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Die Verweigerinnen Omri Baranes, Ta´ ir Kaminer, Tamar Ze´ evi, Tamar Alon und Atalia Ben-Aba auf einer Demonstration, Februar 2017 (Auf den Schildern: «Keine Sekretärin und keine Panzeristin – Verweigerin und Feministin»; «Wo liegt die Grenze?» Foto: Idan Rimon

"Weil Soldaten keine Fragen stellen" – Wehrdienst-verweigerung aus Gewissensgründen in Israel

Kriegs- oder Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist zwar in Israel nicht weit verbreitet, doch sie ist seit der Staatsgründung ein heftig diskutiertes Thema. Die wenigen, die sich aus Gewissensgründen offiziell weigern, an Kriegen teilzunehmen oder bestimmte Militäreinsätze und Operationen zu unterstützen, werden nicht nur von den israelischen Rechtsinstitutionen, sondern auch von der Öffentlichkeit denunziert und bestraft. Heute stellt sich mehr denn je die Frage: Wo liegt die Grenze zwischen Pflicht und Gewissen?

Die größten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte sind allesamt Gehorsamsverbrechen gewesen, die aus verbrecherischen Befehlen rührten und begangen wurden von gewöhnlichen, normalen Menschen, die nicht zwangsläufig Sadisten oder Psychopathen waren. In ihrem epochemachenden Buch über Adolf Eichmann hat Hannah Arendt versucht, die inneren und äußeren Mechanismen zu entschlüsseln, die einen bürokratischen Massenmörder hervorbringen, einen Funktionär des Bösen, der mit Begeisterung und Leidenschaft Gräuelverbrechen begeht kraft der ihm erteilten Befehle, dem Willen des Führers und dem Zeitgeist folgend. Aber der eigentliche, der heimliche Held in Arendts Buch über den Eichmann-Prozess ist ein Widerständischer, ein Gewissensverweigerer namens Anton Schmidt, dessen Name beinahe zufällig in einer der Zeugenaussagen des Prozesses auftaucht. Der brave Soldat Schmidt, der 1941, während seiner Dienstzeit in Wilna, den Juden im Ghetto half, der ihnen heimlich Nahrungsmittel zukommen ließ, Informationen, Passierscheine und Fluchtwege in die Wälder, war das genaue Gegenteil zu dem hochrangigen NS-Funktionär Eichmann, einem Karrieristen, der versessen darauf war, zu gehorchen und in der Hierarchie des Bösen aufzusteigen. Schmidts Taten lag die bewusste Entscheidung eines denkenden, freien Menschen zugrunde. Und in einem alles entscheidenden Moment machte er sich selbst zu einem Widerständler, zu einem, der aus allem ausscherte, sich von allem lossagte, seinen Kameraden, seiner Einheit, seiner Armee und am Ende auch seinem Leben. Tag für Tag bemühte er sich über Monate um die Rettung der verfolgten Juden. Bis er gefasst, abgeurteilt und im April 1942 hingerichtet wurde. Auf den wenigen Seiten, die Arendt Schmidt gewidmet hat, wendet sie ihr Buch gewissermaßen in sein Gegenteil. Es ist nicht mehr nur ein Buch über das Böse in seinen kolossalsten Ausmaßen, das unzugängliche, blinde, sich ausbreitende und alles kontaminierende Böse, das im Stande ist, in schönster Alltagsroutine eine ganze Welt zu zerstören und zu vernichten, sondern auch ein Buch über die erschütternde Vision einer anderen Alternative, darüber, wie die Geschichte hätte sein können, es aber nicht wurde.[1]

Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist ein seltenes Ereignis. Nur wenige sind imstande, sicher dieser Belastung zu stellen. Sie erfolgt nur, wenn ein Mensch durch die Staatsmacht, das Gesetz oder bestimmte Handlungen, die ihm aufgezwungen werden, in einen unerträglichen Konflikt mit seinen Anschauungen, seinem Glauben, seiner Persönlichkeit, seiner zutiefst eigenen Identität gedrängt wird und ihm alle anderen Wege des Aufbegehrens versperrt sind. Eine solche Verweigerung im militärischen Kontext unterminiert scheinbar die erste Pflicht eines jeden Bürgers, die Pflicht nämlich, sein Land zu verteidigen. Und gleichzeitig stellt sie eine fundamentale Herausforderung an die innere demokratische Verfasstheit eines jeden Staates dar. Legt man die Maßstäbe großer Denker an, die sich mit der Frage der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen beschäftigt haben, angefangen von Henry David Thoreau über Hannah Arendt, Albert Camus, John Rawls bis hin zu Philosophen und Denkern in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, die in dieser Form der Verweigerung einen Lackmustest der liberalen Demokratie sahen, dann hat Israel diesen Test nicht bestanden. Der „einzigen Demokratie im Nahen Osten», mit ihrem nationalen, politischen und militärischen Ethos und der nachgerade mythischen Stellung ihres Armeedienstes, die sich selbst stets als permanentes, allzeit bedrohtes Opfer gesehen hat und sieht, gefangen in einem schicksalhaften, deterministischen Krieg, ist es gelungen, das Verlangen nach Gerechtigkeit und den Gewissensdrang der meisten ihrer Bürger zu besiegen. Auch wenn neben den Wenigen, die den Militärdienst verweigern, andere stille Wege der sogenannten «grauen Verweigerung» finden, um sich diesem zu entziehen.

Die Geschichte der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in Israel ist, seit der Staatsgründung und bis heute, eine Geschichte, die hätte sein können aber nicht war, abgesehen nur von einigen wenigen Momenten, welche einen Weg markieren, auf dem wir als Nation hätten gehen können. Ein Trugschluss, welcher als Bedrohung wie als Versprechen gleichermaßen existiert, im Bewusstsein und im gesellschaftlichen Diskurs indes mehr als in der historischen Realität selbst. Nur etwa zehntausend Männer und Frauen[2], unter den vielen Millionen, die in mehr als siebzig Jahren in der israelischen Armee gedient haben, haben den Staat und den von ihm eingesetzten organisierten Macht- und Gewaltapparat herausgefordert und sich aus Gewissensgründen geweigert, in der Armee zu dienen, an seinen Kriegen teilzunehmen oder Mitwirkende bei gewissen Militäreinsätzen oder Operationen zu sein. Und diese wenigen Tausende hat der Staat unerbittlich sanktioniert, hat sie als existentielle Bedrohung definiert, als Gefahr für die Herrschaft des Rechts und die Demokratie an sich, hat sie vor Gericht gestellt und eingesperrt, mitunter auch zu langen Haftstrafen verurteilt.

Von den wenigen Soldaten des 1948er Kriegs, die sich weigerten, an der Vertreibung der Palästinenser*innen aus ihren Dörfern und von ihren Ländereien mitzuwirken, bis hin zu denen, die sich der Besatzung und ihren Kriegen verweigern, ihren wiederkehrenden, gegen die palästinensische Zivilbevölkerung gerichteten Aktionen, auch und aktuell dieser Tage, erstreckt sich die öffentliche, die öffentlich verhandelte Geschichte der Gewissensverweigerung in Israel. Jeder einzelne dieser Verweigerer ist eine eigene Geschichte zivilen Ungehorsams und Mutes.[3] Ihre Verweigerung, ihr persönlicher Auftritt auf der Agora, ihr Aussprechen ihrer Wahrheit gegenüber der Macht, gegenüber der Führung und dem allgemein herrschenden Geist veränderte zwar den Gang der Geschichte nicht, hinterließ aber eine Vielzahl historischer Texte und Dokumente, Zeugnisse persönlicher Entscheidung und persönlichen Mutes, die davon künden, was hätte sein können. Die Porträts einiger weniger von ihnen und ihrer Wahrheit sollen im Folgenden hier in aller Kürze in ihrem historischen Kontext vorgestellt werden.

Der militärische Sieg von 1967 und mit ihm die Besatzung palästinensischer Gebiete erschufen einen neuen Nahen Osten. Und mit diesem wurde eine neue Armee geboren, der große Sieger in diesem – wie er definiert und im Bewusstsein der Öffentlichkeit verstanden wurde – existenziellen krieg um die Heimat, der eine erneute Schoah verhindert habe und auch deshalb einen Prozess religiöser Überhöhung erfuhr.[4] Dieser tiefe politische Bruch markiert, in großem Maße ab den frühen siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, das Territorium der Gewissensverweigerung in Israel und seine Grenzen. Die ersten, die sich weigerten, in einer Besatzungsarmee jenseits der international anerkannten Grenzen Israels (der „grünen Linie» ) zu dienen, waren Außenseiter, die nicht dem zionistischen Mainstream angehörten, stammten aus kommunistischen Elternhäusern oder waren Kinder erst unlängst ins Land gekommener Neueinwanderer*innen. Der namhafteste unter ihnen und derjenige, der faktisch als der „erste Kriegsdienstverweigerer» gilt, war Giora Neuman, ein schmächtiger Jüngling, Sohn gebildeter Eltern, die in den fünfziger Jahren aus Polen eingewandert waren und ihn nach humanistischen und universalen Werten erzogen hatten. Als Neuman im Sommer 1971 seinen Einberufungsbefehl erhielt, verkündete er seine Weigerung, in der „Besatzungsarmee» zu dienen. Nach seinen Worten war die gesamte Armee als Organisation „befallen» von den Verbrechen der Besatzung, und jeder einzelne Soldat, auch wenn er an der Heimatfront oder in der Verwaltung diente, hatte – und sei es gegen seinen Willen – Anteil an diesen Verbrechen und ermöglichte sie. Fünf Mal wurde Neuman von rangniederen Offizieren der Militärgerichtsbarkeit verurteilt und jedes Mal für fünfunddreißig Tage inhaftiert. Er sah sich Drohungen und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt, wurde von der Presse verfolgt[5], hielt aber an seiner Verweigerung fest. Seine fünf Arrestzeiten summierten sich zu 175 Tagen Militärhaft, ehe er am 5. Juli 1972 vor ein Militärgericht kam.

Die militärischen Aktionen Israels im Gazastreifen jener Tage, die bestimmt waren, eine „Befriedung» herbeizuführen, in Wahrheit aber verbrannte Erde hinterließen, waren Katalysator seiner Verweigerung. „Es gibt keine liberale Besatzung und kann es nicht geben» , beschied er seine Richter. „Besatzung gebiert Widerstand, Widerstand erzeugt Unterdrückung und immer so weiter. Dazu bin ich nicht erzogen worden. Sowohl in der Schule wie in meinem Zuhause wurde ich zu Menschenliebe erzogen, zum respektvollen Umgang mit jedem Menschen. Man hat mir beigebracht, wie schändlich die Unterdrückung und Erniedrigung anderer ist. Und soweit ich es beurteilen kann, sind die Taten der israelischen Armee in den besetzten Gebieten Unterdrückung, Erniedrigung, Vertreibung und Verbannung» , so Neuman. Erklärungen, die zu einer Rechtfertigung der Besatzung behaupteten, „man sei in Begriff, uns zu vernichten» , entbehrten dagegen jeglicher Grundlage, stellte Neuman fest. „Ich stehe heute vor Gericht, nicht weil ich mich eines Vergehens schuldig gemacht habe, sondern weil ich dem Gebot meines Gewissens gefolgt bin.» Neumans Fall weckte Anklang und gebar Petitionen sowohl in Israel als auch weltweit. Das Militärgericht verurteilte ihn zu einer Haftstrafe von einem Jahr, die aus taktischen Gründen dann aber auf zwei Monate reduziert wurde, um Sympathiebekundungen und Unterstützung für Neuman zum Schweigen zu bringen.

Die Leugnung des Gewissens

Der Libanonkrieg von 1982 hob die Bedeutung der Verweigerung auf eine neue Stufe. Er galt vom ersten Tag an als politischer und „nicht gerechter» [6] Aggressionskrieg, der aus besonders falschen Motiven begonnen worden war. Verteidigungsminister Ariel Sharon, Hirn und Motor dieses Kriegs, wollte vor allem die palästinensische Führung und ihre Eliten ausschalten, die im Exil im Libanon lebten und agierten, um eine „neue Ordnung» im Nahen Osten zu konstituieren. Und Premierminister Menachem Begin ging es darum, mittels dieses Kriegs eine – wenn auch späte – Heilung seines persönlichen Holocausttraumas zu erlangen. „Die Alternative ist Treblinka» , sagte er bei einer Kabinettssitzung am Vorabend des Krieges. Und den in Beirut sich versteckt haltenden Arafat verglich er mit „Hitler in seinem Bunker» .

Tausende Soldaten aus allen Schattierungen der israelischen Gesellschaft, die bereits in den ersten Tagen und im weiteren Verlauf des Krieges verweigerten, vermochten nicht, diesen von seinem Weg abzubringen. Die Organisation „Jesh Gvul – Es gibt eine Grenze» (was sich nicht nur als territoriale Grenze, sondern auch als Limit, Äußerstes oder rote Linie verstehen lässt), gegründet von jungen Reservisten, die sich bereits zuvor aktiv für die Rechte der Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten eingesetzt hatten, entstand spontan mit Beginn des Kriegs und war die bis dato am besten organisierte und geordnete Form der Verweigerung. «Wir haben in diesem Krieg zu viel Tod gebracht und Tod erlitten, haben zu viel besetzt, zu viel bombardiert und zerstört», schrieben die Anführer der Gruppe in einer offenen Petition gegen den Krieg. «Heute ist uns klar: mit diesem Krieg versucht ihr, auf militärischem Wege das palästinensische Problem zu lösen. Aber es gibt keine militärische Lösung für das Problem eines ganzen Volkes. Wir sind nicht eingezogen worden, um auf den Trümmern des Libanons eine ‚neue Ordnung‘ zu erzwingen. Geschworen haben wir, den Staat Israel zu verteidigen. Doch anstatt eines Friedens für Galiläa habt ihr einen Krieg gebracht, dessen Ende nicht absehbar ist. Für diesen Krieg, auf der Erde des Libanon, für diese Lügen, diese Besatzung gibt es keinen nationalen Konsens. Holt die Soldaten nach Hause!» Hunderte von Verweigerer*innen, vor allem ältere Reservist*innen, unter ihnen nicht wenige, die bereits Familie hatten, wurden verurteilt, bestraft, unter Arrest gestellt oder in Militärgefängnissen interniert.

Ihre Schuld indes war nicht ihr sich auflehnendes Gewissen. Dieses Gewissen wurde und wird in allen armeeinternen Diskussionen zur Gewissensverweigerung kleingeredet und abgetan mit der Behauptung, die Gründe für die Verweigerung seien in Wahrheit «politisch» und nicht gewissensbedingt, so als könne Gewissen nicht auch politisch sein und als wäre das Politische per Definition nicht vom Gewissen geleitet.

Oberst Eli Geva, Sohn eines Generals und der ranghöchste israelische Verweigerer überhaupt, stellte einen außergewöhnlichen Fall dar. Geva selbst war a-politisch und nicht grundsätzlich gegen den Krieg an sich, wandte sich «nur» gegen Massaker an libanesischen Zivilisten und das überflüssige Töten durch seine Soldat*innen, weshalb er den Befehl verweigerte, an der Spitze seiner Panzerbrigade in den Westen Beiruts vorzustoßen. Auf allen nur möglichen Wegen, unter Ausnutzung seines Dienstgrades, seiner persönlichen Kontakte und die seiner Familie, versuchte Geva einen Einmarsch nach Beirut zu verhindern. Später bemühte er sich, in der Armee zu bleiben, als Sanitäter zu dienen, als einfacher Soldat, wurde jedoch unehrenhaft und ohne einen Weg zurück aus der Armee entlassen. Seine Verweigerung aber blieb ein Vorbild für viele, die nach ihm kommen sollten.

Dies indes war und ist bis heute die Vorgehensweise der Armee, die in verschiedenen gerichtlichen Instanzen, darunter auch durch den Obersten Gerichtshof, Bestätigung erfahren hat; nämlich die Verweigerung aus Gewissensgründen schlicht zu ignorieren, sowohl die Vorstellung selbst als auch alles, wofür sie steht, und so den Verweigerern ihre Würde zu nehmen und ihre Menschlichkeit als Individuen, die über ein Gewissen und moralische Ansprüche verfügen. Der allgemein akzeptierte Grund für eine Verfolgung der Verweigerer war und ist deren «disziplinarisches» Vergehen. Die Reduzierung der Verweigerung auf eine Gehorsamsfrage jedoch hat bis heute in militärischen, juristischen und politischen Foren eine grundsätzliche Diskussion um die Beweggründe eines Krieges, seine Ziele und seine Führung verhindert. Eine solche Diskussion etwa fehlt auch im gegenwärtigen Krieg vollkommen, dem Krieg des 7. Oktober.

Der Libanonkrieg und die gewaltsame, kriegerische Reaktion Israels zur Unterdrückung des zivilen Aufstands der Palästinenser*innen (Erste Intifada), der Ende 1987 losbrach, waren de facto ein einziger, kontinuierlicher Krieg gegen das palästinensische Volk. Und sie waren ein Wendepunkt in der Geschichte des Konflikts, in der Verfolgung eines ganzen Volkes, dem Einsatz gewaltsamer Mittel gegen es und der massenhaften Tötung und Verletzung von Zivilist*innen. Ziel aller Kriege seither, gewollt und unverhältnismäßig allesamt, war die militärische Besatzung in den palästinensischen Gebieten zu zementieren und zu vertiefen, um jedwede politische Regelung zu verhindern.

Eine riesige schwarze Flagge

Die letzten beiden Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts, mit der gewissen Beruhigung in den Jahren der Regierungszeit Jitzchak Rabins bis zu dessen Ermordung am 4. November 1995, erlebten die Hochzeit der Verweigerung in Israel in ihren verschiedenen Formen. Widerstands- und Verweigerungsinitiativen wie «Ad kaan – bis hierher», «Das 21. Jahr [der Besatzung]», «Frauen in Schwarz» oder «Dai la-kibush – Schluss mit der Besatzung» entstanden und forderten die Armee, die Regierung und die Besatzung heraus. Und auch die gewaltsamen israelischen Männlichkeitsideale. Hunderte von Verweigerer*innen gingen für mitunter lange Haftstrafen ins Gefängnis. Die Bestrafungs- und Rachepolitik der Armee machte aus Rami Chasson, einem neunundzwanzigjährigen Reservisten aus Jerusalem, so etwas wie den lokalen Nelson Mandela der Intifada-Verweigerer*innen, ein Symbol menschlicher Stärke und persönlicher Freiheit, gegen das kein Gefängnis ankam. Chasson war ein unpolitischer junger Mann, Spross einer seit Generationen in Jerusalem ansässigen a-politischen sephardischen Familie. Doch für sein «Verbrechen» der Weigerung, unterdrückerischer Soldat einer Besatzungsarmee zu sein, wurde er wieder und wieder ins Gefängnis geschickt. «Es geht nicht darum, dass ich nicht in den [besetzten] Gebieten sein sollte. Wir sollten nicht dort sein.» Und als er gefragt wurde, wie er seine Weigerung rechtfertige, dort nicht Dienst zu tun, antwortete Chasson: «Ich gebe die Frage zurück an die andere Seite und frage, was rechtfertigt, in ein Gebiet zu gehen und dort mit brutalsten Mitteln über ein anderes Volk zu herrschen? Welche Rechtfertigung gibt es, Waffen gegen eine Zivilbevölkerung zu tragen?» Und auf die Frage, was passieren würde, würden «alle Soldaten auf einmal beschließen, die Gebiete zu verlassen», erwiderte er: «Ich würde mich sehr freuen, wenn das geschieht, aber ich befürchte, das ist unrealistisch.» Chasson war der bis zum damaligen Zeitpunkt am häufigsten verurteilte Verweigerer in Israel. Während seines insgesamt dritten Prozesses sagte er: «Es wird der Tag kommen, an dem meine Richter vor Gericht stehen.» Und am Unabhängigkeitstag schrieb er aus dem Gefängnis an seine Freunde: «Einen frohen Unabhängigkeitstag uns und hoffentlich bald auch den Palästinensern.»[7] 

Die zweite Intifada zu Beginn der 2000er Jahre brachte eine eigene Gruppe von Verweigerer*innen hervor, die sich «Ometz lessarev – Mut zu verweigern» nannten. «Ometz» war das Produkt eines neuen, reflektierten, medialen und sich selbst bewussten Zeitalters. Die Angehörigen dieser Verweigerungsinitiative sahen sich selbst als Eliteeinheit, als ein Start-up der Gewissensverweigerung, als Kommandotrupp zur Beseitigung der Besatzung. Sie waren gleichermaßen erfüllt vom Glauben wie von der Hybris, ihnen würde gelingen, woran ihre Vorgänger*innen gescheitert waren. David Sonshein etwa, der Gründer der Gruppe, Oberleutnant der Reserve und im zivilen Leben in der Computerbranche tätig, diktierte einem Journalisten in den Block: «Ich bin der letzte Pflock, der diesen Staat aufhalten kann, Geschichte zu werden.» Im Oktober 2001, am Ende seines Reservedienstes im Gazastreifen, wo er seine Soldaten hatte befehligen müssen, Häuser zu zerstören, Gewächshäuser zu demolieren, Bäume auszureißen und palästinensische Zivilst*innen zu drangsalieren - «weil Soldaten keine Fragen stellen; was von der Politik gewünscht ist, wird gemacht» – schwor er sich nach eigenen Worten, diesen Wahnsinn zu stoppen, die drohende Apokalypse. Zusammen mit einem Freund, wie er Offizier in derselben Eliteeinheit, begannen sie, nach der «Ein-Freund-bringt-einen-Freund»-Methode zu arbeiten. Im Januar 2002 ging die Gruppe mit ihrem Verweigerungsschreiben an die Öffentlichkeit, das in der Presse abgedruckt wurde. «Wir wurden erzogen, haben unseren Beitrag geleistet, haben gedient, uns freiwillig gemeldet, haben Opfer gebracht, waren immer die Ersten, die jede nur erdenkliche Aufgabe ausgeführt haben, um den Staat Israel zu verteidigen», verkündeten sie: «Wir haben heute das Gefühl, dass die Befehle, die wir dort [in den besetzten Gebieten] erhalten, alle Werte zerstören, die wir in diesem Land aufgesogen haben. Wir verstehen heute, der Preis der Besatzung ist ein Verlust des menschlichen Antlitzes unserer Armee und eine Zersetzung der ganzen israelischen Gesellschaft. Wir geben hiermit bekannt, dass wir nicht länger im Krieg für den Frieden der Siedlungen zu kämpfen gedenken. Wir werden nicht länger jenseits der Grünen Linie kämpfen, mit dem alleinigen Ziel, über ein ganzes Volk zu herrschen, es zu vertreiben, auszuhungern und zu erniedrigen.»

«Wir haben heute das Gefühl, dass die Befehle, die wir dort [in den besetzten Gebieten] erhalten, alle Werte zerstören, die wir in diesem Land aufgesogen haben. Wir verstehen heute, der Preis der Besatzung ist ein Verlust des menschlichen Antlitzes unserer Armee und eine Zersetzung der ganzen israelischen Gesellschaft. Wir geben hiermit bekannt, dass wir nicht länger im Krieg für den Frieden der Siedlungen zu kämpfen gedenken. Wir werden nicht länger jenseits der Grünen Linie kämpfen, mit dem alleinigen Ziel, über ein ganzes Volk zu herrschen, es zu vertreiben, auszuhungern und zu erniedrigen.» (Ometz-Gruppe, 2002)

An diesen Worten war nichts Neues. Doch dass ihre Urheber, die aus dem Herzen des arbeitenden und stets zur Fahne stehenden Zionismus kamen, der Schicht der Gehorchenden und Freiwilligen, die die Hoffnungen der Oslo-Abkommen erlebt hatten und deren Zerschellen mit der Ermordung von Premierminister Jitzchak Rabin durch einen jüdischen, rechtsnationalistischen Extremisten, dass ausgerechnet sie das Banner der Revolte schwangen, zeugte von dem Zerwürfnis, dem Riss innerhalb der Familie. Sie glaubten, würde es ihnen gelingen, fünfhundert unterzeichnende Verweigerer*innen zusammenzubekommen, «werden sie [bei der Armee] entscheiden müssen – entweder Besatzung oder Armee.» Viele von ihnen baten darum, auch weiterhin in ihren Einheiten Reservedienst leisten zu können, jedoch nur innerhalb der Grünen Linie, und wurden abschlägig beschieden. Ihnen gegenüber äußerte Ovadiah Ezra, Doktor der Philosophie, der bereits im ersten Libanonkrieg verweigert hatte, Anfang 2002, nach einer insgesamt dritten verbüßten Haftstrafe: «Ich bin schon nicht mehr Zionist, bin kein Patriot mehr. Auch nach dem dritten Mal im Gefängnis wird mir noch immer nicht die Möglichkeit eingeräumt, nach dem Gebot meines Gewissens zu dienen. Und in einer solchen Armee will ich nicht mehr dienen.» Etwa fünfhundert Angehörige von «Mut zu verweigern» wurden in den Jahren 2002/03 aufgrund ihrer Weigerung, in den besetzten Gebieten Dienst zu tun, verurteilt und inhaftiert. Doch ihre rhetorische Kraft und ihre Bezugsgruppen, allesamt aus Kampfeinheiten stammend, viele von ihnen Absolvent*innen der besten Schulen im Land und Akademiker*innen, bescherten ihnen viele Sympathisant*innen und Unterstützer*innen, auch in den höheren und höchsten Rängen der Armee. Und gleichzeitig zogen sie eine wahre Flut von zu erwartenden Verwünschungen und Drohungen auf sich, die von «Drückeberger», «Verräter» bis hin zu «eine Bedrohung für die Sicherheit und die Existenz des Staates Israel» reichten.

Nachfolgende Verweigerungsereignisse, vor allem vor dem Hintergrund brutaler, todbringender Militäraktionen, die Israel gegen den Gazastreifen und seine Bewohner*innen durchführte und die Tausende von Opfern forderten, waren schon mehr performances der Verweigerung, waren eher eine Rhetorik des Gewissens und des Widerstands als konkrete Taten, die schwere Strafen nach sich gezogen hätten. Die meisten Verweigerer der 2000er Jahren waren Reservist*innen, aber da sie in ihrer aktiven Dienstzeit den renommiertesten Einheiten und Waffengattungen der israelischen Streitkräfte angehört hatte wie zum Beispiel der Spezialeinheit des Generalstabs oder der riesigen Nachrichtendiensteinheit 8200 oder aber Kampfpilot*innen und Navigator*innen der Luftwaffe waren, erfuhren ihre Verweigerungsaktionen und ihre Anklage stürmische, jedoch immer nur episodische Reaktionen. Parallel dazu schlossen sich in jenen Jahren Dutzende von Frauen der Gemeinschaft der Gewissensverweigerer*innen an. Mit ihrer Weigerung, der Besatzung zu dienen, wurden sie gezwungen, vor sogenannten «Verweigerungskommissionen» Rede und Antwort zu stehen, die aus rangniederen männlichen und weiblichen Offizieren bestanden, denen das entsprechende Wissen oder eine Qualifikation in Fragen von Staatsbürgerkunde, Recht, Moral und Gewissen generell fehlte. Diese Kommissionen aber schickten die Verweigerinnen automatisch wiederholt und für längere Zeiträume in Haft. Die Verweigerung und Inhaftierung dieser jungen Frauen offenbarte die moralische Schwäche der allgewaltigen israelischen Armee und hielt ihren Ängsten einen Spiegel vor, zwang sie, die Verbrechen zu sehen, die ihre Offiziere und Soldaten in den besetzten Gebieten begehen, und gleichzeitig mit diesen all jene, die sich weigern, daran beteiligt zu sein.

«Wenn die Verbrechen sich häufen, werden sie unsichtbar. Wenn die Leiden unerträglich werden, hört man die Schreie nicht mehr», schreibt Bertolt Brecht.[8] Die israelische Gesellschaft als Ganzes hört die Schreie der Palästinenser*innen nicht, sieht ihr Leid nicht und auch nicht sich selbst als Verursacherin dieses Leides, da sie die Palästinenser*innen generell nicht sieht, weder als Menschen noch als Volk oder als Individuen mit einem Recht auf Leben, auf Freiheit und eigenständiges Denken, auf Freiheit der Bewegung, auf Anerkennung und Selbstdefinition. Sie hört die Schreie der Palästinenser*innen nicht, da die Besatzung selbst auf jedem nur erdenklichen Wege geleugnet und verschwiegen wird, und weil die Menschen, die unter dieser Besatzung leben, unsichtbar geworden sind. Selbst die beeindruckenden und begeisternden Demonstrationen des Protests der israelischen Zivilgesellschaft gegen die sogenannten «Justizreform», welche die antidemokratische Regierung Netanjahu gleich nach ihrer Errichtung zu forcieren begann, haben die Besatzung und ihre Verweigerer*innen an den Rand der Ereignisse gedrängt, ja haben jeglichen Verweis darauf abgelehnt. Die barbarischen Gräuel des Überfalls der Hamas am 7. Oktober 2023 haben zudem den Begriff des «Kontexts» ausgelöscht im Versuch, die Ausmaße des Grauens und dessen Möglichwerden und Auslöser zu verstehen. Der 7. Oktober und der seither tobende Krieg, der als ein Krieg zur Vernichtung des militärischen Potentials der Hamas begann, wurde mit der Zeit zu einem grausamen Rachefeldzug, dem Krieg eines Despoten zur Wahrung seiner Herrschaft auf Kosten seiner Bürger*innen, der zu Vernichtung und Zerstörung biblischen Ausmaßes geführt hat, in Israel, in Gaza und auch im Libanon, und zum Tod Zehntausender unschuldiger Zivilist*innen. Bis jetzt ist in dieser gesamten Zeitspanne der zurückliegenden bald eineinhalb Jahre nur eine einzige Verweigerung aktenkundig geworden, die Verweigerung eines kaum volljährigen Jungen am Vorabend seiner Einberufung.

Aus dem Hebräischen von Markus Lemke

Anmerkungen

[1] Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, A Report on the Banality of Evil, New York 1963, Chapter/Kpt. 14.

[2] Dies ist lediglich eine geschätzte Zahl. Die Gewissensverweigerung hat viele unterschiedliche Formen und viele Fällen von „grauer Verweigerung» wurden nicht als Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen definiert und registriert.

[3] Idith Zertal, Verweigerung, Gehorsamspflicht und das Recht des Gewissens [Seruv, chovat ha-tzijut u-zchut ha-matzpun], Tel Aviv 2018.

[4] Idith Zertal, Nation und Tod, Der Holocaust in der Israelischen Öffentlichkeit, Kp. 3, Göttingen 2003.

[5] „Auch die Nazis war nach eigenem Verständnis Idealisten» , schrieb etwa der Schriftsteller Jehoshua Bar Josef und verglich den Idealismus der israelischen Gewissensverweigerer mit dem der Nazis und der Volkskommissare des NKWD, in: Jedioth Achronoth, 3. September 1971; Und Herzl Rosenbaum behauptete, es „ist unser gutes Recht, unsere eigenen Prostituierten, Verweigerer und Einbrecher zu haben» , in: Jedioth Achronoth, 9. August 1971.

[6] Michael Walzer, Just and Unjust Wars, New York 1977.

[7] Siehe Anm. 3, ebd.

[8] Bertolt Brecht, in: Schriften zur Literatur und Kunst, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1967, Band 2, S. 37.

Autor:in

Idith Zertal lehrte als Professorin für Geschichte am Institut für Jüdische Studien an der Universität Basel, unterrichtete an der Hebräischen Universität in Jerusalem und war Gastprofessorin an der Universität von Chicago und an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Veröffentlichungen u.a.: From Catastrophe to Power: Holocaust Survivors and the Emergence of Israel (1998); Die Herren des Landes. Israel und die Siedlerbewegung seit 1967 (zus. mit Akiva Eldar; 2007); »Nation und Tod. Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit», Göttingen 2003 (»Israel´s Holocaust and the Politics of Nationhood», Cambridge UP).