ISRAEL - ein Blick von innen heraus 4

Ab sofort können Sie unseren neuen Reader Nr. 4 frei Haus bestellen! Jenseits gängiger Klischees gehen wir auf über 80 Seiten den Themen nach, die das progressive Israel aktuell beschäftigen. Eine Gelegenheit, Innenansichten und Diskussionen in Israel nachzuvollziehen und lokale Akteure kennenzulernen. Die Veröffentlichung können Sie als PDF herunterladen oder in gedruckter Form von der Berliner Zentrale der Rosa-Luxemburg-Stiftung über unser Bestellformular zugeschickt bekommen.

Israel bleibt ein gespaltenes Land – auch im 75. Jahr nach seiner Gründung. Das gilt nicht nur für die 9,5 Millionen Menschen, die hier leben, sondern ebenso für seine politische Klasse: Weil es zuletzt keiner Regierung gelang, eine dauerhaft stabile Mehrheit zu bilden, fanden allein seit 2019 fünf Parlamentswahlen statt. Doch die Ära Benjamin Netanjahus, der 2021 zur Freude vieler Israelis nach zwölf Jahren endlich als Ministerpräsident abgelöst wurde, geht weiter: Die so genannte Koalition des Wandels von Naftali Bennett und Jair Lapid hielt sich nicht einmal zwölf Monate im Amt.

Wir beschäftigen uns in diesem Reader nicht mit dem Auf und Ab der israelischen Tagespolitik, sondern versuchen, einen Blick hinter die Schlagzeilen zu werfen. Die werden auch drei Jahrzehnte nach den Osloer Verträgen von den Folgen der Besatzung Palästinas bestimmt – und der Ausweitung illegaler israelischer Siedlungen. Während deren jüdische Bewohner:innen volle Staatsbürgerrechte genießen, bleibt die palästinensische Bevölkerung in einem engen Netz bürokratischer Repressalien gefangen. Die Menschenrechtsanwältin und Anthropologin Yael Berda beschreibt dieses Passierscheinregime aus eigener Anschauung heraus sehr eindringlich – über Jahre hat sie palästinensische Mandant:innen in Verfahren vor Militär- und Verwaltungsgerichten vertreten.

Einen langen Kampf um die Anerkennung ihrer Rechte führen auch die zwei Millionen palästinensischen Israelis sowie die Nachfahren arabischer Einwanderer:innen, die Misrachim. In den 1950er Jahren siedelten die Behörden Zehntausende Juden, die aus Tunesien, Marokko, dem Jemen, Syrien und Irak nach Israel gekommen waren, in so genannten Entwicklungsstädten an der Peripherie des Landes an, im Negev etwa, oder in Bet Sche‘an im Galilei. Als billige Arbeitskräfte eingesetzt wurden sie dort nicht nur in der Industrie, sondern auch in vielen Kibbuzim, ungeachtet der sozialistischen Ideale der Kollektivzusammenschlüsse. Unsere Kollegin Yifat Mehl hat sich an die Ufer des Asi-Flusses im Kibbuz Nir David aufgemacht, wo die Misrachim ihren Anspruch auf einen Platz an den Badestellen gegen die Widerstände der alteingesessenen Aschkenasim, die einst aus Europa immigrierten, geltend machen. Ein stiller Aufstand, der zeigt, dass die Gesetze der zionistischen Gründerjahre längst nicht mehr gelten.

Gegen alte Autoritäten begehren aber nicht nur säkulare Israelis auf, die mit den Gepflogenheiten der religiösen Gemeinschaften des Landes wenig anfangen können. Im Gegenteil: Globalisierung, Internet und die immense Last, die die patriarchale Arbeitsteilung ultraorthodoxen Frauen aufbürdet, haben dafür gesorgt, dass diese sich längst nicht mehr alles gefallen lassen. Eine Pionierin im Kampf für die Rechte der Frauen ihrer Gemeinschaft ist Esthy Shushan. Niwcharot, „Gewählte Repräsentantinnen“, nannte sie zunächst nur eine Facebook-Seite, aus der inzwischen eine lautstarke Bewegung religiöser jüdischer Feministinnen geworden ist. Wie sie im nächsten Schritt das innerparteiliche Tabu von Shas und Vereinigtem Thora-Judentum überwinden wollen, auch Kandidatinnen für die Knesset-Wahlen zuzulassen, beschreibt Shushan sehr eindringlich.

Einen anderen Blick auf die jüngsten Entwicklungen seines jungen Landes wirft Yagil Levy. Der Soziologe hat sich angeschaut, wie Israels Pandemiepolitik vor allem zu Beginn der Corona-Krise von militärstrategischen Prämissen geleitet war. Levys Urteil ist eindeutig: Die Behandlung gesundheitlicher Maßnahmen als Sicherheitsfragen haben der israelischen Demokratie nachhaltigen Schaden zugefügt. Ein Urteil übrigens, dass viele liberale Israelis teilen, die sich deshalb früh den Demonstrationen von eher verschwörungstheoretisch angehauchten Corona-Skeptiker:innen angeschlossen haben, wie die beiden Journalisten Josh Breiner und Nir Hasson beobachten konnten.

Die ersten Impfgegner:innen tauchten in Israel übrigens auf, als Netanjahu noch im Amt war – auf den so genannten Balfour-Protesten, die mehr als ein Jahr lang Freitag für Freitag vor der Residenz des Regierungschefs in Jerusalem dessen Rücktritt forderten. Ein Ende der gegen Netanjahu laufenden Korruptionsverfahren ist bislang nicht abzusehen – ebenso wenig wie ein abschließendes Urteil über die von ihm angestrengte Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrein, Marokko und Sudan möglich ist.

Ungeachtet seiner Auswirkungen für einen weiteren Ausbau regionaler Kooperation bedeutet der Abschluss der sogenannten Abraham-Abkommen eine Zäsur in der Geschichte des Nahostkonflikts. Israel steht nun offiziell auf der Seite der sunnitischen Golfstaaten, die nach der Niederschlagung der Arabischen Aufstände von 2011 zu den wichtigsten Mächten der Region aufstiegen. Neben handfesten wirtschaftlichen Interessen wurde der arabisch-israelische Schulterschluss begünstigt durch die gemeinsame Gegnerschaft zum Iran.

Die dramatische Verschiebung des regionalen Machtgefüges in Nahost und Nordafrika wird die Zukunft Israels weiter bestimmen. Wer das Land das letzte Mal vor der Corona-Pandemie bereist hat, den überrascht vielleicht schon nach der Landung auf dem Ben-Gurion-Flughafen die große Zahl an Flügen von und nach Dubai. Es dürfte nicht die letzte Überraschung bleiben, denn Israel bleibt im 75. Jahr nach seiner Gründung nicht nur ein gespaltenes Land, sondern auch eins in rasantem Wandel. Was das für das Zusammenleben seiner Menschen bedeutet, versuchen wir in diesem Reader ein wenig zu beschreiben. Wir wünschen Ihnen eine bereichernde Lektüre !

Rosa Luxemburg Stiftung Israel

Tel Aviv, im November 2022