"Ohne die Rekrutierung von 34,000 Soldaten ist Israel in Gefahr." Werbebanner für den Beitritt in die israelische Armee in Jerulsam, Mai 2024. Foto: Flash90
Verweigerung oder Krieg im Namen Gottes: Die ultraorthodoxe Gesellschaft am Scheideweg
Einer der größten Streitpunkte zwischen säkularen Jüdinnen und Juden und der ultraorthodoxen Bevölkerung Israels besteht darin, dass die Last des Militärdiensts ungleich verteilt ist. Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich diese Kontroverse verschärft. Ein Versuch, die ambivalenten Botschaften der ultraorthodoxen Gesellschaft in Israel zu verstehen
Ende Oktober 2023, in der dritten Kriegswoche, waren in Israel fast keine kritischen jüdischen Stimmen gegen den Krieg zu hören – die jüdische Bevölkerung stand fast geschlossen hinter dem militärischen Vorgehen im Gazastreifen. In dieser Woche veröffentlichte die Belser chassidische Bewegung das Folgende im Schabbat-Bulletin:
«Es ist hier von Interesse, ein Wort der Tora nahezubringen, das nicht so bekannt ist – aus Respekt vor der Heiligkeit unseres Lehrers Maharid [Rabbiner Yissachar Dov Rokeach, 1851–1926], möge uns sein Andenken beschützen, der ein großer Kriegsgegner war, und zwar nicht nur, weil Kriege Zerstörung und Blutvergießen verursachen, sondern auch, weil der Krieg an sich eine schlechte Sache ist. Wie wir immer beten: ‹Der, der Frieden in seinem Himmel schafft, wird auch für uns Frieden schaffen›… denn Kriege sind in keiner Weise gut, und nur wenn es kein Entrinnen gibt, Gott bewahre, wenn der Feind in den Krieg zieht oder in einem Mitzwa-Krieg [gerechten Krieg] sollten wir zu Gott beten, er möge den Krieg mit einem Sieg segnen; aber Krieg ist kein Ideal.»
Ist diese Aussage repräsentativ für die Einstellung der ultraorthodoxen israelischen Gesellschaft? Ich befürchte, dass dies nicht der Fall ist. Ähnliches findet sich in anderen ultraorthodoxen Medien sowie in den Lehren ultraorthodoxer Rabbiner seit dem 7. Oktober 2023 so gut wie nicht, und das war auch schon vorher so. Die Belser chassidische Bewegung und ihr derzeitiger Oberrabbiner stellen den Links-außen-Flügel der Ultraorthodoxen in Israel dar – so klingen ihre Worte in den Ohren junger ultraorthodoxer Menschen reichlich realitätsfern.
In der religiös-zionistischen Öffentlichkeit Israels äußern sich unter anderem auch Tora-Gelehrte, die den Krieg idealisieren und ihn verherrlichen. So sagte Anfang November 2023 Rabbiner Amichai Friedman im Trainingslager der Nachal-Infanteriebrigade, den Soldaten in Bezug auf das militärische Vorgehen Israels: «Ich sitze hier und stelle mir vor, dass es in diesen Tagen keine Toten, keine Entführten und keine Verwundeten gibt, und sobald ich sie aus dem Blickfeld entferne, verbleibe ich mit dem vielleicht glücklichsten Monat meines ganzen Lebens.»
Rabbiner Yigal Levinstein, Leiter der vormilitärischen Trainingsschule Bnei David in der illegalen Siedlung Eli im Westjordanland, verfasste aus gegebenem Anlass eine Broschüre mit dem Titel «Wie ein Löwe erhebt es sich – über die Erhöhung des Gemüts und die besondere Lebensebene während des Krieges». Darin heißt es:
«Der Krieg ist keine Nebensache und sollte auch nicht als ‹Fehler› oder ‹Missgeschick›, das wir lieber vermeiden würden, behandelt werden. Der Krieg ist etwas Großes; er bringt schließlich eine großartige Botschaft für die Menschheit mit sich.» «… es gibt besondere Momente im Leben einer Nation, Zeiten, in denen die innere Seele mit all ihrer Vitalität erstrahlt. Das ist die Zeit des Kriegs.» (Numeri 23: 6, 24)
Auch diese Haltungist in der ultraorthodoxen israelischen Gesellschaft ansonsten kaum vorhanden. Die Einstellung zum Krieg ist, ebenso wie in der säkularen und traditionellen jüdischen Öffentlichkeit, eine andere.
«Sein Tora-Studium ist sein Beruf» - Einstellung der Ultraorthodoxen zum Militärdienst
Bis auf sehr wenige Ausnahmen leisten ultraorthodoxe Israelis keinen Militärdienst. Ultraorthodoxe Frauen sind aus religiösen Gründen vom Militärdienst freigestellt; die Männer im relevanten Alter studieren meist in Jeschiwas (Tora-Schulen) und werden nicht rekrutiert – weder als reguläre Militärdienstleistende noch als Reservisten. Für so einen jungen Schüler gilt: «Sein Tora-Studium ist sein Beruf» – er wird vom Militärdienst zurückgestellt, solange er in einer Jeschiwa studiert und keiner sonstigen Arbeit nachgeht. Ab einem bestimmten Alter beziehungsweise einer bestimmten Anzahl eigener Kinder werden ultraorthodoxe Israelis gänzlich vom Militärdienst befreit – dann können sie auch die Jeschiwa verlassen und arbeiten.
In den ersten Jahren nach der Staatsgründung 1948 war die Zahl der Jeschiwa-Studenten, die von diesem Status profitieren konnten, begrenzt. Menachem Begin, von 1977 bis 1983 Premierminister Israels, hob diese Begrenzung auf, um mit seiner Likud-Partei eine Regierungskoalition mit den Orthodoxen eingehen zu können. In der Vergangenheit war es üblich gewesen, dass etwas ältere, verheiratete ultraorthodoxe Männer einen verkürzten Militärdienst leisteten und dann in der Reserve dienten, auch in Kampfeinheiten. Im Laufe der Jahre wählten jedoch immer weniger ultraorthodoxe Männer diesen Weg. Immer mehr Männer schoben ihren Militärdienst einfach so lange auf, bis sie das Alter der Freistellung erreichten. In der chassidischen Gesellschaft, in der junge Männer nach ihrer Heirat ihr Studium in der Jeschiwa nicht fortsetzen, war es üblich, den Militärdienst dadurch zu umgehen, in dem man im Alter von 18 Jahren eine Freistellung aus psychischen oder medizinischen Gründen zu erwirkte.
Die offizielle ultraorthodoxe Position war und ist bis heute gespalten. Die einen sagen: Diejenigen, die die Tora studieren, sollten nicht rekrutiert werden, und diejenigen, die nicht die Tora studieren, sollten im Militär dienen. Die anderen sagen, dass überhaupt keine ultraorthodoxen Männer Militärdienst leisten sollten. Der Grund: Sie befürchten, dass der Dienst in der «säkularen» Armee ihre Religiosität beeinträchtigen oder gar zu ihrer Loslösung von der Religion führen könnte. In der Praxis sind die Rekrutierungsquoten unter ultraorthodoxen Männern im Laufe der Jahre gesunken.
Einer der größten Streitpunkte zwischen der säkular- und der religiös-zionistischen Bevölkerung auf der einen Seite und den Ultraorthodoxen auf der anderen Seite besteht darin, dass die Belastung durch den Militärdienst ungleich verteilt ist. In den Jahren vor dem 7. Oktober 2023 war das Thema von der Tagesordnung verschwunden – anscheinend zogen es sowohl die israelische Gesellschaft als auch die Politiker*innen vor, ultraorthodoxe Männer pauschal vom Militärdienst zu befreien, um sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Doch nun ist die Kontroverse noch stärker ausgebrochen – einerseits, weil es als ungerecht empfunden wird, dass Ultraorthodoxe nicht im selben Maße mit Leib und Leben für den Krieg bezahlen, andererseits aufgrund der wachsenden Belastung der Soldat*innen und Reservist*innen. Der Vorschlag der jetzigen Regierung, den regulären Wehrdienst zu verlängern und die Altersgrenze für Reservist*innen anzuheben, und der gleichzeitige Versuch, ultraorthodoxe Männer per Gesetz weiterhin vom Militärdienst zu befreien, ist für die Mehrheit der Israelis inakzeptabel und bedroht deshalb den Fortbestand der Regierungskoalition mehr als alles andere.
Anfang März 2024 kam es zu einem Sturm der Entrüstung über das, was der sephardische Oberrabbiner, Rabbiner Jitzchak Josef, Sohn des verstorbenen Rabbiners Ovadja Josef, in seiner wöchentlichen Lektion sagte:
«Wenn sie uns zwingen, zur Armee zu gehen, werden wir alle ins Ausland reisen. […] So etwas gibt es nicht. All diese Säkularen, die das nicht verstehen, müssen einsehen, dass es ohne die Tora, ohne die Kollelim [Institute für fortgeschrittene Tora-Studien], ohne die Jeschiwas keine Existenz gäbe. […] Die Erfolge der Armee sind nur den Männern der Tora zu verdanken. Meine Herren, das sollte jeder mit Stolz sagen. Ja, wir beschäftigen uns mit der Tora, und es ist die Tora, die uns beschützt.»
Meiner Meinung nach spiegeln diese Worte die Position der ultraorthodoxen Jüdinnen und Juden in Israel in Bezug auf Militärdienst und Krieg perfekt wider. Einige Tage später erläuterte Rabbi Jitzchak Josef dies genauer:
«Dies schmälert nicht den Verdienst und das Ansehen jener Soldaten, die an der Front ihr Leben für das Volk Israel riskieren, oder der geehrten Hinterbliebenen der Märtyrer, die für die Verteidigung des Volkes Israel gefallen sind und ihren Platz in der ersten Reihe zusammen mit den höchsten Heiligen im Paradies haben. […] Im Gegenteil, diese Männer der Tora […], deren Stärkung und größte Pflicht es ist, zu sitzen und [die Tora] zu lernen, müssen wissen, dass sie die Verantwortung haben, das Volk Israel und die Soldaten zu schützen, und dass sie die Tora nicht eine Sekunde lang verlassen dürfen, denn mit ihren Worten […] unterstützen sie die Kämpfe. Ich spreche hier hauptsächlich von den Männern in den Jeschiwas, die, Gott sei Dank, den ganzen Tag die Tora studieren können, im Gegensatz zu jener Minderheit in unserer Community, die nicht die Tora studiert und der es absolut verboten ist, sich mit der Ausrede ‹sein Tora-Studium ist sein Beruf› [vom Militärdienst] freistellen zu lassen.»
Diese Einstellung unterscheidet sich grundlegend von der Position der religiös-zionistischen Jüdinnen und Juden, wonach Jeschiwa-Studenten ebenfalls in der Armee dienen sollen und das Tora-Studium kein Grund für eine Freistellung vom Militärdienst sei.
Rabbi Jitzchak Josef richtet seine Worte nicht nur an die Säkularen, sondern vor allem an die Ultraorthodoxen, insbesondere an die Jeschiwa-Studenten.
Verstärkt seit dem 7. Oktober 2023 fragen sich Jeschiwa-Studenten selbst mitunter: Ist es in Ordnung, dass wir uns nicht am Kampf und an der Verteidigung des Volkes beteiligen? Wie für fast alle jüdischen Israelis sind auch für sie alle Kämpfe des eigenen Volkes, einschließlich des gegenwärtigen, Verteidigungskriege
Rabbi Jitzchak Josef und die leitenden Rabbiner der Jeschiwas aller ultraorthodoxen Fraktionen in Israel halten ihnen entgegen: Das Tora-Studium ist Teil der Kriegsanstrengungen und dabei vielleicht sogar wichtiger als der tatsächliche Kampf.
Diese Position ist jedoch verwirrend: Einerseits beinhaltet sie die gleiche militaristische Sicht auf den Konflikt wie die Position vieler anderer jüdischer Israelis: Es wird weder Kritik am Krieg selbst noch an der Art und Weise, wie er geführt wird, geübt. Es wird auch nicht die Notwendigkeit einer diplomatischen Lösung oder einer Verkürzung des Krieges propagiert. Das Tora-Studium selbst wird für den Krieg rekrutiert als etwas, das die Kämpfer und das Volk Israel schütze. Andererseits behaupten die ultraorthodoxen Rabbiner, dass es wahrscheinlich überhaupt keinen Krieg gegen das israelische Volk gegeben hätte, wenn das gesamte Volk Israel die Tora und die Mitzwot (Gebote) befolgt hätte. Diese Aussage mag keinen Bezug zur Realität haben – letztendlich weckt sie aber doch das Gefühl, Kämpfen sei nicht die richtige Lösung, um ein Leben in Frieden und Sicherheit zu erlangen.
Mit seiner Androhung, das Land zu verlassen, «wenn ihr uns nicht die Tora studieren lasst», macht Rabbi Jitzchak Josef den grundlegenden Unterschied zwischen der ultraorthodoxen und der zionistischen (sowohl der säkularen als auch der religiösen) Sichtweise bezüglich der jüdischen Souveränität in Eretz Israel klar. Oder mit anderen Worten: Wie wichtig ist für die ultraorthodoxen ein jüdischer Staat und welchen Preis sind wir bereit, dafür zu zahlen?
Dehikat Haketz – Einstellung der Ultraorthodoxen zum israelischen Staat
Zur Zeit des beginnenden Zionismus und der Gründung des israelischen Staates debattierten die ultraorthodoxen Führer in Israel und Europa darüber, ob die Gründung des Staates Israel unterstützt werden solle. Zunächst sei dazu die Halacha zu befragen – die rechtlich verbindlichen Gebote und Verbote des Judentums. Mit ihr könne die Staatsgründung als Dehikat Haketz (Beschleunigung des messianischen Endes der Tage) betrachtet werden und eine verbotene Handlung darstellen. Schließlich besage die Halacha, dass das Volk Israel nicht ohne ein vorheriges göttliches Eingreifen in Form eines Messias zur Souveränität in sein Land zurückkehren dürfe.
Bis heute gibt es in Israel Strömungen (Satmar Chassidim, Neturei Karta), die diese Position vertreten und den israelischen Staat ablehnen, doch die absolute Mehrheit der ultraorthodoxen Israelis akzeptierte schließlich die Staatsgründung im Jahr 1948. Im Gegensatz zur religiös-zionistischen Strömung, die den israelischen Staat als Beginn der Erlösung betrachtet, ist er für Ultraorthodoxe bestenfalls ein Staat wie jeder andere und schlimmstenfalls ein problematischer Staat, weil er sich als Staat von Jüdinnen und Juden nicht an die Gesetze der Tora hält. Das ist auch der Grund, warum die Partei Degel haTora («Banner der Tora») – die litauische Fraktion im Parteienbündnis Vereinigtes Tora-Judentum – bis heute keine Ministerposten übernimmt, auch wenn sie Teil der Regierungskoalition ist.
Die Aussage von Rabbi Jitzchak Josef, dass die Ultraorthodoxen im Falle einer zwangsweisen Rekrutierung am liebsten ins Ausland abwandern würden, ist freilich nicht praktisch umsetzbar. Aber sie zeugt von dem begrenzten Ausmaß, in dem sich die Ultraorthodoxen der Idee der jüdischen Souveränität in «Eretz Israel» verpflichtet fühlen. Sei der Preis für die jüdische Souveränität ewiger Krieg, seien die Ultraorthodoxen nicht bereit, ihn zu zahlen. Ihre Sicherheit sei gottgegeben und damit nicht von jüdischer Souveränität oder Macht abhängig. Daher ist für sie jede Regierung in Israel, die es ihnen ermöglicht, in Frieden zu leben und einen ultraorthodoxen Lebensstil aufrechtzuerhalten, ebenso gut wie eine andere jüdische Regierung. Dieses Konzept unterscheidet sich grundlegend vom zionistischen Konzept, zumindest von dessen Ausformung seit der Staatsgründung. Und ohne Frage bildet es einen Gegensatz zum religiös-zionistischen Konzept, das die Erfüllung der jüdischen Souveränität als Teil der religiösen Pflicht vorsieht – mit dem Ziel, der göttlichen Erlösung näherzukommen.
Ist das nur die Meinung der führenden Rabbiner oder wird sie von den Mitgliedern der ultraorthodoxen Gemeinden geteilt? Ich glaube, dass auch deren innerste Überzeugungen all diese ultraorthodoxen Ideologien widerspiegeln. Zugleich leben sie immer weniger zurückgezogen, sind immer stärker in die israelische Gesellschaft integriert. Da es keinen klaren ultraorthodoxen Weg für den Übergang zum Israeli-Sein gibt, werden hierfür oft Werte und Mentalität des religiösen Zionismus – der in der jüdischen Souveränität eine religiöse Pflicht sieht – übernommen.
Die wenigen ultraorthodoxen Männer, die in Kampfeinheiten der Armee dienen, sind in der Regel gefährdete Jugendliche beziehungsweise junge Männer, die in speziell eingerichteten Einheiten landen und dort zusammen mit Soldaten der nationalistischsten Ausprägung des religiösen Zionismus dienen. Dort gibt es keine Tora-Diskussionen darüber, was aus halachischer beziehungsweise jüdischer Sicht im Krieg erlaubt und was verboten ist. Ebenso wenig fühlen sich diese jungen Männer den Werten des Völkerrechts persönlich verpflichtet; infolge dessen übernehmen sie problematische Positionen, die aus dem religiös-zionistischen Diskurs kommen und sich im Extremfall auf die Kriege der Bibel stützen. Eine solche Spezialeinheit ist das Netzach-Jehuda-Bataillon, gegen das die Regierung der USA im April 2024 wegen Menschenrechtsverletzungen gegenüber Palästinenser*innen im Westjordanland beinahe Sanktionen verhängt hat.
Zweideutige Botschaften – die Beteiligung ultraorthodoxer Parteien an israelischen Regierungen
In den vergangenen zwei Jahrzehnten vertraten die Ultraorthodoxen die Positionen «Wir dienen nicht in der Armee» und «Wir sind nicht Teil eurer Geschichte der jüdischen Souveränität» und beteiligten sich zugleich an Regierungen und damit an einer Politik, die eine große und schlagkräftige Armee erfordert – sei es, um den Konflikt im Sinne Benjamin Netanjahus und des israelischen Mainstreams zu «managen», sei es, um extremere Ideen von der Art des «Unterwerfungsplans» von Bezalel Smotrich und der religiösen Rechten durchzusetzen.
Ultraorthodoxe Rabbiner wie Politiker wiederholen vor sich selbst und der israelischen Gesellschaft das Narrativ, dass sie sich an nichts beteiligten, was mit politisch-militärischen Fragen zu tun hat. Das mag möglich sein, wenn man nur wenige Mandate hat und die Regierung auch ohne diese auskommen kann. Das geht jedoch nicht, wenn man 18 Mandate hat und die Regierung, der man angehört, ohne diese Mandate nicht fortbestehen könnte. Wenn die rechten Regierungen auf eine Partnerschaft mit den ultraorthodoxen Parteien angewiesen sind und sich diese seit Langem dafür entscheiden, sich nur an rechtsgerichteten Regierungen zu beteiligen, dann sind die ultraorthodoxen Parteien auch für all das verantwortlich, was diese Regierungen im politisch-militärischen Bereich ausrichten. Mögen auch ihre eigenen Interessen in Staat und Religion – etwa finanzielle Mittel für Jeschiwas – der Hauptgrund für die Partnerschaft sein.
Mich persönlich schmerzt besonders die Passivität der ultraorthodoxen Parteien hinsichtlich der Frage, die derzeit auf dem Tisch liegt: Entweder die Rückkehr aller Geiseln, die Einstellung der Kämpfe im Gazastreifen und vielleicht auch ein umfassendes politisches Abkommen zu einem späteren Zeitpunkt – oder: Fortsetzung der Kämpfe, Aufgabe der Geiseln und die zunehmende Wahrscheinlichkeit eines endlosen Kriegszustands für die nächsten Jahrzehnte?
Die ultraorthodoxen Parteien hätten Netanjahu ein Ultimatum stellen können: Entweder er gehe auf einen allumfassenden «Geisel-Deal» ein, obwohl es die Einstellung der Kampfhandlungen erfordere, oder die Regierungskoalition zerbreche und die Ultraorthodoxen bildeten mit denjenigen, die den Deal annähmen, eine neue Regierung.
Im Gegensatz zu anderen linken Forderungen, bei denen nicht zu erwarten ist, dass ultraorthodoxe Parteien ihnen zustimmen, weil sie gegen ihre Ideologie verstoßen – zum Beispiel LGBT+-Rechte, Geschlechtergleichheit oder öffentliche Verkehrsmittel am Schabbat –, kann von ihnen mit aller Schärfe und völlig berechtigt gefordert werden, dass sie den «Geisel-Deal» unterstützen, denn dies würde sowohl ihrer Ideologie als auch ihrem Kerninteresse entsprechen. Gemäß der Halacha gehört die Freilassung von Gefangenen (Pidyon Schwuyim) zu den Mitzwot (Geboten), die Jüdinnen und Juden einhalten müssen. Tatsächlich haben führende ultraorthodoxe Tora-Gelehrte sowie die ultraorthodoxen Parteien erklärt, dass sie einen «Geisel-Deal» unterstützen würden, der das Ende des Krieges bedeuten würde – sollte es zu einer Abstimmung kommen.
Gemäß der Halacha hat die Rettung aus akuter Lebensgefahr (für Gefangene bzw. Geiseln) Vorrang vor der Abwendung einer potenziellen Lebensgefahr (für andere Israelis im Falle der Freilassung von palästinenischen Gefangenen oder der Einstellung der Kampfhandlungen). Während es einem einzelnen ultraorthodoxen Menschen in diesem Fall nicht möglich ist, die Mitzwa der Gefangenenauslösung zu erfüllen, können die ultraorthodoxen Parteien dies tatsächlich tun – und sind daher wohl verpflichtet, den «Geisel-Deal» aktiv voranzutreiben und nicht nur abzuwarten, bis es zu einem Deal kommt, dessen Bedingungen für den Premierminister akzeptabel sind.
Die Tatsache, dass die israelischen Soldat*innen und Reservist*innen fast am Ende ihrer Kräfte sind, macht es immer unmöglicher, dass ultraorthodoxe Männer nicht rekrutiert werden – und ist daher viel wirkungsvoller als die Entscheidung eines Gerichts oder einer anderen staatlichen Institution.
Wenn die Ultraorthodoxen also nicht wollen, dass der Rekrutierungsdruck auf sie weiter wächst, müssen sie diesen Krieg beenden und dürfen nicht zulassen, dass er fortgesetzt wird und sich in eine Militärherrschaft im Gazastreifen und einen ausgedehnten Krieg im Libanon entwickelt.
Angesichts all dessen hätte von den führenden ultraorthodoxen Tora-Gelehrten und den ultraorthodoxen Parteien zu dieser Zeit erwartet werden können, dass sie hinter ihren eigenen Prinzipien und Werten stehen und ein Gegengewicht bilden zu den Politiker*innen der israelischen Rechten und des Mainstreams, die es vorziehen, den Krieg fortzusetzen, die sich weigern, überhaupt über diplomatische Lösungen zu diskutieren, und bereit sind, das Leben der Geiseln zu opfern.
Ich werde mit einem Gebet schließen, einem Auszug aus der Gebetssammlung von Rabbiner Nathan (Sternhartz) von Brazlaw, dem angesehenen Schüler von Rabbiner Nachman von Brazlaw, der im 19. Jahrhundert in der Ukraine lehrte und den Chassidismus in Brazlaw begründete – eine wichtige chassidische Strömung, die die gesamte ultraorthodoxe Gesellschaft Israels und anderer Weltregionen beeinflusst.
Möge es Dein Wille sein, Jahve, unser Gott und der Gott unserer Vorfahren, dass Du Kriege und Blutvergießen aus der Welt verbannst und dass Du großen und wunderbaren Frieden in die Welt bringst, so dass kein Volk gegen ein anderes das Schwert erhebt und keiner mehr lernen wird, Krieg zu führen; stattdessen mögen alle Bewohner der Erde die absolute Wahrheit erkennen und wissen, dass wir nicht für Streit und Zwist, Gott bewahre, auf diese Welt gekommen sind, noch für Hass und Neid und Feindseligkeit und Blutvergießen, Gott bewahre; wir sind nur auf diese Welt gekommen, um Dich zu erkennen und zu kennen, Sei für ewig gesegnet. Möge erfüllt werden, was geschrieben steht: Ich werde Frieden im Land schaffen, und wenn ihr euch hinlegt, wird euch niemand erschrecken; ich werde die wilden Tiere aus dem Land entfernen, und kein Schwert wird durch euer Land kommen.
Aus dem Hebräischen von Ursula Wokoeck Wollin
Autor:in
Michal Zernowitski leitet das ultraorthodoxe politische Programm bei der Berl Katznelson Foundation. Sie ist eine der Initiator*innen und Förder*innen der Einbeziehung ultraorthodoxer Bildung in das staatliche Bildungswesen, und eine der leitenden Persönlichkeiten in der Bewegung der Religiösen Linken.