Krieg von 1947–49, bei der Planung der Vergeltungsaktionen in den 1950er-Jahren, die zum Sinai-Krieg (1956) führten, bei der Eskalation der Grenzstreitigkeiten, die den Weg zum Sechstagekrieg (1967) ebneten, oder durch ihren Beitrag zur Aufrechterhaltung der israelischen Kontrolle über die 1967 besetzten Gebiete.

Bei all diesen Ereignissen wurden militärische Lösungen gegenüber gemäßigteren Alternativen bevorzugt; Möglichkeiten für Friedensabkommen wurden nicht wahrgenommen.[3]

1967 – zunehmende Dominanz des militaristischen Diskurses

Wie alle Militarisierungsprozesse war auch der israelische durch eine schrittweise Einengung des Diskurses gekennzeichnet: Bestimmte zunächst debattierbare Themen wurden zunehmend tabuisiert. So gab es in den 1920er-Jahren noch eine breite öffentliche Diskussion über die Vor- und Nachteile einer pazifistischen Haltung gegenüber den arabischen Nachbar*innen. Ab den 1930er-Jahren jedoch begann sich der Diskurs zu wandeln. Nach der Staatsgründung 1948 wurde der militaristische Diskurs schließlich prioritär und nach dem Sechstagekrieg (1967) erreichte er seinen Höhepunkt. Denn Israel gab sich nicht damit zufrieden, die feindlichen arabischen Armeen, insbesondere die ägyptische, zu besiegen, sondern eroberte neue Gebiete. Noch entscheidender war jedoch, dass Israel angesichts seiner militärischen Erfolge seine politischen Ziele neu formulierte und sie dem militärischen Denken unterordnete. Dies manifestierte sich im Streben nach «absoluter Sicherheit» durch die Aufrechterhaltung des territorialen Status quo.

Veränderung des Diskurses und Ansätze der Entmilitarisierung

Nach 1967 wurde die Rolle der Armee komplexer. Sie unterstützte die politische Sicht, die den Status quo für unumstößlich erklärte, verlor jedoch ihre exklusive Stellung. Ein religiöser Militarismus gewann an Bedeutung. Dessen Priorisierung der Anwendung von Gewalt speiste sich in erster Linie aus einer theologischen Sichtweise. Mit der Gründung der Bewegung Gusch Emunim 1974 fand sie ihren Ausdruck. Die ultranationalistische Alternative der jungen religiösen Generation zum etablierten Zionismus begründete die militärische Kontrolle Israels über das Westjordanland religiös. Sie erklärte das Territorium für heilig und leitete daraus – und nicht länger (nur) aus Sicherheitsgründen – die Notwendigkeit ab, es zu besiedeln. Gusch Emunim spielte bei entsprechenden Siedlungsprojekten eine große Rolle.

Trotz dieser Interpretation begriffen Teile der israelischen Gesellschaft, vor allem die säkulare Mittelschicht, dass die Anwendung von Gewalt begrenzt werden musste. Der Jom-Kippur-Krieg (1973), bei dem Israel von einem ägyptisch-syrischen Angriff überrascht wurde und hohe Verluste erlitt, und noch mehr der erste Libanon-Krieg (1982), der Israel in einen fast 20 Jahre währenden blutigen Stellungskrieg stürzte, hatten die Skepsis gegenüber militärischen Lösungen erhöht. Im Ergebnis zog man sich aus dem Sinai zurück – im Gegenzug für ein Friedensabkommen mit Ägypten (1979). Unter dem Einfluss politischer Proteste erfolgte weiterhin ein stufenweiser Rückzug aus dem Libanon (1985 und 2000). Auch die aktive Vermeidung des Schusswaffengebrauchs zur Niederschlagung der Ersten Intifada (1987–93) kann hier eingeordnet werden. Nicht zuletzt blieb im Ersten Golfkrieg (1991) nach dem Beschuss Israels mit Scud-Raketen aus dem Irak eine militärische Reaktion aus. Es schien sich zunehmend die Erkenntnis durchzusetzen, dass Kriege vermeidbar sind und es politische Alternativen dazu gibt. Die Armee spielte in diesem Prozess eine mäßigende Rolle. Es kam zu einer politischen Entmilitarisierung.

Zudem nahm das Gefühl der existenziellen Bedrohung in der jüdisch-israelischen Bevölkerung seit den 1980er-Jahren immer mehr ab, wie Meinungsumfragen zeigen.[4] Die Vorstellung, dass Israels militärische Überlegenheit in der Region gefestigt war, gewann an Gewicht. Gleichzeitig etablierten die USA eine globale Dominanz, die nicht länger vom kommunistischen Block infrage gestellt wurde, und die arabischen Staaten änderten ihre Rhetorik. Sie waren nun bestrebt, ihre Beziehungen zu Israel zu regeln. Es kam zum erfolgreichen Abschluss von Abkommen mit Ägypten, Jordanien und sogar mit den Palästinenser*innen sowie zur Aufnahme eines politischen Dialogs mit weiteren arabischen Staaten wie Marokko und den Golfstaaten. All dies stärkte das Gefühl der nachlassenden Bedrohung.

Es wurde also zunehmend verinnerlicht, dass Gewaltanwendung als Mittel der Politik ihre Grenzen hat; zudem beteiligten sich die USA verstärkt an der Konfliktlösung. Doch dies waren nicht die einzigen relevanten Faktoren. Die israelische Gesellschaft, die sich zunehmend marktwirtschaftlich orientierte, liberalisierte und globalisierte, maß nun den zu erbringenden Opfern einen geringeren Wert bei. Diese Entwicklung wurde durch die Regierungsumwälzung von 1977 befördert. Die Likud-Partei kam nach jahrzehntelanger Herrschaft der Arbeiterbewegung an die Macht, wodurch religiöse und unterprivilegierte Gruppen gestärkt wurden. Zugleich verlor der historische Beitrag der Eliten zur Staatsgründung an Bedeutung.

In der Folge erodierte die Motivation junger Menschen der säkularen Mittelschicht, Opfer für das Militär zu bringen. Nach und nach veränderte sich dadurch die soziale Zusammensetzung der kämpfenden Einheiten der Armee, insbesondere der Bodentruppen. Immer mehr Rekrut*innen kamen aus der unteren Mittelschicht, waren Mizrahi – fromme Einwander*innen aus der ehemaligen Sowjetunion und aus Äthiopien –, Drusen sowie Frauen. Vertreter*innen der säkularen Mittelschicht (überwiegend Aschkenasi) bevorzugten dagegen die seit den 1990er-Jahren entstandenen technologischen Abteilungen der Armee.

Zudem vollzog sich ab den 1980er-Jahren in säkularen Kreisen eine kulturelle Entmilitarisierung. Man äußerte sich zunehmend kritisch gegenüber dem Militär und der Militärkultur und wollte Militärpolitik mit gestalten. Gleichzeitig war man immer weniger bereit, den Tod der eigenen Soldat*innen hinzunehmen.

Remilitarisierung und religiös-nationalistischer Diskurs

Nach der zwischenzeitlichen Entmilitarisierung kam es allerdings zu einer Remilitarisierung. Die Oslo-Abkommen (1993–94), die auf dem Papier die Aufgabe des Westjordanlands vorsahen, waren in den Augen rechtsgerichteter religiöser Gruppen, insbesondere der Siedler*innen, eine Bedrohung ihrer Interessen, ja ihrer Identität. Der Ausbruch der Zweiten Intifada im Jahr 2000 – nachdem es der von Ehud Barak geführten Regierung nicht gelungen war, einen Entwurf für ein dauerhaftes israelisch-palästinensisches Abkommen vorzulegen – löste immer wieder Kämpfe zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde aus. Er beschleunigte die Remilitarisierung, bei der religiöse und rechte Gruppen eine zentrale Rolle spielten. Es bildete sich eine Koalition jener Kräfte, die die Oslo-Abkommen aufkündigen wollten und sich gegen eine rechtliche Gleichstellung der palästinensischen Minderheit in Israel wehrten. Sie hatte nicht nur einen großen Anteil an der Verhinderung politischer Schritte in den 1990er-Jahren, sondern unterstützte auch die Eskalationsbestrebungen der Armee, die den Einsatz massiver Gewalt zur Folge hatten.[5]

Religiöse nationalistische Gruppen waren in der Armee zunehmend präsent und zugleich sehr gut organisiert. Sie verfügten über ein Netzwerk von Jeschiwas (Tora-Hochschulen) und vormilitärischen Trainingslagern. Die Leiter dieser Institutionen verhandelten mit der Armee über Möglichkeiten, den militärischen Dienst mit den religiösen Studien und der Lebensart dieser Soldaten kompatibel zu machen. Der religiöse Einfluss in der Armee stieg – so wurden Frauen nicht mehr gleichberechtigt in Kampfeinheiten integriert und das Militärrabbinat wurde als offizielle Bildungsabteilung der Armee gestärkt. Zum Teil wurden religiöse Autoritäten sogar zur bestimmenden Instanz. So gab es bindende rabbinische Verbote, sich an Räumungen von jüdischen Siedlungen im Westjordanland zu beteiligen.

Nach der Zweiten Intifada kam es zu einer erneuten Militarisierung Israels, deren Charakteristika auch im aktuellen Gaza-Krieg 2023/24 bestehen: Das militärische Denken wurde intensiviert, die Verbindung zum politischen Denken geschwächt und somit der politische Diskurs zum militärischen gemacht.

Dies ist die unvermeidliche Folge davon, dass die Armee das Vakuum füllte, das die Regierung von Benjamin Netanjahu mit der Festlegung eines politischen Status quo nach der Zweiten Intifada hinterließ, indem sie alle Schritte vermied, die zu einem israelischen Rückzug aus dem Westjordanland zum Zweck der Errichtung eines palästinensischen Staats hätten führen können. Die Armee spielte nicht nur die Hauptrolle bei der Wahrung des Status quo, das heißt bei der Verhinderung militärischer Erfolge auf palästinensischer Seite. Sie trug auch dazu bei, den Status quo zu legitimieren, indem sie den Glauben stärkte, mit technologischen Mitteln militärische Bedrohungen beseitigen und somit eine politische Lösung überflüssig machen zu können. Dieser Ansatz ist gescheitert und hat zum Gaza-Krieg 2023/24 geführt.

Exkurs: Asaria-Affäre 2016

Die Asaria-Affäre hat nicht nur den innermilitärischen Diskurs, sondern auch den Diskurs zwischen der Armee und der Zivilgesellschaft verändert. Es begann mit einem Video, das dokumentierte, wie der israelische Soldat Elor Asaria einen palästinensischen Attentäter, der verwundet und bewusstlos am Boden lag, in Hebron erschoss. Das Video ging schnell viral und führte zu Asarias Verhaftung. Daraufhin kam es zu einem Konflikt zwischen der Armee, die sich aufgrund des Videomaterials gezwungen sah, den Soldaten anzuklagen, und dem rechten politischen Lager, das sich gegen eine Bestrafung des Soldaten aussprach und sein Handeln rechtfertigte. In der Folgezeit passte sich die Armee an die an sie gerichteten politischen Erwartungen an und entwickelte einen Diskurs, der nicht unbedingt die mit der Militäroperation angestrebten Ziele, sondern die von der Armee ergriffenen Maßnahmen, insbesondere das Töten, fokussierte. Damit versuchte sie zu zeigen, dass die Asaria-Affäre die Fähigkeit der Soldat*innen, zu schießen und zu töten, nicht gelähmt hat.

Gleichzeitig entwickelte sich ein religiös-nationalistischer militaristischer Diskurs innerhalb der Armee und unter denjenigen gesellschaftlichen Gruppen, die die Armee unterstützen. Religiöse und andere marginalisierte Gruppen (zu denen auch Elor Asaria gehört) – aus denen die Armee einen Großteil ihrer Soldat*innen für die Überwachungseinheiten im Westjordanland und an der Grenze zum Gazastreifen rekrutiert – forderten von der Armee und den staatlichen Institutionen nicht nur Schutz und Unterstützung, sondern auch einen kulturellen Wandel ein. Damit beförderten sie einen neuen militaristischen Diskurs, der auf die Anwendung von Gewalt stolz ist und sie nicht mehr verheimlicht oder gar leugnet. Darin wird das Motiv der Rache betont und die Kategorie der «Unschuldigen» eliminiert. Zugleich werden die der Armee auferlegten rechtlichen Beschränkungen abgelehnt – ebenso wie die Auseinandersetzung mit moralischen Dilemmata. Menschenrechtsorganisationen werden verfolgt und die Tötung von Palästinenser*innen wird stolz präsentiert.

So wurde Asaria zu einer gesellschaftlichen Ikone, zu einem Symbol nicht nur der militärischen Überlegenheit, sondern auch des Klassenkampfes. Dadurch kam es zu weiteren Formen der Gewaltverherrlichung. Sie erreichten ihren Höhepunkt im aktuellen Gaza-Krieg, als Soldaten in den sozialen Medien Fotos und Videos verbreiteten, in denen sie beispielsweise damit prahlen, Wohnhäuser und sogar Moscheen in die Luft zu sprengen und palästinensische Gefangene zu demütigen, und in denen sie offen ihren Wunsch äußern, sich an den Bewohner*innen des Gazastreifens zu rächen.

Ausblick

Der Gaza-Krieg (2023/24) hat den Militarisierungsprozess in Israel intensiviert.  Ausdruck dessen ist die breite Unterstützung der Zivilgesellschaft für die israelische Kriegsführung. So werden das große Leid, das der palästinensischen Zivilbevölkerung zugefügt wird, und die schweren Schäden der zivilen Infrastruktur im Gazastreifen hingenommen, und auch die Ausübung militärischer Gewalt vonseiten der Armee wird kaum kritisiert. Gleichzeitig wurde das historische Bündnis zwischen der Armee und dem politischen Mitte-links-Lager erneuert. Derzeit gibt es von dieser Seite fast keinen Widerstand gegen den Gaza-Krieg. Hinzu kommt, dass sich in den vergangenen Jahren nach und nach ein militaristischer Feminismus in der israelischen Gesellschaft entwickelt hat, der die Grundannahmen des militärischen Denkens akzeptiert. Dies trägt zur weiteren Legitimierung von Krieg und Gewalt bei, indem feministische Kritik an der israelischen Armee erschwert wird – Kritik, die unter anderen Umständen vom Mitte-links-Lager zu erwarten wäre.

Es ist wahrscheinlich, dass die verschiedenen militaristisch geprägten Ansichten in den nächsten Jahren zu verschärften politischen Spannungen in Israel führen werden. Dies umso mehr, da die Regierung dem internationalen Druck ausgesetzt sein wird, einen Kompromiss mit den Palästinenser*innen zu finden.

Aus dem Hebräischen von Ursula Wokoeck Wollin

Anmerkungen

[1] Vgl. Kimmerling, Baruch: Patterns of militarism in Israel, in: European Journal of Sociology 2/1993, S. 196–223.

[2] Vgl. Levy, Yagil: Israel’s Materialist Militarism, Lanham 2007.

[3] Peri, Yoram: Between Battles and Ballots: Israeli Military in Politics, Cambridge 1983.

[4] Arian, Asher: Israeli Public Opinion on National Security 2001, Jaffee Center for Strategic Studies, Tel Aviv University, Tel Aviv 2001.

[5] Ben-Eliezer, Uri: War over Peace: One Hundred Years of Israel’s Militaristic Nationalism, Berkeley, CA 2019.

Autor:in

Yagil Levy ist Professor für Politische Soziologie und Public Policy an der Open University of Israel.