ISRAEL – ein Blick von innen heraus 2
Ab sofort können Sie unseren neuen Reader Nr.2 frei Haus bestellen! Jenseits gängiger Klischees gehen wir auf 120 Seiten den Themen nach, die das progressive Israel aktuell beschäftigen. Eine Gelegenheit, Innenansichten und Diskussionen in Israel nachzuvollziehen und lokale Akteure kennenzulernen.
Mit einem dritten Reader dieser Art, einer Auswahl von Texten von unserer Webseite, möchten wir einer interessierten deutschsprachigen Öffentlichkeit erneut einen Einblick in die Verfasstheit der israelischen Gesellschaft und in innerisraelische Diskurse ermöglichen: in ungerechte Verhältnisse und in erfolgreiche und weniger erfolgreiche Kämpfe um eine bessere Welt.
Natürlich sind wir als Rosa-Luxemburg-Stiftung bewusst parteiisch, doch es ist uns ein Anliegen, unterschiedliche Perspektiven aufzuzeigen. Folglich finden sich in allen unseren Veröffentlichungen linksliberale und linksradikale, zionistische, postzionistische und nicht zionistische Standpunkte sowie gewerkschaftsnahe und akademische Stimmen nebeneinander. Die zur Sprache kommenden Positionen entsprechen deshalb nicht unbedingt denen der Rosa-Luxemburg-Stiftung, dafür können Sie auf diesen Seiten eine wachsende Zahl israelischer Autor*innen kennenlernen, die die Pluralität des progressiven Israels widerspiegeln.
Die letzten eineinhalb Jahre waren geprägt von drei aufeinanderfolgenden Wahlgängen, über die wir auf unserer Webseite www.rosalux.org.il eingehend berichtet haben, sowie von der Corona-Krise. Diese nutzte Premierminister Benjamin Netanjahu im Frühjahr 2020, um eine neue Koalition mit seinem Rivalen Benny Gantz zu schmieden. Zwar ist diese Allianz durch die Beteiligung von Gantz‘ Bündnis Blau-Weiß und die Arbeiterpartei stärker in Israels Mitte verankert als die Vorgängerregierung. Doch nicht nur die vorerst auf Eis gelegten Bestrebungen, Teile des Westjordanlands völkerrechtswidrig zu annektieren, zeigen, dass sie einem rechtsnationalistischen Diskurs verhaftet bleibt.
Wie es Israels radikaler Rechter in den vergangenen Jahren erfolgreich gelang, ihre Weltsicht in der Mitte der Gesellschaft zu verankern, beschreibt der ehemalige Geschäftsführer der israelischen Ärzte für Menschenrechte, Ran Cohen. In seinem Beitrag zeichnet er den Prozess nach, durch den Israels Rechtsextreme den Mainstream erobern konnten. Er identifiziert die Akteure und fragt nach ihren Zielen und Strategien ebenso wie nach der Verstrickung staatlicher Institutionen in ihren Aufstieg. In einem weiteren Beitrag fragt der Politikwissenschaftler Dani Filc, wie die israelische Linke – dem Beispiel der israelischen Rechten folgend, die Gramscis Strategie des Kampfs um Hegemonie verinnerlicht hat – ein hegemoniales Projekt vorantreiben kann, in dessen Zentrum Demokratie, sozioökonomische und politische Gleichheit und ein Ende der Besatzung der Palästinensergebiete stehen.
Nicht nur in Israel kann von einer rechten Hegemonie gesprochen werden, sondern in unterschiedlichen Staaten weltweit. Eine Folge hiervon ist der Aufstieg Donald Trumps zum Präsidenten der USA, dessen Allianz mit Israels Premier Netanjahu den „Deal des Jahrhunderts“ gebar. Dieser hat zum Ziel, die gegenwärtigen Mechanismen zur Entrechtung der unter Besatzung lebenden Palästinenser*innen zum international beglaubigten Dauerzustand machen. Zwar erscheint eine Umsetzung des Deals zur Zeit unwahrscheinlich, doch knüpft er an die bisherige Praxis der israelischen Regierungen an, mithilfe von Landplanung Palästinenser*innen in dicht bevölkerte Enklaven zu drängen. Der Forscher und Aktivist Dror Etkes zeichnet in seinem Beitrag den andauernden Prozess der Enteignung palästinensischen Lands zugunsten israelischer Siedler*innen nach. Solche Prozesse wirken nicht nur auf besetztem Gebiet, sondern auch in Israel selbst. Während der Historiker Gadi Algazi sich mit der historischen Genese der Verteilung der Landressourcen zugunsten der jüdischen Mehrheit beschäftigt, zeigt der Aktivist Fadi Shbita anhand der israelischen Institution der (Siedlungs-)Aufnahmekomitees, wie auch heute noch die palästinensische Minderheit im Land eine strukturelle Ungleichbehandlung erfährt.
Es gibt keinen anderen Weg, eine Besatzung durch- und umzusetzen, als mit Macht und Gewalt. Die zentrale Rolle des Militärs in Israel spiegelt sich vielleicht am besten im Erfolg des Landes beim Export von Waffen und Militärtechnologien wider. Dieser, so Aktivistin Sahar Vardi, erfolgt ohne Regulierung und Transparenz und führt zu gravierenden Folgen für Menschenrechte im Ausland, aber auch im Inland. Was Waffen im Inland tatsächlich anrichten, beschreiben die Aktivistinnen und Forscherinnen Rela Mazali und Meisa Irshaid: Die wachsende Verfügbarkeit legaler und illegaler Waffen und die fehlende Durchsetzung von Recht und Ordnung führen zu einer enormen Zunahme von organisierter Kriminalität, Schießereien und innerfamiliärer Gewalt.
Der vierte Teil dieses Readers befasst sich mit dem Wandel, den der Begriff der Arbeit in den vergangenen Jahrzehnten durchlaufen hat. Darin formuliert die Publizistin Ziv Adaki eine linke Kritik an dem Versuch, die israelische Arbeiterschaft in einer Institution zu vereinen. Anhand der Geschichte des Werks von Haifa Chemicals wird so der Niedergang des legendären israelischen Gewerkschaftsdachverbands der Histadrut und der vielversprechende Aufstieg einer alternativen Gewerkschaft beschrieben.
Jene neoliberalen Globalisierungs- und Privatisierungsprozesse, die den Niedergang der Histadrut beschleunigten, zogen in Israel und weltweit tiefgreifende Veränderungen der Arbeitswelt nach sich – die durch die weltweite Corona-Pandemie weiter beschleunigt werden. Dass nicht-jüdische Migrant*innen seit den 1990er Jahren ihren Weg auf den israelischen Arbeitsmarkt finden, ist eine Folge hiervon. Im letzten Jahr standen sie im Licht der Öffentlichkeit, als Hunderte von Migrant*innen samt ihrer in Israel geborenen Kindern des Landes verwiesen werden sollten. Die Migrationsexpertin Idit Lebovitch-Shaked beschreibt, wie damit ein Prekariat entstanden ist, das sowohl rechtlich als auch bei den Arbeitsbedingungen deutlich benachteiligt ist.
Migrant*innen aus Asien oder Geflüchtete aus Subsahara-Afrika finden häufig ihren Weg nach Süd-Tel Aviv, dem wir eine Liebeserklärung widmen. Es ist ein Essay über einen Mikrokosmos der Kämpfe, die für Israel richtungsweisend sind, über die Teilung einer Stadt und Spaltung einer Gesellschaft, über einen Ankunftsort für Geflüchtete und Migrant*innen, Abschottungspolitik, systematische Diskriminierung und das progressive Potenzial des Hinterhofs Tel Avivs.
Eine der wenigen Personen des öffentlichen Lebens in Israel, die sich mit all den angeschnittenen Themen befasst, ist der ehemalige Knesset-Angeordnete Dov Khenin. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat die Erstellung einer Dokumentation über diesen sehr besonderen Menschen unterstützt. Zwölf Jahre lang begleitete Dokumentarfilmer Barak Heymann diese linke Symbolfigur von der sozialistischen Chadasch/al-Dschabha. Das Ergebnis ist der Film „Genosse Dov“, dessen Premiere in Israel mit Khenins Abschied von der Knesset zusammenfiel.
Schließlich führten wir ein Gespräch mit der Theaterregisseurin Ofira Henig über politische Kunst, Feminismus und Machtverhältnisse. Henig ist eine selten integre Künstlerin, die mit jüdischen und palästinensischen Schauspieler*innen zu hoch politischen Themen zusammenarbeitet und dabei echte jüdisch-arabische Partnerschaft auf Augenhöhe vorlebt – und diese nie missbraucht, um hieraus politisches Kapital zu schlagen, sondern die Kooperation als natürliches Ergebnis des Lebens in einem Land wie Israel versteht.
Wer auf den Geschmack gekommen ist, ist herzlich eingeladen, unsere Webseite www.rosalux.org.il zu besuchen. Dort behandeln wir viele Themen, die hier zu kurz kommen, seien es soziale Kämpfe oder Israels Platz im und als Teil des Nahen Ostens. Dazu bieten wir weitere Formate wie Gesellschaftsreportagen oder feuilletonistische Beiträge. Die Webseite wird fortwährend aktualisiert und ist speziell für Leser*innen konzipiert, die keine Expert*innen sind. Dort finden Sie ebenfalls ein ausführliches Glossar, Quellenangaben und weiterführende Lektüreempfehlungen, die diese Publikation ergänzen. Wir freuen uns übrigens auf Ihr Feedback, etwa über Facebook oder per E-Mail.
Schließlich möchten wir uns bei folgenden Personen bedanken: Bei Ursula Wokoeck Wollin, die nicht nur aus dem Hebräischen übersetzte, sondern die Texte mit Anmerkungen und Erklärungen für die deutschsprachigen Leser*innen ergänzt hat; bei Daniel Ziethen, der eine visuelle Sprache für unsere Webseite entwickelt hat, unsere Arbeit engagiert begleitet und zusammen mit Schroeter & Berger für die sehr besondere Gestaltung dieser Veröffentlichungsreihe verantwortlich zeichnet; bei unserem Berliner Berater Yossi Bartal; beim großartigen Fotograf*innenkollektiv Activestills und für ihre tatkräftige Unterstützung bei unseren Kolleg*innen Tamar Almog, Hana Amoury und Yifat Mehl sowie bei Natascha Holstein und Stephan Wolf-Schönburg.
Mit solidarischem Gruß,
Tsafrir Cohen, Einat Podjarny und Tali Konas vom
Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung
August 2020, Tel Aviv