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Linke Aktivist*innen protestieren vor der US-amerikanischen Botschaft für ein Ende des Krieges im Gazastreifen und im Libanon, 20. November 2024. Foto: Flash90

Was ist die Aufgabe der israelischen Linken in Zeiten eines Genozids?

Die israelische Linke ist seit dem Angriff vom 7. Oktober gespaltener und marginalisierter denn je und auch der gemeinsame palästinensisch-jüdische Kampf erlebt eine Zerreißprobe. Doch palästinensisch-jüdische Bündnisse setzen weiterhin auf einen langfristigen politischen Wandel.

Im Juni 2024 erregte die Nachricht von der Fusion zweier altbewährter israelischer Parteien auf der linken Seite des zionistischen Spektrums – der Arbeitspartei HaAvoda und des linksliberal-sozialistischen Bündnisses Meretz – nur wenig Aufsehen. Da die einst dominierende Arbeitspartei nur noch vier der 120 Sitze der Knesset innehat und Meretz bei den Wahlen im Jahr 2022 an der Sperrklausel scheiterte und danach nicht mehr im Parlament vertreten war, überraschte diese Neuigkeit kaum noch jemanden. In Ermangelung einer überzeugenden Alternative zur anhaltenden Unterdrückung der Palästinenser*innen durch das israelische Militär ist Israels parlamentarische Linke – derzeit unter Führung von Yair Golan, einem ehemaligen Armeegeneral, der im Sommer an vorderster Front der Befürworter*innen eines Einmarsches in den Libanon stand – zur Irrelevanz verdammt.

„In Israel gibt es keine linke Politik. Das ist eine Tatsache, die viele Leute übersehen“, twitterte der palästinensische Aktivist Hamze Awawde im Juli 2024. Mit seiner Äußerung reagierte er auf die Verabschiedung einer Resolution in der Knesset mit 68 zu neun Stimmen gegen eine palästinensische Eigenstaatlichkeit, wobei nur Abgeordnete von palästinensisch geführten Parteien gegen die Resolution stimmten. „Es gibt zwar einige linke Graswurzelbewegungen, aber linke Politik als politische Kraft gibt es in Israel schlichtweg nicht“, schrieb Awawde.

Die Frage, wie man als Linke die israelische Politik am besten von innen heraus verändern könnte, während es keine linken Führungsfiguren gibt, sorgt für endlose Debatten unter Aktivist*innen vor Ort. Seit dem Oslo-Prozess herrscht sowohl innerhalb als auch außerhalb der Linken die Meinung vor, dass die israelische Linke kein politisches Potenzial hat – aufgrund ihrer geringen Größe, ihrer schwachen Wahlergebnisse, ihrer internen Konflikte sowie ihrer schwindenden Solidarität mit den Palästinenser*innen und der mangelnden Zusammenarbeit mit palästinensischen Führungspersonen.

Die Marginalisierung der Linken ist seit dem 7. Oktober noch weiter fortgeschritten und wird von Israels politisierter Polizei befördert. Selbst Familienangehörige israelischer Geiseln, die eine Waffenruhe forderten, um ihre Angehörigen zu befreien, wurden drangsaliert und als linke Verräter*innen diffamiert. Auch die immer stärkere Repression der palästinensischen Gesellschaft hat den Spielraum für Dissens oder kollektives politisches Handeln im Laufe des letzten Jahres drastisch reduziert. Schon wenige Tage nach dem Angriff der Hamas sahen sich palästinensische Bürger*innen Israels mit einer von der Regierung gestützten Kampagne der Einschüchterung, Verfolgung, Überwachung und Schikane konfrontiert.

Nichtsdestotrotz haben linke israelische Aktivist*innen im vergangenen Jahr ihre Bemühungen um eine friedlichere, gerechtere und gleichberechtigte Zukunft für Israelis und Palästinenser*innen beharrlich fortgesetzt.

Das eher der zionistischen Linken nahestehende „Friedenslager“, das größtenteils von Nichtregierungsorganisationen getragen und von internationalen Stiftungen finanziert wird, ist derzeit dabei, sich nach den Schrecken der Hamas-Angriffe vom 7. Oktober und der Verzweiflung über Israels darauffolgenden Krieg im Gazastreifen neu zu sortieren. Links des Friedenslagers gibt es noch ein kleineres Netzwerk von Organisationen, das international weniger Beachtung findet und selbst im Friedenslager oft im Abseits steht. Diese Aktivist*innen, welche von Antizionist*innen über Nicht-Zionist*innen bis hin zu solchen reichen, die derartige Kategorien zur Gänze ablehnen, befinden sich am äußersten linken Rand der israelischen Gesellschaft und werden zuweilen als die „radikale Linke“ bezeichnet.

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Demonstrierende fordern ein Ende des Krieges im Gazastreifen, Habima Square in Tel Aviv, 8. Juni 2024. Foto: Flash90

Im Gegensatz zum Mainstream-Friedenslager haben sich diese Aktivist*innen von Anfang an entschieden gegen den derzeitigen Krieg gestellt – und fordern das Ende des israelischen Regimes von Besatzung, Apartheid und jüdischer Vorherrschaft. Sie setzen auf Basisorganisation, Stärkung des gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Kampfes und auf das Aufzeigen der Zusammenhänge zwischen Israels kolonialer Herrschaft über die Palästinenser*innen und der ethnisch-klassistischen Ungleichheit innerhalb der israelischen Gesellschaft.

Zumeist findet man diese Aktivist*innen bei der Planung von oder der Teilnahme an Anti-Kriegs-Protesten oder bei sogenannten „protective presence“-Aktionen; das sind Aktionen, mit denen Aktivist*innen durch ihre physische Anwesenheit palästinensische Communities im besetzten Westjordanland schützen, die von Vertreibung durch Siedler*innen oder die Armee bedroht sind. Viele der Aktivist*innen haben Haftstrafen wegen Verweigerung des obligatorischen Militärdienstes verbüßt und nehmen regelmäßig an von Palästinenser*innen getragenen Protesten sowohl im Westjordanland als auch innerhalb Israels teil.

Niemand von ihnen gab sich der Illusion hin, interner Druck von links könne Israel dazu bewegen, das Blutvergießen in Gaza zu beenden. Stattdessen rufen diese Aktivist*innen ausländische Regierungen auf, die Waffenlieferungen nach Israel einzustellen. Resignation und Verzweiflung herrschen bei ihnen vor, doch angesichts ihrer relativ privilegierten Position empfinden sie ihren Aktivismus als das Mindeste, was sie tun können – auch wenn sie wissen, wie begrenzt die Wirkungen ihrer Aktionen sind.

Die fast zwei Dutzend Aktivist*innen, die mit dem +972 Magazin sprachen, sind sich auch bewusst, dass ein Waffenstillstand an den politischen Strukturen in Israel und in den USA nichts Grundlegendes ändern wird – jenen Strukturen, die es Menschen in beiden Ländern ermöglicht, sich am massenhaften Aushungern und Töten von Palästinenser*innen zu beteiligen. Selbst nach dem Waffenstillstandsabkommen hat die Auseinandersetzung darüber, zu einer Gesellschaft zu gehören, in der der Wunsch nach der Auslöschung der Palästinenser*innen und der Grad ihrer Entmenschlichung neue Dimensionen erreicht haben, gerade erst begonnen.

„So viele Menschen hier befinden sich in einem faschistischen Rausch“, sagt die Aktivistin und Podcasterin Yahav Erez gegenüber dem +972 Magazin. „Ich frage mich: ‚Yahav, du lebst in einem genozidalen Staat, fast alle um dich herum haben null Empathie für die, die nicht ‚ihre‘ Leute sind, und du stehst noch immer in Kontakt mit ihnen – wie kannst du das rechtfertigen?‘ Andererseits war ich früher genau wie sie.“

Angesichts dieser scheinbar unüberwindbaren Hindernissesetzen die radikalen Linken Israels auf einen langfristigen politischen Wandel. Premierminister Benjamin Netanjahu ist nicht unsterblich; die militaristische Mitte und die messianische extreme Rechte scheinen derzeit seine wahrscheinlichsten Nachfolger zu sein. Das Ziel der Linken ist es, jetzt die Weichen so zu stellen, dass sie nach Ende des Krieges eine ernsthafte politische Kraftsein können. Um dies zu erreichen, sind sie aktuell dazu gezwungen, ihr Selbstverständnis neu zu überdenken: Was steht in ihrer Macht? Wer macht ihre Basis aus? Welche Fähigkeiten haben sie, um einen Wandel herbeizuführen?

Die Kraft, die nach links zieht

In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben die israelische Mitte und die Rechte das „Managen“ oder „Schrumpfen“ des Konflikts forciert – darunter wird die Idee verstanden, dass Israel die Palästinenser*innen weiterhin gewaltsam unter Kontrolle halten und die Besatzung und Blockade mit seinem hoch technisierten Militär durchsetzen kann, während es gleichzeitig Normalisierungsabkommen mit arabischen Ländern vorantreibt.

Eine Zeit lang schien dieses Kalkül aufzugehen. Aktivist*innen der radikalen Linken und des Friedenslagers im Allgemeinen hatten Mühe, der Bevölkerung ein Gefühl der Dringlichkeit zu vermitteln, wenn es um die Rechte der Palästinenser*innen ging. Die meisten jüdischen Israelis konnten ihr Alltagsleben ganz „normal“ weiterführen, ohne sich allzu viele Gedanken über die Palästinenser*innen zu machen. „Ich will ganz ehrlich sein: Wir befanden uns in einer Sackgasse“, erzählt Sally Abed, eine führende palästinensische Aktivistin in der jüdisch-arabischen Bewegung Standing Together. „Niemand sprach über die Besatzung, niemand sprach über den Frieden. Die allgemeine Stimmung war: ‚Wen interessiert das schon?‘“

Abseits der großen Schaltstellen der Macht hat die wachsende Ablehnung des Krieges dem israelischen Friedenslager sporadisch neue Kraft verliehen, versinnbildlicht durch die Konferenz „It՚s Time – The Big Peace Conference“ am 1. Juli 2024. Die Konferenz markierte eine potenzielle Öffnung jener Linken, die versucht hatten, die Pro-Waffenstillstand-Proteste mit einer expliziten Anti-Besatzungs-Agenda zu verknüpfen. Abed erklärt, dass die Bewegung Standing Together, die irgendwo zwischen dem traditionellen Friedenslager und der radikalen Linken einzuordnen ist, als „die Kraft fungieren will, die diejenigen [nach links] zieht, die unmittelbar rechts von uns stehen; die größtenteils auf unserer Seite sind, aber nicht den Mumm haben zu sagen, was wir sagen“.

Um jenem Schicksal zu entgehen, welches das israelische Friedenslager nach dem Oslo-Prozess ereilt hat, müssten sie aus den vergangenen Fehlern der Linken lernen, erzählen verschiedene linke Organisator*innen gegenüber dem +972 Magazin  wie in jüngster Zeit aus den Versäumnissen bei den Massenprotesten gegen den Justizputsch der rechtsradikalen Regierung.

Bei diesen Demonstrationen, die von Januar 2023 bis zum 7. Oktober 2023 wöchentlich stattfanden, gingen Hunderttausende Israelis im Namen der Demokratie auf die Straße. Die Anführer*innen der prodemokratischen Proteste versuchten jedoch, „den Diskussionsrahmen auf die Justizreform und die Korruptionsvorwürfe gegen Netanjahu zu beschränken“, so Noa Levy, Sekretärin der kommunistischen Chadasch-Partei im Ortsverband Tel Aviv-Jaffa sowie Rechtsberaterin und Mitbegründerin von Mesarvot [dt.: „Wir verweigern“], einem Netzwerk von Militärdienstverweigerer*innen.

Angesichts dieser Tendenzen bildeten Levy und andere Aktivist*innen einen „Anti-Besatzungs-Block“ innerhalb der breiteren Protestbewegung, in dem die Apartheid und die Entrechtung der Palästinenser*innen als Kernpunkte jeder Diskussion über die israelische Demokratie hervorgehoben werden. Der Mainstream der Protestbewegung behandelte jedoch den Anti-Besatzungs-Block der bisweilen mehrere Tausend Demonstrierende umfasste mit seinen palästinensischen Fahnen, arabischen Gesängen und Slogans wie „Es ist keine Demokratie, solange es Besatzung gibt“ mehrheitlich als irritierende Randgruppe. Doch selbst innerhalb des Blocks gab es erhebliche Meinungsverschiedenheiten.

Bald bildete sich der Radikale Block, eine Gruppe von einigen Hundert äußerst linken Israelis, neben dem Anti-Besatzungs-Block als eine unabhängige Kraft heraus. Seit dem 7. Oktober ist der Radikale Block ein integraler Bestandteil der Pro-Waffenstillstands-Demonstrationen geworden. Im Gegensatz zum größeren Anti-Besatzungs-Block versteht diese Gruppe den Zionismus als ein „siedlerkoloniales Projekt“ und kämpft für eine Gleichberechtigung aller Menschen zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer sowie für das Recht auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge, die im Zuge der Nakba vertrieben wurden.

Ihre Slogans und Sprechchöre auf den Demonstrationen – von „Es ist kein Konflikt, es ist Völkermord“ über „Pilot, hör auf, Kinder zu ermorden“ bis hin zu „Oma, wo warst du während des Völkermords im Gazastreifen?“ – sind mehr als nur eine Irritation für den Mainstream der Pro-Waffenstillstand-Demonstrant*innen: Vielmehr sind sie eine radikale Absage an die meisten der auf den Demonstrationen verbreiteten Einstellungen.

„Wenn man der Meinung ist, dass sich die Dinge nicht ändern lassen, betreibt man keine Politik des Wandels.“

Die Meinungsverschiedenheiten dieser Gruppierungen können nicht als Zersplitterung oder belanglose Grabenkämpfe innerhalb des linken Lagers abgetan werden. Sie spiegeln vielmehr die unterschiedlichen Antworten auf dieselbe grundlegende Frage wider: Kann sich die israelische Gesellschaft verändern – oder ist sie gefangen in einem permanenten Zustand gewalttätiger antipalästinensischer Wut?

Die israelische Linke ist geteilter Meinung. „Ich denke nicht, dass wir die Einstellung der Menschen von innen heraus ändern können“, sagt M., ein*e Aktivist*in des Radikalen Blocks, die*der aus Angst vor Doxxing [Veröffentlichung personenbezogener Daten im Internet mit meist bösartigen Absichten; Anm. d. Ü.] vorzog, anonym zu bleiben. „Wir können niemanden überzeugen, der nicht bereits ähnlich denkt wie wir.“

Deswegen komme es nicht darauf an, die Einstellung der Israelis zu ändern, sondern eine Stimme der Wahrheit in einer Gesellschaft zu sein, die sich in einem fast zwanghaften Zustand der Verleugnung der von ihr selbst ausgeübten Gewalt befinde.

„Es gibt hier das ‚David-und-Goliath-Syndrom‘“, fährt M. fort. „Wir [israelische Juden*Jüdinnen] stellen uns immer als David dar, und es muss immer einen Goliath geben, der uns angreift. Selbst wenn wir mehr als 40.000 Menschen töten – wir denken immer, wir seien das Opfer.“

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Linke Aktivist*innen protestieren vor der US-amerikanischen Botschaft für ein Ende des Krieges im Gazastreifen und im Libanon, 20. November 2024. Foto: Flash90

Yahav Erez sieht das anders. Der Zionismus sei keine den Israelis angeborene Identität, sondern eine politische Ideologie, die wie jede andere Ideologie hinterfragt werden könne – und dies zu tun, bleibe eine wesentliche Aufgabe für israelische Linke. „Ich komme mit Menschen ins Gespräch, deren Geschichten der lebende Beweis dafür sind, dass man sich ändern kann“, sagt sie gegenüber dem +972 Magazin. „Zionismus ist nicht etwas, mit dem man geboren wird und was man dann für den Rest seines Lebens ist.“

Yeheli Cialic, eine Aktivistin der Kommunistischen Partei Israels und frühere Koordinatorin des Netzwerks Mesarvot, stimmt dem zu. „Ich will nicht, dass man [Israelis] als [ganz anders als] irgendwelche anderen Arschlöcher in der Welt darstellt“, sagt er. „Wenn wir denken, dass Menschen sich nicht bewegen und Dinge sich nicht ändern lassen, machen wir keine Politik des Wandels. Und das ist unverantwortlich, denn es geht hier um Menschenleben“.

Wie unterschiedlich die Gruppen auf die israelische Öffentlichkeit zugehen, zeigt sich in der Regel schon in ihrer Wortwahl – sei es auf Protestschildern, in Gruppenchats oder in Beiträgen in den sozialen Medien. Im November 2023 endete die Zusammenarbeit zwischen dem Radikalen Block und dem größeren Anti-Besatzungs-Block, weil Letzterer den Begriff „Genozid“ zur Beschreibung des israelischen Vorgehens im Gazastreifen nicht verwenden wollte. „Die Strategie des Anti-Besatzungs-Blocks war es, so viele Menschen wie möglich aus dem Mainstream anzusprechen“, erklärt M. „Unsere Strategie war es, keine Kompromisse bezüglich unserer Aussagen einzugehen – wenn die breite Öffentlichkeit [einen Genozid nicht als das bezeichnen kann, was er ist], dann sprechen wenigstens wir die Wahrheit aus.“

Für Cialic hingegen ist die Verwendung einer kompromisslosen Sprache innerhalb der israelischen Linken und bei Aktivist*innen im Ausland Ausdruck einer Mentalität von „Versager*innen. „Das ist eine Politik der Selbstdarstellung und nicht eine Politik des Kräfteaufbaus oder ein Kampf um den Erfolg“, argumentiert er. „Wenn du auf der Straße ein Schild auf Hebräisch hochhält, ist das ein Kommunikationsversuch. Du willst der israelischen Öffentlichkeit etwas mitteilen. Wenn deine Botschaft die Leute aber sofort dazu bringt, sich zu verschließen, oder sie die Aussage gar nicht verstehen und wütend werden, dann hast du in deinem Kommunikationsakt in dieser politischen Aktion versagt.“

Aktivist*innen, die an die israelische Öffentlichkeit appellieren wollen, haben zudem damit zu kämpfen, dass die derzeitige israelische Regierung völlig unempfänglich für Druck von der Straße ist. Das ist nicht nur in Israel, sondern in der ganzen Welt so: Von den Vereinigten Staaten über Deutschland bis hin zu Ägypten und der Türkei wurden die Straßen von massiven Protesten überschwemmt, die Gerechtigkeit für Palästinenser*innen einforderten, ohne dass dies einen nennenswerten Einfluss auf die Politik der jeweiligen Regierungen gehabt hätte. Dieser Zustand hat zu einem Gefühl der Orientierungslosigkeit unter den Aktivist*innen geführt, da es ihnen praktisch unmöglich ist, zu beurteilen, ob ihre Anstrengungen überhaupt etwas bewirken.

„In der Regierung gibt es niemanden mehr, bei dem es sich lohnen würde, Druck ausüben zu wollen“, sagt Amjad Shbita, Chadasch-Generalsekretär und palästinensischer Staatsbürger Israels. „Unter Netanjahus früheren Regierungen gingen wir auf die Straße und waren der Meinung: ‚Okay, Bibi wird zwar nicht auf uns hören, aber es gibt andere, gemäßigtere Kräfte, auf die der Protest wirken wird.‘ Das ist in der gegenwärtigen Situation nicht so.“

Angesichts der mageren Ergebnisse, die ein Druck „von unten“ gezeitigt hat, müssen sich die israelischen Aktivist*innen auf äußere Kräfte verlassen: auf diplomatische Interventionen und Plädoyers für palästinensische Eigenstaatlichkeit, auf internationale Gerichte, Boykottbewegungen und Sanktionen. Ende Oktober 2024 unterzeichneten mehr als 3.500 israelische Bürger*innen einen offenen Brief, in dem sie dazu aufriefen, jede nur mögliche Form von globalem Druck auf Israel auszuüben, um den Völkermord in Gaza zu beenden. „Leider unterstützt die Mehrheit der Israelis die Fortsetzung des Krieges und der Massaker“, heißt es in dem Schreiben, „ein Wandel von innen heraus ist derzeit nicht möglich.“

Eine zerrüttete Partnerschaft

Da es kaum möglich ist, Druck auf die Regierung auszuüben oder ihre jüdischen Mitbürger*innen zu erreichen, haben viele israelische Linke sich dem gemeinsamen palästinensisch-jüdischen Kampf zugewandt. Doch die Angriffe vom 7. Oktober und die anschließende Gewalt im Gazastreifen haben palästinensisch-jüdische Organisationen auf eine Zerreißprobe gestellt.

„Anfang Oktober 2023 konnte sich niemand vorstellen, wie man überhaupt noch im selben Raum sitzen und jeweils den Schmerz der anderen Seite anerkennen könnte. Das war unvorstellbar“, erinnert sich Abed von Standing Together. „Viele jüdisch-israelische Linke haben ihr grundsätzliches Verständnis davon, wer zum ‚Wir‘ zählt, geändert“, erklärt Levy von Chadasch. „Zum ‚Wir‘ gehören jetzt nur noch Juden*Jüdinnen. Und das ‚Sie‘, die anderen, das sind Araber*innen, die beweisen müssen, dass sie ‚unsere‘ Partner sind. Plötzlich wurde die Partnerschaft selbst infrage gestellt.“

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Palästinenser*innen und linke israelische Aktivist*innen protestieren gegen einen illegalen Siedlungsaußenposten auf dem Gebiet von Al-Makhrour, in der Nähe von Bethlehem, im besetzten Westjordanland, 3. September 2024. Foto: Flash90

Nisreen Morqus, Generalsekretärin der kommunistisch geprägten Bewegung der demokratischen Frauen in Israel (bekannt unter dem hebräischen Akronym Tandi), sieht diese Spannungen als normalen Teil des gemeinsamen Kampfes, die bei jeder Gewalteskalation wieder neu aufflammen. „Nationalistische Gefühle sind in der Lage, unsere gemeinsam geteilten Prinzipien zu verdrängen“, sagt sie. „Wenn das passiert, müssen wir uns die Sichtweise aller anhören und auch weiterhin daran arbeiten, die Politiken der Regierung und der Öffentlichkeit zu beeinflussen. Dafür brauchen wir einen gemeinsamen Kampf, keinen getrennten.“

Gemeinsamer Kampf bedeute nicht, dass man sich für alle Aktionen zusammentun müsse, erklärt Shbita von Chadasch; vielmehr müssten die Aktivist*innen erkennen, wann ein gemeinsames Vorgehen strategisch sinnvoll sei. Für Shbita haben „Araber*innen und Juden*Jüdinnen, die gemeinsam öffentlich protestieren, einen enormen Mehrwert; die Menschen sehen uns zusammen und spüren Hoffnung.“ Doch bei Kommunal- oder Parlamentswahlen, bei denen jüdisch-arabische Parteien in der Regel schlecht abschneiden und mit zusätzlichen politischen und bürokratischen Hürden konfrontiert sind, könne „eine zu enge jüdisch-arabische Zusammenarbeit manchmal wesentlich weniger effektiv sein“.

Unabhängig davon, ob bestimmte Taktiken gemeinsam oder getrennt verfolgt werden, so schlussfolgert Shbita, „ist es wichtig, dass die Menschen ihr Herz am rechten Fleck haben: dass sie offen sind und dies als einen einzigen, gemeinsamen Kampf sehen“. Um ihre Basis davon zu überzeugen, dass ein solcher Kampf nicht nur wünschenswert, sondern auch in der Sache gerechtfertigt ist, ist es für die Aktivist*innen besonders wichtig zu zeigen, dass jüdische und palästinensische Interessen einander ergänzen und miteinander verflochten sind und dass jüdische Israelis auch davon profitieren, wenn Palästinenser*innen Freiheit und Rechte erlangen.

Dieser Gedankengang ist für die meisten Israelis außerhalb der Linken nicht selbstverständlich. Frieden wird stattdessen zumeist als eine Art „Großzügigkeit“ gegenüber den Palästinenser*innen betrachtet, die für die jüdisch-israelische Gesellschaft nur mit Kosten verbunden sei.

Im Gegensatz zu dieser gängigen Sichtweise vertreten einige Linke die Auffassung, dass israelischen Juden*Jüdinnen sehr wohl ein Eigeninteresse daran haben müssten, ihre auf jüdischer Vorherrschaft basierenden Privilegien aufzugeben. Denn in Wahrheit würden diese auf einem faulen Kompromiss beruhen: Die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung erfordere ein immer größeres Maß an Entmenschlichung und Gewalt, das die vermeintlichen Nutznießer*innen des Regimes jüdischer Vorherrschaft nicht ausspare, da dieses Regime nur durch eine militarisierte Gesellschaft aufrechterhalten werden könne. Die wiederum verlange von allen ihren Mitgliedern Einförmigkeit und Gehorsam und richte ihre Gewalt auch nach innen: gegen Einwander*innen, Frauen, queere Menschen, Menschen mit Behinderung, Arme, Oppositionelle und gegen die gesamte arabische Kultur.

Vielen bereitet es Unbehagen, an die Eigeninteressen der jüdischen Israelis zu appellieren, denn es mag herzlos oder realitätsfern anmuten, über die Ängste der Israelis zu reden, während Israels Völkermord in Gaza jeden Tag neue Schrecken schafft, deren volles Ausmaß noch immer nicht bekannt ist. Darüber hinaus gibt es innerhalb der globalen Linken eine Auseinandersetzung darüber, was Solidarität bedeutet und wie sie in der Praxis ausgeübt wird. Einige Linke bestehen darauf, dass es nicht die Eigeninteressen der privilegierten Seite des Konflikts sein sollen, die sie dazu motiviert, die andere Seite zu unterstützen. Viel eher solle Solidarität bedingungslos sein.

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Ein israelischer Polizist konfisziert ein gegen Genozid gerichtetes Banner auf einem linken Protestmarsch gegen den Krieg in Gaza; Jerusalem, 22. November 2024. Foto: Flash90

Einer weiteren Ansicht nach sei Solidarität nicht bloß ein diskursiver Ausdruck der Unterstützung der einen Gruppe für die andere. Vielmehr sei Solidarität ein Prozess sozialer und politischer Transformation, der die Logik der Spaltung und der Gewaltbeziehungen durch einen gemeinschaftlichen politischen Kampf mit neuen Allianzen ersetze. Eine solche Solidarität beginne mit der Erkenntnis, dass die Schicksale aller Menschen, die zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben, materiell und unwiderruflich miteinander verwoben sind.

„Die Besatzung wird durch wirtschaftliche und materielle Erwägungen angetrieben“

Eine weiterhin bestehende Schwachstelle der traditionellen Anti-Besatzungs-Gruppen ist die weitverbreitete Annahme, dass die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Israels für den Aufbau einer linken politischen Macht irrelevant sei: die Mizrachim, also diejenigen Juden*Jüdinnen des Landes, die ihre Wurzeln in Asien und Nordafrika haben und die in Israel historisch durch die aschkenasischen, aus Europa stammenden Juden*Jüdinnen marginalisiert wurden. Der Grund für diese abschätzige Annahme ist die Vorstellung, Mizrachim seien durch und durch Unterstützer*innen rechter Politik und insbesondere Anhänger*innen der Likud-Partei Netanjahus.

„Es existiert die klischeehafte Vorstellung, die Mizrachim würden die Rechte unterstützen, die wiederum die Besatzung gutheißen. Wenn es also gemäß diesem Denken die Mizrachim nicht gäbe, gäbe es vielleicht keine Besatzung“, erklärt Professor Moshe Behar, Mitbegründer des Mizrachi Civic Collective. Hartnäckig hält sich eine solche Auffassung in Anti-Besatzungs-Gruppen, obwohl Studien zeigen, dass der prozentuale Unterschied zwischen Mizrachim und Aschkenasim, wenn es um die Wahl rechter Parteien geht, je nach Zeitpunkt stark schwankt und dass Bildung ein wichtigerer Indikator für die Wahlentscheidung ist als ethnische Zugehörigkeit.

Behar zufolge besteht das Problem darin, dass die Anti-Besatzungs-Linke den Kampf um die Behebung ethnisch-klassistischer Ungleichheiten innerhalb Israels nicht mit dem Kampf um palästinensische Rechte zusammendenkt. Viel eher werde die Diskriminierung von Mizrachim als eine „zweitrangige oder nebensächliche Sache“ verstanden. Doch könne man diese beiden Themen nicht voneinander trennen, denn „die Palästina-Frage beruht nicht nur auf dem Konflikt zwischen zwei vermeintlichen Nationen, einer Hebräisch sprechenden jüdischen Nation und einer palästinensischen; vielmehr wird die Besatzung durch wirtschaftliche und materielle Erwägungen angetrieben.“ Und es sei „gerade die traditionelle Linke gewesen, die eine Abkoppelung der beiden Themen – der ethnisch-klassistischen Ungleichheiten [innerhalb der israelischen Gesellschaft, Anm. d. Ü.] und den politischen Rechten der staatenlosen, unter Besatzung lebenden Palästinenser*innen im Westjordanland sowie im Gazastreifen – vorangetrieben hat. Diese Abkopplung hat die [israelische] Linke seit 1967 geschwächt“, fügt er hinzu.

Diese Schwäche wurde bei den prodemokratischen Demonstrationen im letzten Jahr in aller Deutlichkeit sichtbar, als es nicht gelang, Mizrachim zu mobilisieren oder auch nur zu erreichen. Bei den Protesten thematisierte man nicht, wie sich der Justizputsch der extremen Rechten auf die armen Israelis, die Arbeiter*innenklasse und auf entrechtete Communities auswirken würden – ein Versäumnis, das heftige Kritik vonseiten der Mizrachi-Aktivist*innen und linker Bewegungen auslöste.

Wie Behar erklärt, wurde bei den Demokratieprotesten „kein Wort über den Sozialstaat, die gewerkschaftliche Organisierung oder die Arbeitnehmerrechte verloren, ganz zu schweigen davon, dass die Justizreformen das öffentliche Bildungs- und Gesundheitssystem völlig aushöhlen würden“. Dies habe es den Rechten leicht gemacht, populistische Ressentiments und eine revanchistische Identitätspolitik der Mizrachim zu mobilisieren, die sich gegen die aschkenasische Elite richtete – die Gruppe, die die Proteste dominierte.

Laut Sapir Sluzker Amran, Menschenrechtsanwältin und Mitbegründerin der mizrachischen Frauenbewegung Schowrot Kirot [dt.: „Mauern durchbrechen“], (die vor Kurzem ankündigte, ihre Tätigkeit Ende des Jahres einzustellen), gelang es der Rechten, die Protestierenden als „privilegierte, linke, reiche Aschkenasim zu karikieren, die all die Jahre die Kontrolle [über das Land] hatten, und jetzt heulen, weil ihre Privilegien in Gefahr sind“. Das Mizrahi Civic Collective und Schowrot Kirot wehren sich gegen die populistische und konservative Vereinnahmung des gesamten Mizrachi-Kampfes, indem sie sich sowohl für Verteilungsgerechtigkeit als auch für ein Ende der Besatzung einsetzen. Damit stehen sie für einen neu belebten materialistischen Zugang zum Mizrachi-Aktivismus.

Behar zufolge hat sich in den letzten 15 Jahren „ein Großteil der mizrachischen Linken auf Fragen der Kultur, der Repräsentation, der Musik und der Kunst konzentriert“ und dabei sowohl palästinensische als auch sozioökonomische Themen ausgeklammert. „Die Vernachlässigung von Fragen der materiellen Existenzgrundlage hat der Rechten die Vereinnahmung des Mizrachi-Kampfs so leicht gemacht.“

Für Netta Amar-Shiff, Anwältin und Mitbegründerin des Mizrahi Civic Collective, muss die israelische Linke aufhören, die Ablehnung der Besatzung als ein Indiz für Klasse, Status oder Bildung zu betrachten. „Unterstützung für Frieden ist kein kulturelles Kapital“, das nur für Israelis mit einem bestimmten Hintergrund zugänglich sei, betont sie. „Wir bieten etwas an, das es derzeit im Friedenslager nicht gibt: ein umfassenderes Verständnis, ein breiteres Spektrum an politischen Ansätzen. Und wenn man uns zuhört, sind wir vielleicht alle zusammen in der Lage, gegen Ungleichheit und Krieg vorzugehen.“

Der Kampf um die Peripherie

Durch die Verbindung des Kampfs gegen Apartheid mit dem Kampf um das Ende ethnisch-klassistischer Ungleichheit könnten israelische Linke in der Lage sein, Kapital daraus zu schlagen, wenn die Unterstützung für das israelische Regimes mal etwas bröckelt. Das könnte vornehmlich in den Regionen geschehen, die in Israel die „Peripherie“ genannt werden – in der Wüste Negev/Naqab im Süden und in Galiläa im Norden des Landes. Dies gilt vor allem für die dort ansässigen Beduin*innen, Mizrachim sowie die Arbeiter*innen rund um den Gazastreifen, die zu den Communities gehören, die durch den Angriff der Hamas am 7. Oktober am stärksten betroffen waren, aber sowohl an diesem Tag als auch in den darauffolgenden Wiederaufbauplänen von der Regierung im Stich gelassen wurden. Die Regierung setzte damit die schon traditionelle institutionelle Diskriminierung dieser Gruppen fort.

Mehr denn je scheinen die politischen Sympathien benachteiligter und schutzbedürftiger Gemeinschaften auf dem Spiel zu stehen – eine Tatsache, die auch innerhalb der Rechten nicht unbemerkt geblieben ist. Omer Rahamim, der Vorsitzende des Yescha Council, eines Dachverbands von Siedler-Gemeinderäten, warnte, dass laut Umfragen „die größte Gruppe, die immer für den Likud gestimmt hat, die aber auch als seine Wählerbasis verloren gehen könnte, die Gemeinde der traditionellen Mizrachim ist“.

In der Zwischenzeit zielen neue Initiativen wie das Projekt Okef Israel [dt. „Israels Umgehungsstraße“] der NGO Schowrot Kirot auf den Aufbau einer alternativen politischen Infrastruktur ab, durch die Vertreter*innen aus Städten und nicht anerkannten Dörfern der Peripherie gemeinsam Geld sammeln und politische Entscheidungen treffen können.

„Es gibt eine Offenheit für neue Ansätze [unter den Einwohner*innen]“, berichtet Amar-Shiff. Doch die Rechte sei besser darauf vorbereitet, aus dieser Aufgeschlossenheit Nutzen zu ziehen. „Ich kann als freundliche Dame nach Ofakim [eine mehrheitlich von Mizrachim bewohnte Stadt im Süden Israels, in der es zu einem der schwersten Gefechte des 7. Oktobers kam] kommen und der dortigen Gemeinde meine Hilfe bei der Durchsetzung ihrer politischen Ziele anbieten, aber es gibt eben auch die Gruppe Garin Torani.“ [“Kern-der-Torah“; ein religiös-zionistisches Netzwerk neuer, missionierender Gemeinden, die darauf abzielen, weitere Stadtteile und Städte zu „judaisieren“]. Und diese hätten mehr zu bieten als nur freundliche Worte.

„Die können Waffen, Wohnungen, Kinderbetreuung und außerschulische Programme anbieten“, sagt Amar-Shiff. „Und sie bringen ihre eigene Variante des Judentums mit, ein Judentum des Hasses.“

Das Mizrahi Civic Collective hingegen arbeitet mit einem Konzept, das es als „gegenseitige Rettung“ [mutual rescue] bezeichnet: Seine Mitglieder gehen davon aus, dass verschiedene, materiell gefährdete Communities in der Region – beispielsweise die Bewohner*innen der geografischen und sozialen „Peripherie“ Israels und die Palästinenser*innen in den ländlichen Gebieten des Westjordanlandes – die Macht haben, sich gegenseitig vor Gewalt und Enteignung zu schützen, und dass eine solche gegenseitige Hilfe höchst politisch ist.

Viele Linke jedoch lehnen diese Idee ab, da sie entpolitisierten Koexistenz-Initiativen misstrauisch gegenüberstehen und jegliche Annahme, die Situation von israelischen Juden*Jüdinnen und Palästinenser*innen seien vergleichbar, kritisieren. Doch wie Amar-Shiff erklärt, gehe es nicht darum zu behaupten, dass die jüdische und die palästinensische Seite äquivalente Voraussetzungen hätten. „Gegenseitigkeit an sich baut die Hierarchie zwischen Israelis und Palästinenser*innen oder die Hierarchien innerhalb dieser Gesellschaften nicht ab“, sagt sie. „Es besteht [nach wie vor] eine Hierarchie; es herrscht keine Symmetrie.“

„Ich sage nicht, dass die jüdische Bevölkerung derzeit existenziell bedroht ist“, fährt Amar-Shiff fort. „Ich sage nur, dass ich diese Bedrohung in mir trage, einerseits weil ich aus dem Jemen komme, wo wir unsere eigenen Gräueltaten erlebt haben, andererseits weil ich jüdisch bin. Wir können nicht zulassen, dass die Rechten die Einzigen sind, die überhaupt über diese [Angst] sprechen. Denn sie machen aus dieser Angst einen Ort der Gewalt und der gegenseitigen Vernichtung.“

Und tatsächlich waren es die Schrecken des 7. Oktober, die vielen jüdisch-israelischen Aktivist*innen, mit denen das +972 Magazin sprach, zeigte, wie stark die Kraft der „gegenseitigen Rettung“ sein kann. Die meisten erinnern sich an Momente, in denen palästinensische Freund*innen oder Genoss*innen unmittelbar nach den Angriffen ihre Solidarität und Besorgnis zum Ausdruck brachten. Mehr als alles andere stärkten ihre politischen Beziehungen zu Palästinenser*innen sie in ihrer Entschlossenheit und in ihrem Engagement, gegen das israelische Regime Widerstand zu leisten, und halfen gegen die vorherrschende Verzweiflung und Ohnmacht.

Amar-Shiff, die als Anwältin gegen die Vertreibung palästinensischer Communities kämpft, sagte, ihre palästinensischen Kolleg*innen seien „die Leute gewesen, die mich am 7. Oktober angerufen und sich Sorgen um mich gemacht haben. Und das sind Menschen, die mich retten wollten, die mich retten würden, wenn sie könnten, wenn es darauf ankommt. Ich weiß das. In diesem Moment habe ich die Kraft der ‚gegenseitigen Rettung‘ begriffen.“

Deshalb, so fügt sie hinzu, „müssen sich die jüdischen Israelis für die Palästinenser*innen engagieren, die gerade jetzt mit Zerstörung, Gräueltaten, Vernichtung und Auslöschung konfrontiert sind. Sie müssen sich klar werden, dass das die Menschen sind, die sie retten würden. Wir stecken da gemeinsam drin. Ich werde das Prinzip der Gegenseitigkeit also nicht aufgeben. Die Welt kann zusammenbrechen, ich werde aber die Gegenseitigkeit nicht aufgeben.“

Aus dem Englischen von Lucia Mandel

Dieser Artikel wurde erstmals am 3. Januar 2025 im +972 Magazin veröffentlicht.

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Hadas Binyamini schreibt über jüdische Politik und jüdischen Konservatismus in der US-amerikanischen Geschichte. Sie ist Doktorandin an der New York University.

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