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(K)eine Alternative zum Krieg?

Die israelische Gesellschaft ist eine Kriegsgesellschaft. Sie ist daran gewöhnt, militärische Lösungen als alternativlos zu sehen, als Grundbedingung für die Existenz des Staates und ihre Sicherheit. Mit jedem Krieg und jeder Generation vertieft sich das militärische Denken und bildet die Grundlage für die Bereitschaft zu weiteren Kriegen und für die Dehumanisierung von Palästinenser*innen. Was sind die Grundlagen für die Langlebigkeit militaristischen Denkens in der Gesellschaft? Was sind seine Folgen?

In den knapp 77 Jahren seines Bestehens hat der Staat Israel (je nach Definition) mindestens acht Kriege und zahllose Gefechte geführt sowie eine Vielzahl von Militäroperationen und Repressalien durchgeführt. Im Laufe der Jahrzehnte wurden die militärischen Fähigkeiten und Ressourcen der Streitkräfte stetig vergrößert, mehrfach Gebiete anderer Staaten (dauerhaft) besetzt und/oder annektiert, wobei Zehntausende israelische Soldat*innen und Zivilist*innen ihr Leben verloren. Die jüngste kriegerische Eskalation zwischen Israel und seinen Nachbarn seit dem 7. Oktober 2023 ist die härteste und längste seit der Staatsgründung Israels 1948 – ein existenzieller Krieg, der Zehntausenden Palästinenser*innen und Libanes*innen, davon die überwiegende Zahl Frauen und Kinder, das Leben gekostet hat und ganze Bevölkerungsgruppen schutz- und obdachlos zurücklässt. Der Gazastreifen ist als Ergebnis der immensen Zerstörung durch die israelische Armee, den führende Menschenrechtsorganisationen mittlerweile als Völkermord an den Palästinenser*innen einstufen, auf Jahre hinaus unbewohnbar. 

Doch was liegt hinter diesen schwer fassbaren Zahlen? Was ist die Grundlage für die Akzeptanz einer immerwährenden militärischen Eskalation in der israelischen Gesellschaft? Kurz: Wieso machen (fast) alle dabei mit? In den vergangenen eineinhalb Jahren schien es, als befände sich die (jüdisch-)israelische Gesellschaft in einer Art militärischem Rausch ohne Vorstellung von einer gemeinsamen Zukunft jenseits des ewigen Kreislaufs der Gewalt auf der Basis der israelischen Herrschaft über das gesamte historische Palästina, einschließlich des illegal besetzten Westjordanlands und des Gazastreifens. Es mutet fast selbstmörderisch an und erinnert an den Satz Samsons aus dem Alten Testament, der in seinem Zorn mit den Worten „Ich will sterben mit den Philistern!“ einen Philistertempel in der biblischen Stadt Gaza zum Einsturz brachte und dabei Tausende von Philistern tötete. Und sich selbst gleich mit.

All dies ist beileibe nicht neu, es hat sich lediglich der Kontext und die Intensität dieses Phänomens verändert. Die Selbstbilder und -rechtfertigungen der israelischen „Kriegsgesellschaft“ (eine Definition des Soziologen Meir Amor) sind tief verwurzelt. Die meisten jüdischen Israelis unterstützen grundsätzlich diese Kriege, zumindest lehnen sie sich nicht dagegen auf. Die Kriege, die Israel führe, seien angeblich „alternativlose Kriege“, womit alternative Formen der Konfliktlösung aus der Debatte gedrängt werden.

In einer „Kriegsgesellschaft“ wie der israelischen ist die Armee über den militärischen Kontext hinaus strukturprägend: Es handelt sich um einen allgegenwärtigen Akteur, der alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens der israelischen Bürger*innen beeinflusst und integraler Bestandteil ihres Lebens ist, unabhängig davon, ob sie in der Armee dienen, gedient haben oder dienen werden. Der Militärdienst von etwa drei Jahren für Männer und zwei Jahren für Frauen ist für alle jüdischen Bürger*innen, die 18 Jahre alt werden, obligatorisch. Dies ist nicht nur gesetzlich vorgeschrieben, sondern auch eine gesellschaftliche Norm. Dabei ist der Dienst in einer Kampfeinheit bis heute eine sehr angesehene Position, die viele junge Männer (und inzwischen auch junge Frauen) anstreben. Auch der Dienst an der „Heimatfront“ bietet gerade für Israelis aus unteren sozialen Schichten die Möglichkeit, eine begehrte Ausbildung in Spitzentechnologien zu erhalten, von der die meisten später im zivilen beruflichen Leben profitieren können.

Wer sich dem Armeedienst dagegen verweigert, wird in der öffentlichen Meinung denunziert. Abgesehen von allgemeinen Ausnahmen von der Wehrpflicht, wie zum Beispiel durch die Sondervereinbarung mit der Führung der ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaft oder der generellen Befreiung palästinensischer Staatsbürger*innen Israels vom Wehrdienst, ist es auf individueller Ebene immer noch schwierig, vom Wehrdienst befreit zu werden, es sei denn, man kann gesundheitliche oder psychische Probleme nachweisen. Verweigerer*innen aus Gewissensgründen müssen ins Militärgefängnis.

Die breite politische und gesellschaftliche Ächtung eines artikulierten und praktizierten Antimilitarismus hat jedoch Teile der israelischen Gesellschaft nie davon abgehalten, sich gegen diese grundlegende Strukturierung der gesellschaftlichen und politischen Realität in Israel aufzulehnen. Insbesondere nach dem Krieg von 1967 gab es große Proteste gegen die militärische Besatzung des Westjordanlands (inklusive Ost-Jerusalems), des Gazastreifens, der syrischen Golanhöhen sowie der ägyptischen Sinai-Halbinsel. Aus diesen Protesten heraus und aus der sich wandelnden Selbstwahrnehmung haben sich im Laufe der Jahrzehnte zahlreiche Organisationen der kritischen Zivilgesellschaft gegründet, die heute international bekannt sind und auf die Abgründe der israelischen Militarisierungsmaschinerie aufmerksam machen, wie etwa Betselem oder Breaking the Silence. Diese Organisationen werden von der israelischen Öffentlichkeit heftig kritisiert und staatlicherseits regelmäßig in ihrer Arbeit behindert.

Das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeitet, ganz im Sinne der anti-militaristischen Ideale unserer Namensgeberin, eng mit denjenigen Akteur*innen in Israel zusammen, die Alternativen zum gegenwärtigen unhaltbaren Status quo aufzeigen und für diese einstehen. Mit der vorliegenden Artikelreihe möchten wir dem deutschsprachigen Publikum sowohl die Ursprünge und Erscheinungsformen des Militär- und Sicherheitsdiskurses in Israel als auch dessen staatliche Aufrechterhaltung erläutern. Die Beiträge in dieser Reihe haben Mitglieder unseres lokalen politischen Netzwerks seit dem Herbst 2023 verfasst; sie geben einen historischen und aktuellen Einblick in die Mechanismen des dem israelischen Militarismus zugrundeliegenden Wertesystems, das einen nationalen Partikularismus beschwört und damit universalistische humanistische Werte an den Rand drängt.

Nicht nur international, auch innerhalb Israels sind viele Menschen erschüttert und sprachlos angesichts der Zerstörung, die in ihrem Namen angerichtet wird. Viele, auch diejenigen, die ihre Liebsten in diesem Konflikt verloren haben, wünschen sich eine andere Gegenwart, können sich ein friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinenser*innen vorstellen und sind bereit, dafür schmerzhafte Kompromisse einzugehen – mit zahlreichen dieser Akteur*innen arbeiten wir als Rosa-Luxemburg-Stiftung vor Ort zusammen. Mit dieser Broschüre möchten wir dieser Vielfalt von kritischen und zukunftsweisenden Stimmen zum Thema eine Plattform bieten, in der Hoffnung, dass sie auch im deutschsprachigen Raum gehört und in ihrem Kampf für eine antimilitaristische, friedliche Zukunft unterstützt werden.

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