Zwischen Zionismus, Messianismus und Nationalismus: der Tempelberg
Welchen Stellenwert hat der Tempelberg aus jüdischer Sicht, im Bewusstsein der zionistischen Bewegung und für den Staat Israel? Welche Gefahren gehen vom jüdischen Messianismus aus und welche Rolle spielt der Tempelberg in Jerusalem dabei? Eine historische und theologische Auseinandersetzung.
Einleitung [1]
Im Oktober 2016 erklärte die UNESCO, es sei Israels Pflicht als Besatzungsmacht, die für Muslim*innen heiligen Stätten in der Altstadt von Jerusalem zu bewahren und deren Recht auf Ausübung ihrer Religion dort zu schützen. In der Erklärung wurde der Tempelberg nur als al-Haram al-Scharif (d.h. mit dem muslimisch-arabischen Namen) bezeichnet und das Recht von Muslim*innen erwähnt, dort ihre Religion auszuüben. Darüber hinaus nahm die Erklärung auf die Juden und Jüdinnen heilige Klagemauer mit der Bezeichnung al-Buraq (d.h. wieder mit dem muslimisch-arabischen Namen) Bezug, während deren jüdischer Name (Western Wall/Klagemauer) in Anführungszeichen gesetzt war.
Die von der UNESCO gewählte Terminologie führte in Israel schnell zu einem Aufruhr in den Medien, und führende Politiker*innen von jüdischen Parteien des gesamten politischen Spektrums – von der radikalen Rechten des Jüdischen Heims (HaBajit HaJehudi) bis zu den linksliberalen von Meretz – verurteilten sie aufs Schärfste. Dieser Sturm der Entrüstung ereignete sich, nachdem mehr als ein Jahr lang Hunderte von palästinensischen Attacken mit Messern und Fahrzeugen auf Israelis gegeben hatte. Auslöser für dies Welle von Angriffen war der Verdacht, Israel treibe die Übernahme des Tempelbergs voran. Im Juli 2017 kam es in Ost-Jerusalem und in der Westbank zu erheblichen Unruhen, die von Terroranschlägen in Israel begleitet waren, nachdem die israelische Polizei beschlossen hatte, Metalldetektoren an jenem Eingang zum Tempelberg zu installieren, der für muslimische Gläubige bestimmt ist. Seitdem führt das Thema Tempelberg immer wieder zu Spannungen zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde, Jordanien und sogar Saudi-Arabien. Wie die Welle der Gewalt und der Sturm der Entrüstung über die UNESCO-Erklärung zeigen, ist der Tempelberg ein Ort von enormer religiöser, symbolischer und politischer Bedeutung sowohl für Juden und Jüdinnen als auch für Muslim*innen im Heiligen Land. Auf der narrativen wie auf der konkret praktischen Ebene findet um diesen Ort ein schicksalhafter Kampf statt.
In diesem Artikel werde ich versuchen, die Bedeutung des Tempelbergs aus jüdischer Sicht und insbesondere den hohen Stellenwert dieser Stätte im Bewusstsein der zionistischen Bewegung und des Staats Israel sowie die sich daraus ergebende Dynamik seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute zu erklären. Wie wir im weiteren Verlauf sehen werden, führt die Platzierung des Tempelbergs im Zentrum des israelisch-arabischen Konflikts zu einem überaus komplexen Geflecht nationaler Überlegungen und religiöser Bestrebungen, das immer schwieriger aufzulösen ist.
Vom Tempel zum Tempelberg – die heilige Stätte in der antiken jüdischen Tradition
In der jüdischen Tradition ist „Tempelberg“ die Bezeichnung für das erhöhte Gelände im Osten der heutigen Jerusalemer Altstadt (in biblischen Zeiten befand sich dieses Areal nördlich der Davidsstadt).
In der jüdischen Tradition und der historischen Forschung besteht Konsens darüber, dass das heutige Tempelberg-Gelände das Ergebnis einer massiven baulichen Erweiterung ist, die König Herodes im ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung vornehmen ließ. Nach vorherrschender Meinung sollte durch diese Erweiterung der bestehende jüdische Tempel erneuert und ausgebaut werden, während eine Minderheit unter den Forscher*innen annimmt, dass das unter Herodes errichtete Gebäude in Wirklichkeit ein völlig neuer, dritter Tempel war. Die Erweiterung umfasste unter anderem eine Vergrößerung des ursprünglichen Bergs durch äußere Stützmauern.
Im Jahr 70 unserer Zeitrechnung zerstörten Streitkräfte des Römischen Reichs den unter Herodes erbauten Tempel. Nach der Zerstörung wurde im Laufe der Jahrhunderte der Zugang von Juden und Jüdinnen zum Berg sukzessive eingeschränkt. Im Mittelalter wurde der äußere Teil der westlichen Stützmauer des Tempelbergs, die Klagemauer oder westliche Mauer genannt wird, zu einem heiligen Ort für Juden und Jüdinnen. Nach jüdischer Überlieferung (im Gegensatz zur muslimischen und der Meinung einiger Archäolog*innen) befanden sich vor der Errichtung des Herodes-Tempels zwei jüdische Tempel auf dem Gelände des Tempelbergs. Den ersten Tempel ließ der jüdischen Überlieferung zufolge der biblische König Salomon, Sohn Davids, erbauen; er bestand bis zu seiner Zerstörung durch den babylonischen König Nebukadnezar im Jahr 586 vor unserer Zeitrechnung. Der zweite Tempel wurde wahrscheinlich im späten sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung von der jüdischen Gemeinde erbaut, die unter persischer Herrschaft aus dem babylonischen Exil zurückgekehrt war. Der kleine altmodische „zweite Tempel“ bestand bis zur Renovierung und Erneuerung durch die erwähnte Errichtung des modernen prächtigen Herodes-Tempels. Andere Überlieferungen in der Bibel verbinden die Geschichte der Opferung (Bindung) Isaaks auch mit dem Tempelberg und besagen, dass die Stätte dieses Opfers später zum Tempelberg wurde (Gen. 22,14; 2 Chr 3,1).
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Nach der anerkannten jüdischen Überlieferung begann die Sakralisierung des Geländes mit der Opferung (Bindung) Isaaks im Land Morijah, was der Tempelberg ist; später befand sich dort der Salomonische Tempel, den Nebukadnezar zerstören ließ; danach errichteten dort die unter persischer Herrschaft aus dem babylonischen Exil Zurückgekehrten den zweiten Tempel. Dieser wurde unter König Herodes beträchtlich erweitert und im Jahr 70 unserer Zeitrechnung durch Römer zerstört. Mit dieser Zerstörung beginnt die jüdische Diaspora.
Nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer entwickelte sich das rabbinische Judentum. Im Laufe von Generationen wurde diese Strömung zum Mainstream der jüdischen Tradition. Sie ersetzte den religiösen Gottesdienst im Tempel durch eine dezentrale religiöse Lebensweise, die sich auf Gebet, Tora-Studium sowie die Einhaltung der Halacha konzentrierte. Beit HaMidrasch (Saal zum Tora-Studium), die Synagoge und das Zuhause eines jeden Menschen wurden von nun an Orte für jüdischen Gottesdienst.
In der kanonischen Literatur der ersten Generationen des rabbinischen Judentums (Mischna und Talmud) findet sich eine ambivalente Haltung gegenüber dem Tempel und dem Gelände, auf dem er stand. Einerseits betonten die Gelehrten in ihren Predigten, dass der Tempel nun der Vergangenheit angehöre (Babylonischer Talmud, Traktat Bava batra 60b) und der Tora-Gelehrte die Stellung als jüdischer heiliger Mensch einnehme, die vorher der Hohepriester innehatte (Mischna-Traktat Horajot 3:8). Andererseits bestimmte die von den Mischna- und Talmud-Gelehrten geschaffene Halacha die Heiligkeit des Tempelbergs durch eine Reihe von Vorschriften: sie markierten dessen territoriale Dimensionen (Mischna-Traktat Middot 2:1–4:8) und erlegten denjenigen, die dieses Gebiet betreten wollen, ein besonderes Maß an Reinheit und Besonnenheit auf. Wie einige Forscher*innen betont haben, tauchte die Frage nach der Heiligkeit des Geländes, auf dem der Tempel stand, gerade zu jener Zeit auf, als Jerusalem seinen Status als politisches und rituelles Zentrum des Judentums verlor und der Gottesdienst im Tempel zu einer Tradition, die in immer fernere Erinnerung rückte. Anscheinend hat das Gelände des Tempels den Platz des Tempels eingenommen und der Tempelberg den Wert erhalten, dem vorher dem darauf stehenden Tempel zugemessen wurde.[2]
Im Laufe der jüdischen Diaspora wurden verschiedene Vorschriften erlassen, die Juden und Jüdinnen das Betreten des Tempelbergs verbieten. Aus Angst, das heilige Gelände ohne die erforderliche strenge Reinigung (die unmöglich wurde) zu betreten, wurde auch jüdischerseits Juden und Jüdinnen der Zugang zu vielen Teilen des Tempelbergs verwehrt, was die von nichtjüdischen staatlichen Stellen auferlegten Zugangsbeschränkungen verschärfte. Die Klagemauer befand sich relativ nahe am jüdischen Viertel in der Jerusalemer Altstadt und der Zugang zu ihr war weder durch die Halacha noch durch staatliche Vorschriften beschränkt. Sie war ein ursprüngliches und authentisches Überbleibsel des Herodes-Tempels, das heißt des Zweiten Tempels. So wurde die äußere Stützmauer des Tempelbergs, die Klagemauer, zu einer Juden und Jüdinnen bekannten Kultstätte. Im Laufe der vielen Jahrhunderte seit der Zerstörung des Tempels bis zur Gründung des Staats Israel hatte der Tempelberg für die jüdische Tradition seine Bedeutung hauptsächlich im zeremoniellen und liturgischen Bereich.
Die zionistische Bewegung und der Tempelberg– Utopien bei den Linken und Restaurationsbestrebungen bei den Rechten
Mit dem Aufkommen der jüdischen Nationalbewegung, des Zionismus, auf der historischen Bühne am Ende des 19. Jahrhunderts begann ein neues Kapitel im Stellenwert, der dem Tempelberg zugeschrieben wird. Mit Ausnahme von einigen wenigen Gründern der zionistischen Bewegung, deren Schriften durch eine völlige Säkularisierung des nationalen Projekts gekennzeichnet waren, sahen die meisten zionistischen Denker und Aktivist*innen die nationale Wiederbelebung des jüdischen Volks als einen Prozess der Restauration: Die jüdische Besiedlung des Landes, das später der Staat Israel werden sollte, verstanden sie als Rückkehr einer in der Fremde lebenden Nation in ihre historische Heimat. In diesem ideologischen Rahmen wurden nationale Aktionen in Begriffen beschrieben, die der religiösen Sprache entlehnt waren: so wurde zum Beispiel der Erwerb von Land, das palästinensischen Eigentümer*innen gehörte, als „Erlösung“ bezeichnet. Viele führende Persönlichkeiten der zionistischen Bewegung aus dem gesamten politischen Spektrum, angeführt von David Ben-Gurion, haben nicht gezögert, diese Rückkehr als die Erfüllung des messianischen Versprechens zu bezeichnen.[3] Nach einigen Interpretationen war dieser Rückgriff auf die religiöse Sprache pragmatischen Überlegungen geschuldet, das heißt dem Wunsch, die religiöse Motivation für die nationale Bewegung zu nutzen. Aber unabhängig davon, was dazu geführt hat, religiöse Sprache zu verwenden, hat ihre Verankerung im zionistischen Denken viele Auswirkungen.
Einmal religiös aufgeladen, blieb der Tempelberg nicht in der Dunkelheit des Vergessens. Linke und liberale zionistische Fraktionen rückten ihn ins Zentrum ihrer utopischen Visionen. Herzl stellte sich in seinem utopischen Roman „Altneuland“ vor, dass der zu errichtende Tempel zu einem „Palast des Friedens“ werden würde und der Klang der Gebete in ihm an ein Opernhaus erinnern werde. Der Gründer der Bezalel Akademie für Kunst und Design, Boris Schatz, veröffentlichte einen utopischen Aufsatz; in dessen Zentrum bilden die Hebräische Universität, die Bezalel Akademie für Kunst und Design sowie der auf dem Tempelberg zu errichtende Tempel, in dem keine Opferrituale durchgeführt werden, ein Dreieck, das den Geist der Nation ausdrückt. In der extremen zionistischen Rechten jener Zeit wurde der Tempelberg dagegen zum Mittelpunkt der Restauration des alten biblischen Königreichs Israel. So wünschte sich beispielsweise der Dichter Uri Zvi Greenberg (der als Prophet des harten Kerns der Rechten gilt) in seinen Gedichten die Wiedereinführung des Gottesdienstes auf dem Tempelberg, wobei er die Geschichte der Opferung (Bindung) Isaaks mit der des Tempels verband und davon träumte, sich selbst auf dem Tempelberg im Rahmen der Erneuerung des alten hebräischen Königreichs zu opfern.[4]
Die zunehmende Aufmerksamkeit, die der Tempelberg auf jüdischer Seite erfuhr, blieb nicht auf die textliche und literarische Ebene beschränkt. Bereits im Jahr 1918 versuchte Chaim Weizmann, der dem säkularen gemäßigten Flügel der zionistischen Bewegung angehörte und später Israels erster Präsident wurde, die Klagemauer zu erwerben (allerdings ohne Erfolg). Im Laufe der 1920er Jahre, unter britischem Mandat, nahmen die Spannungen zwischen Araber*innen und Juden und Jüdinnen in Palästina zu, was die Frage der Gebetsrechte an der Klagemauer betraf. Zu jener Zeit unterstand die Klagemauer dem muslimischen Waqf, das offiziell dem jordanischen Ministerium für Awqaf (religiöse Stiftungen) angegliedert war und für die Regelung des Alltags in dem Komplex verantwortlich zeichnete. Es wurde als Teil des heiligen al-Aqsa-Komplexes betrachtet, nicht aber der Platz vor der Klagemauer, der damals nur drei Meter breit und dem marokkanischen Viertel angeschlossen war. Jede Seite interpretierte die Handlungen der anderen Seite – einschließlich ganz banaler Dinge wie der Festlegung der Aufteilung zwischen Frauen und Männern während des Gebets an der Mauer am Jom Kippur – als Verstoß gegen den Status quo. Im Jahr 1929 nahmen die Reibereien um die Klagemauer zu; beide Seiten gründeten Komitees zum Schutz der heiligen Stätten, was sowohl die muslimische als auch die jüdische Präsenz rund um die Klagemauer und den Tempelberg erhöhte. Nationalistische und religiöse Reden auf beiden Seiten schürten die Spannungen weiter. Während dieser Zeit bediente sich der Jerusalemer Mufti Haj Amin al-Husseini religiöser Rhetorik und behauptete, die Juden würden versuchen, den Tempelberg einzunehmen und die Araber daraus zu vertreiben, um breite Unterstützung für den Kampf der Palästinenser*innen für nationale Selbständigkeit zu erhalten.[5] Die blutigen Ereignisse, die sich im August 1929 infolge der hitzigen Auseinandersetzung über die Klagemauer und die jüdischen Absichten auf dem Tempelberg abspielten, betrachten viele als die erste bedeutende Konfrontation im israelisch-palästinensischen Konflikt.[6] Seitdem waren Ängste vor einer jüdischen Übernahme des Tempelbergs und insbesondere der al-Aqsa-Moschee wiederholt Ursache für den Ausbruch von Wellen palästinensischer Gewalt – zwei der drei als „Intifada“ bezeichneten Aufstände der Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten brachen aufgrund der Befürchtung aus, dass „die al-Aqsa-Moschee in Gefahr“ sei. Diese von der Führung der islamischen Bewegung in Israel geschürte Befürchtung beruhte auf israelischen Aktionen wie Ariel Scharons Besuch auf dem Tempelberg im Jahr 2000 sowie auf Verschwörungstheorien, die seit dem Sommer 2015 in sozialen Netzwerken verbreitet werden.
In den 1930er und 1940er Jahren eskalierte der israelisch-arabische Konflikt immer mehr. Es kam zu Wellen von Gewalt, von denen eine der arabische Aufstand in den Jahren 1936 bis 1939 war, der sich sowohl gegen das britische Mandatsregime als auch gegen den jüdischen Yischuw richtete, aber seine Ziele nicht erreichte. Unterstützt durch die Resolution der Vereinten Nationen und nach einem intensiven Krieg in den Jahren 1947 bis 1949 wurde der Staat Israel eine Tatsache. Die Waffenstillstandlinie verlief so, dass sich die Jerusalemer Altstadt, einschließlich des Tempelbergs und der Klagemauer, außerhalb der israelischen Souveränität befand. Die sozialistisch-säkulare Führung der zionistischen Bewegung, und insbesondere Ben-Gurion, waren anscheinend erleichtert darüber. Jahrelang versuchte Ben-Gurion, das moderne Jerusalem als Hauptstadt Israels, für die er sich einsetzte, von der Jerusalemer Altstadt und den heiligen Stätten, von denen er sich zu distanzieren bemühte, zu trennen. So erklärte er 1937: „Es ist unbedingt erforderlich, dass die Altstadt bis zum Ende unter internationaler Verwaltung bleibt“ – ganz im Einklang mit seiner konsequenten Haltung in dieser Angelegenheit.
Die Errichtung des jüdischen Staats wurde stets als Restauration konzipiert, als Rückkehr von Juden und Jüdinnen in ihre historische religiöse Heimat. Die gesamte Führung der zionistischen Bewegung, ob säkular oder religiös, ob links oder rechts, drückte ihre nationale Vision in Begriffen aus, die dem traditionellen jüdisch-messianischen Vokabular entnommen waren. Auf der praktischen Ebene achtete sie jedoch darauf, sich von konkreten Bestrebungen in Bezug auf das Kernstück der jüdischen Heilsvision, nämlich den Tempelberg, fernzuhalten.[7]
1967: „Der Tempelberg ist in unseren Händen“ – Drastisch veränderte Zugangsmöglichkeit und die Wahrung des Status quo
Eine spezifische Entscheidung der israelischen Regierung während des Kriegs 1967 führte dazu, dass die israelische Armee in die Jerusalemer Altstadt eindrang und den Tempelberg besetzte. Eine Viertelstunde nachdem das erste Militärfahrzeug in die Altstadt gefahren war, verkündete eine Stimme über Funk: „Der Tempelberg ist in unseren Händen.“ Seitdem ist dieser Satz zu einer stehenden Redewendung geworden, die Leistung und Zufriedenheit zum Ausdruck bringt. Unmittelbar nach diesem Funkspruch erreichten Duzende von Soldaten zusammen mit einer Reihe von Offizieren, einschließlich des Oberrabbiners des Militärrabbinats Schlomo Goren, der einen Schofar blies, die Klagemauer.
Der Tempelberg befand sich jetzt in den Händen des israelischen Staats, der einen glorreichen militärischen Sieg verzeichnete, wodurch sich sein Territorium verdreifachte und seine internationale Stellung erheblich verbesserte (die US-amerikanische Hilfe für Israel begann nach dem Krieg 1967, nachdem die amerikanische Regierung Israel als prowestliches Verbündeten im Kampf gegen den Einfluss der Sowjetunion im Nahen Osten einstufte).[8] Als neue souveräne Macht konnte Israel seine Politik in Bezug auf den Tempelberg über Generationen hinweg bestimmen. Angesichts der geschlagenen arabischen Führung und der großen Euphorie in der jüdischen Bevölkerung in Israel hätte erwartet werden können, dass die israelische Regierung versuchen würde, die jüdische Souveränität auf dem Tempelberg durch nationale Symbole, wie zum Beispiel die Flagge und die Präsenz von israelischen Sicherheitskräften, durch die Öffnung des Tempelbergs für jüdische Kultushandlungen oder gar durch noch drastischere Schritte, wie zum Beispiel die Errichtung eines Gebäudes für jüdische Kultushandlungen dort, stärker zu demonstrieren. Aber nichts davon ist geschehen.
Bereits wenige Stunden nach der Besetzung des Tempelbergs befahl Verteidigungsminister Mosche Dayan, die israelische Flagge von der goldenen Kuppel des Felsendoms zu entfernen, und wies kurz darauf die israelischen Streitkräfte an, sich aus dem Tempelberg-Gelände zurückzuziehen. Zehn Tage nach der Eroberung des Tempelbergs begann Dayan mit der Umsetzung eines neuen Status quo: Die Verwaltung des Tempelberg-Komplexes blieb weiterhin dem muslimischen Waqf überlassen. Die israelischen Sicherheitskräfte waren für den äußeren Bereich des Tempelbergs zuständig und vermieden es in der Regel, den Tempelberg-Komplex zu betreten. Nach dem neuen Status quo durften Juden und Jüdinnen den Tempelberg besuchen. Es wurde jedoch klargestellt, dass dieses Besuchsrecht kein Recht auf Ausübung jüdischer Kultushandlungen in Form von Gebeten oder in irgendeiner anderen Form auf dem Tempelberg einschließt. Die israelische Regierung und das Oberrabbinat beschlossen, dass diejenigen Juden und Jüdinnen, die versuchen, auf dem Tempelberg zu beten, zur Klagemauer geschickt werden sollen. Die Besetzung des Tempelbergs durch den israelischen Staat hat somit wenig verändert in Bezug auf die Stellung des Tempelbergs in der nationalen Erneuerungsbewegung und auf seinen Platz im öffentlichen Diskurs.[9]
Diese vorsichtige Haltung entsprach voll und ganz der Einstellung des charedischen (ultraorthodoxen) Judentums gegenüber dem Tempelberg. Die führenden ultraorthodoxen Rabbiner, die die zionistische Ideologie nicht teilten, betrachteten den Staat Israel als eine säkulare Institution, die nichts mit der in den jüdischen Schriften versprochenen religiösen Erlösung zu tun hatte. Für sie war das Leben in einem solchen Staat tatsächlich die Fortsetzung des Exils, das heißt der Zeit des Wartens auf die göttliche Erlösung und die Ankunft des jüdischen Messias. Rabbi Schach, ein bedeutender charedischer Rabbiner des späten 20. Jahrhunderts, hat das ganz treffend ausgedrückt, als er in Bezug auf die charedische Gemeinschaft in Israel vom „Exil Israels [das heißt der Israeliten] unter [der Herrschaft] Israel [oder: von Israeliten]“ sprach. Ihr Geschichtskonzept führte dazu, dass charedische Rabbiner eine jüdische Präsenz auf dem Tempelberg nicht förderten; die Regelungen der Halacha hinsichtlich Unreinheit und Reinheit dienten ihnen als Vorwand, um gläubigen Juden und Jüdinnen das Betreten des Tempelberg zu untersagen.
Überraschenderweise äußerten sich Vertreter des messianisch-religiösen Zionismus zum Tempelberg recht ähnlich. Im Gegensatz zur charedischen Sicht glaubten die neuen Strömungen, die in dieser Zeit unter der religiös-zionistischen Bevölkerung in Israel dominierten, jedoch, dass der Staat Israel die Verwirklichung des göttlichen Versprechens der Erlösung des jüdischen Volks sei. Sie glaubten, dass der Staat nicht wie anderswo auf der Welt eine säkulare Institution, sondern das „Fundament des Throns Gottes in der Welt“[10] sei, das heißt, der Staat ist ein Werkzeug, durch das Gott seinen Willen in der von ihm geschaffenen geschöpften Welt zum Ausdruck bringt. Diese Strömungen betrachteten die israelischen Eroberungen im Krieg 1967 als Erfüllung der biblischen Prophezeiungen und Erlösungsversprechen und begannen umgehend, sie durch Siedlungsbau, der seitdem immer weiter zugenommen hat, abzusichern. Aber in Bezug auf den Tempelberg war der religiöse Zionismus zu jener Zeit extrem konservativ.
Zum Beispiel schloss sich Rabbiner Zwi Jehuda Kook, der führende Rabbiner von Gusch Emunim, der Siedlungsbewegung innerhalb des religiösen Zionismus, einer Proklamation an, die alle bedeutenden Rabbiner in Israel unterzeichneten. In der hieß es: „Wir warnen erneut davor: […] Mann und Frau sollten keinen Teil des Tempelbergs betreten, egal durch welches Tor hineingegangen wird.“ Auch als dieses Thema später erneut anstand, machte Rabbiner Kook wiederholt klar, dass nicht nur die Befürchtung, die Gesetze der Reinheit zu brechen, seine konservative Politik in Bezug auf den Tempelberg leitete. Der Tempelberg sei „unzugänglich“, soll er gesagt haben, und in Bezug „auf den Tempelberg sind wir Satmar“[11], was bedeutet, dass hinsichtlich des Tempelbergs menschliches Handeln keine göttliche Erlösung bewirken kann und dass solches Handeln zu vermeiden ist.
Nach dem Krieg von 1967 drängte jahrzehntelang nur eine kleine Minderheit in der israelischen Rechten darauf, jüdische Kultushandlungen auf dem Tempelberg vorzunehmen und die muslimische Präsenz auf dem Gelände einzuschränken. Zu dieser Minderheit gehörten insbesondere langjährige Mitglieder der säkularen Rechten, wie zum Beispiel Gershon Salomon, der im Jahr 1967 die Bewegung Tempel Mount Faithful (die Getreuen des Tempelbergs) gegründet hatte und früher ein Aktivist der revisionistischen paramilitärischen Organisation Etzel/Irgun und ein Mitglied der revisionistischen Jugendbewegung Betar gewesen war.
Anfang der 1980er Jahre begann eine jüdische Untergrundorganisation unter den religiösen Rechten in den Siedlungen zu operieren, deren Angriffe sich auf palästinensische Ziele in der Westbank konzentrierten. Einige ihrer Mitglieder planten, die Moscheen auf dem Tempelberg in die Luft zu sprengen, was sie als „Renovierung“ bezeichneten, aber nicht einmal innerhalb ihrer Organisation stimmten alle einer solchen extremen Aktion zu. Rabbiner, die indirekt von Mitgliedern der Untergrundorganisation gefragt wurden, lehnten die Aktion ebenfalls ab. Die Aufdeckung der Organisation und ihrer Absicht, die Moscheen auf dem Tempelberg zu sprengen, lösten in der gesamten israelischen Öffentlichkeit, einschließlich der religiösen Rechten, einen Schock und große Verwunderung aus. Sogar Rabbiner Zvi Thau, einer der führenden Rabbiner des religiösen Zionismus (und natürlich der pro-messianischen Strömung) wählte scharfe Worte, um seine Ablehnung auszudrücken: „Wir haben es hier mit einer messianischen Sekte zu tun, die dem Volk Israel die Erlösung mit der Waffe in der Hand bringen will; mit götzendienerischen Vorstellungen davon, wie man nach der Sprengung der Moschee auf dem Tempelberg auf den Allmächtigen einwirkt, um Israel zu erlösen. Dies sind Vorstellungen von oberflächlich Schriftgelehrten, Kleingeistern, die aus Neugier mit all ihrer Kleingeistigkeit ins Heilige springen und Zerstörung und Verheerung verursachen.“[12] Der Tempelberg wurde so auch im messianisch-religiösen Zionismus, selbst noch in den 1980er Jahren, als unzugänglicher Tabu-Bereich wahrgenommen. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich jedoch der Status des Tempelbergs im israelischen und insbesondere im religiösen Diskurs drastisch verändert.
Der Tempelberg nach 1995 – auf der Agenda nationaler Konflikte
Für die Änderung der Stellung des Tempelbergs in der jüdischen Öffentlichkeit in Israel und insbesondere im religiösen rechten Lager scheint es zwei Hauptursachen zu geben: zum einen der sich verschärfende Konflikt, wer über die heilige Stätte verfügen kann oder darf, und zum andern die politischen Bemühungen rechter religiöser Parteien, den Tempelberg in das Zentrum der nationalen Vorstellung in Israel zu rücken. Seit 1996 verminderte sich das Einvernehmen zwischen der israelischen Regierung und dem Waqf, dem nicht mehr nur jordanische Repräsentanten angehören, sondern auch von der neu gebildeten Palästinensischen Autonomiebehörde ernannte.
Im Jahr 1996 begann der Waqf umfangreiche Grabungsarbeiten im Bereich der Aqsa-Moschee (Ställe Salomons), um einen riesigen Gebetsraum für Muslim*innen zu errichten. Die eher vorsichtigen Versuche der israelischen Regierung, die Arbeiten zu überwachen, stießen auf muslimischer Seite auf wütenden Widerstand. Den israelischen Exekutivorganen, insbesondere der Israel Antiquities Authority, war es kaum möglich, den Komplex überhaupt zu betreten, geschweige denn die Arbeiten dort effektiv zu überwachen. Und das an einem Ort, der von immensem archäologischem Wert und von beispielloser nationaler und religiöser Sensibilität ist. Nach Einschätzung offizieller Expert*innen entstand durch die Errichtung des unterirdischen muslimischen Gebetskomplexes ein großer Schaden an den antiken Überresten. Kurz nach seinem Amtsantritt im Juni 1996 beschloss Premierminister Benjamin Netanjahu, entgegen der Empfehlung des Ministers für öffentliche Sicherheit, einen weiteren Zugang zu dem Klagemauertunnel (ein alter unterirdischer Durchgang außerhalb der Mauer des Tempelbergs) zu eröffnen. Seine Entscheidung führte zu schweren Unruhen in der Westbank und dem Gazastreifen. Infolge der Unruhen kam die Koordination zwischen der Israel Antiquities Authority und dem Waqf zum Erliegn und das heikle Verhältnis zwischen der israelischen Polizei und dem Waqf wurde noch schwieriger.[13]
Diese Ereignisse waren den Befürworter*innen des Tempelbaus und den Tempelberg-Aktivist*innen innerhalb der israelischen Rechten (sowie auch der arabischen und muslimischen Seite und insbesondere der islamischen Bewegung) dienlich, da sie nun den Tempelberg auf die Agenda des nationalen Konflikts setzen konnten. Bereits Anfang 1996 traf das Komitee der Jescha-Rabbiner, ein führendes Gremium von Rabbinern in den Siedlungen, eine halachische Entscheidung, die es im Gegensatz zur Entscheidung der Rabbiner nach dem Krieg 1967 erlaubte, bestimmte Teile des Tempelbergs zu betreten. Seitdem haben sich im Laufe der Jahre immer mehr Rabbiner der religiös-zionistischen Strömung der Auffassung angeschlossen, dass es erlaubt sei, den Tempelberg zu betreten. Und die Bezirke des Tempelbergs, die nach halachischen Entscheidungen betreten werden dürfen, werden immer größer. Als sich die politische Situation zwischen Israel und den Palästinenser*innen verschlechterte, wurden die halachischen Entscheidungen in ihrem Ton immer nationalistischer. Gleichzeitig wurde immer stärker argumentiert, dass es notwendig sei, auf den Tempelberg zu gehen, um dem religiösen Gebot der Besetzung des Landes nachzukommen, das heißt, um die jüdische Souveränität dort zu stärken – was auch eine Erleichterung in Bezug auf die sonst erforderlichen strengen Reinheitsgebote rechtfertige. Die halachischen Entscheidungen wurden flankiert von groß angelegten Konferenzen, von Zeitungen, die sich mit dem Thema beschäftigten, sowie von einer massiven Kampagne der Tempel- und Tempelberg-Bewegung. Ihr Erfolg spiegelt sich in einer Umfrage wider, die 2014 in der national-religiösen israelischen Öffentlichkeit durchgeführt wurde: 75,4 Prozent gaben an, sie seien dafür, dass Juden und Jüdinnen den Tempelberg besuchen, 24,6 Prozent sprachen sich dagegen aus. Auf die Frage: „Aus welchen Gründen sollten Juden den Tempelberg besuchen?“ antworteten die allermeisten (96,8 Prozent), um dazu beizutragen, die israelische Souveränität an der Stätte des Tempels zu stärken, während nur 54,4 Prozent als Grund das Gebot angaben, den Tempelberg zu besuchen, und den Wunsch, dort zu beten. Für die religiöse Rechte in Israel dient die religiöse Motivation, den Tempelberg zunehmend ins Zentrum zu stellen, den nationalen Interessen, und nicht umgekehrt.
So wurde das, was bis vor einigen Jahren lediglich die Agenda einer kleinen exzentrischen Minderheit innerhalb des religiösen Zionismus war, zum selbstverständlichen Bestandteil des Mainstreams der israelischen Rechten. Heutzutage fordern immer mehr Rabbiner Juden und Jüdinnen dazu auf, den Tempelberg zu besuchen, und zeichnen Karten, mit denen die Probleme der religiösen Reinheitsgebote überwunden werden sollen. Gleichzeitig werden von rechten Politiker*innen, sowohl religiösen als auch säkularen, wiederholt Erklärungen über die Notwendigkeit abgeben, die israelische Souveränität über den Tempelberg zu stärken. Hinzu kamen demonstrative Besuche von hochrangigen Minister*innen auf dem Tempelberg, von denen einige auf eigene Faust Gebetsaktionen durchführten. In der Tat behaupten viele Vertreter*innen der Rechten, damit Israels Souveränität über den Tempelberg zu stärken. Von Mosche Feiglin bis hin zu Miri Regev ist oft zu hören, dass Israels Souveränität unvollständig sei, solange es nicht die volle Souveränität über den Tempelberg ausübe. Die stellvertretende Außenministerin Tzipora (Tzipi) Hotovely brachte diese Empfindung in ein prägnantes Bild, als sie erklärte, es sei ihr Traum, die israelische Flagge über dem Tempelberg wehen zu sehen. Schließlich gibt es eine zunehmende Präsenz von Aktivisit*innen, die die Wiederaufnahme des Tempelgottesdiensts fordern, und der Tempel Mount Faithful, die früher als Träumer galten, im rechten Mainstream und unter den Entscheidungsträger*innen. Heute erreichen staatliche Gelder direkt oder indirekt auch Organisationen und gemeinnützige Vereine, die den dritten Tempel auf dem Tempelberg erreichten wollen – an der Stelle des Felsendoms. Sie arbeiten keineswegs im luftleeren Raum. Zwei große gemeinnützige Organisationen dieser Art, Elad (Davidsstadt-Stiftung) und Ateret Kohanim, sind seit 30 Jahren im „heiligen Becken“ tätig, das heißt in der Jerusalemer Altstadt und deren Umgebung. Sie bemühen sich um jüdische Präsenz in den palästinensischen Vierteln in der Nähe des Tempelbergs, insbesondere in Silwan und im muslimischen Viertel der Altstadt. Wer heute durch diese Viertel geht, dem werden ein paar Duzend einzelner Häuser mit israelischen Flaggen auffallen, die unter massivem israelischen Sicherheitsschutz stehen. Dies sind die Häuser von Siedler*innen von Elad und Ateret Kohanim, die oft mit umstrittenen Mitteln und ohne Zustimmung der palästinensischen Eigentümer*innen erworben wurden.
Die gemeinnützige Organisation Elad arbeitet auch eng mit der Israel Antiquities Authority zusammen, deren Leitung heute Siedlerkreisen nahesteht. Sie führen gemeinsam Ausgrabungen und andere Projekte des Nationalen Archäologischen Parks der Davidsstadt durch, Ausgrabungen, die seit Jahren im Zentrum heftiger politischer und wissenschaftlicher Kontroversen stehen. Angesichts der umfangreichen Ausgrabungen und den Bemühungen um die „Judaisierung“ der palästinensischen Viertel um den Tempelberg ist es leicht verständlich, warum die palästinensische Bevölkerung die Tempel-Organisationen nicht als marginale Randerscheinung betrachtet, sondern als Teil von geplanten und orchestrierten jüdischen Bestrebungen, den Tempelberg und seine Umgebung zu vereinnahmen.
Was bedeuten die Veränderung des Status des Tempelbergs und die israelische und palästinensische Beschäftigung damit für Israel und seine Zukunft?
Die Zukunft des Tempelbergs und die des israelischen Staats
Bereits 1941 gab es Teile der israelischen säkularen Rechten, die die Verwirklichung der zionistischen Vision in der „Errichtung des Dritten Tempels als Symbol des Strebens nach vollständiger Erlösung“ (Lechi-Statuten) sahen. In den letzten Jahren hat diese Vorstellung ausgerechnet über den Diskurs über nationale Souveränität den Mainstream der politischen Rechten erreicht. Auf den ersten Blick ist das keinesfalls verwunderlich. Wenn „der Tempelberg in unseren Händen ist“, so „“soll er uns wirklich gehören. Der Tempelberg ist zweifellos ein wichtiges Symbol des jüdischen Erbes, und es ist oft schwierig, nationale von religiösen Symbolen zu trennen. Es ist jedoch wichtig zu bedenken, dass ein Symbol nicht dasselbe ist wie Souveränität. Wie andere rechtsextreme Bewegungen im Westen hat sich die israelische extreme Rechte oft darauf konzentriert, nationale Mythen und Symbole intensiv zu kultivieren, während sie konkrete Errungenschaften und die tatsächliche Umsetzung von Politik ignoriert hat. Das tut sie gerade aufgrund der pragmatischen Äußerungen und der Politik der offiziellen Stellen auch in diesem Fall. Den Tempelberg als Quelle der Souveränität anzusehen birgt meines Erachtens gefährliche Widersprüche.
Diejenigen, die den Tempelberg als grundlegende Bedingung für israelische Souveränität betrachten, leugnen im Namen einer messianischen Vision nicht nur den beeindruckenden Erfolg der zionistischen Unternehmung bei der Errichtung eines souveränen jüdischen Staats, sondern auch alle anderen Errungenschaften, die diesen Erfolg begleiteten. Souveränität ist die Fähigkeit einer Person oder einer Gruppe, ihr eigenes Schicksal zu gestalten. Die staatliche Souveränität basiert auf einem starken Sicherheitssystem, funktionierenden Regierungsinstitutionen, einer kraftvollen Wirtschaft und einer lebendigen lokalen Kultur. Falls der Zionismus ohne uneingeschränkte israelische Kontrolle und Präsenz auf dem Tempelberg nicht verwirklicht werden kann, wie die oben erwähnten rechten Stimmen behaupten, ist das Konzept des Zionismus jeglichen realen Inhalts beraubt. Die Führung der Rechten, die vor Pragmatismus in Bezug auf den Tempelberg warnt, reduziert und eliminiert damit die größte zionistische Errungenschaft, nämlich den souveränen Staat Israel.
Ähnlich verhält es sich mit der Beziehung zwischen der jüdischen Tradition und dem Tempelberg. Einerseits ist der Ort des Tempels auf dem Tempelberg in der Tat eine heilige Stätte des Judentums, sowohl im Sinne der Halacha und dem religiösen Recht als auch im symbolischen Sinn. Gemäß der Halacha endet die Heiligkeit des Tempelbergs im Unterschied zu der anderer religiöser Stätten niemals. Dreimal täglich erwähnt ein jüdischer Gläubiger im Gebet die Sehnsucht nach Erlösung und gibt explizit seiner Hoffnung auf Errichtung des Tempels und auf den erneuten Gottesdienst dort Ausdruck. Darüber hinaus gibt es im Pantheon der jüdischen Erinnerung drei Fastentage, die der tiefen Trauer über die Zerstörung des Tempels in der fernen Vergangenheit gewidmet sind. Das rabbinische Judentum (oder, wie es heute genannt wird, einfach: das Judentum) verleiht dem Tempel, dem Gottesdienst dort sowie auch dem Berg, auf dem der Tempel erbaut wurde, einen besonderen Status. Dieser Status manifestiert sich in Gebeten, in der jüdischen Kabbala, in der Halacha und selbst in alltäglichen Praktiken von religiösen Juden und Jüdinnen. Aber das ist auch alles.
Bei genauerer, substanziellerer Betrachtung ergibt sich ein völlig anderes Bild. Das Judentum, wie wir es kennen, entwickelte sich nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 unserer Zeitrechnung. In seinem Wesenskern ist dieses Judentum weit entfernt von der Idee eines funktionierenden jüdischen Tempels. Damit das Judentum auch ohne eine zentrale Kultstätte fortbestehen konnte, mussten die Weisen drastische strukturelle Veränderungen in den Grundlagen der jüdischen Religion vornehmen, wobei drei große Umbrüche im Mittelpunkt standen. Erstens ersetzten die Weisen den Opferdienst durch den „Dienst im Herzen“, das heißt das Gebet. Das Gebet kann überall und jederzeit von jedem Mann oder jeder Frau verrichtet werden. Zweitens ersetzten die Weisen die Priester – Heilige, die aufgrund ihrer Familienabstammung ausgewählt wurden – durch Tora-Gelehrte als heilig angesehene Personen. (Dieses Modell ermöglichte eine dramatische Demokratisierung der religiösen Elite, die nun eher nach dem Grad ihrer intellektuellen Exzellenz als nach ihrer Familienzugehörigkeit bestimmt wurde.) Und die wichtigste, dritte Umwälzung: Im Judentum nach der Zerstörung des Tempels ersetzte der textuelle Ort der Offenbarung Gottes den physisch-realen – der Tempel wurde durch die Tora ersetzt. Im Gegensatz zum Tempel ermöglichte es die Tora, dass Gottes Wort jederzeit und überall von jedem Mann oder jeder Frau gehört werden kann. Mit anderen Worten: Während der Tempelberg gemäß der Halacha ein Gebiet ist und bleibt, das nur in beschränktem Maße betreten werden darf, ist der Tempel selbst kein wesentliches Element mehr für ein sinnhaftes religiös-jüdisches Leben. Einige meinen sogar, dass der Tempel überhaupt nicht mit einem solchen Leben vereinbar sei.
Das Judentum heute basiert auf der Überzeugung, dass die Beziehung zwischen Mensch und Gott unabhängig von dem geografischen Ort ist. Wenn ein bestimmter Ort zu einer privilegierten Relaisstation für die Verbindung mit Gott wird, wird dadurch die gesamte bekannte religiöse jüdische Lebenspraxis beiseitegeschoben. Das Gebet in der Synagoge wird zum Beispiel zu einem rein symbolischen Akt, einer Metapher oder einem blassen Abglanz der wahren Kulthandlung im Tempel. Das Studium der Tora und ihre immer neue erneute Auslegung werden aufhören, der Ort zu sein, an dem Juden das offenbarte Wort Gottes suchen. Der neue Tempel wird den jüdischen Gott an einen Ort binden und dieser Gott wird nur über die Vermittlung einer Kaste menschlicher Priester zugänglich sein. Daher steht die Behauptung, dass die Errichtung des Dritten Tempels die vollständige Erfüllung des Judentums darstelle, in einem außerordentlichen Spannungsverhältnis zu der Art und Weise, die das jüdische Alltagsleben und jüdische Werte in den letzten 2000 Jahren geprägt hat.
Die zionistische Revolution, die als eine des säkularen Nationalismus konzipiert war, hat zu Spannungen und sogar Paradoxien an der Schnittstelle zwischen säkularem Nationalismus und religiösem Messianismus geführt. Die zionistische Bewegung rebellierte gegen die politische Passivität, die die jüdische religiöse Tradition über Jahrhunderte hinweg charakterisierte, und übernahm dabei den Aktivismus, der in den messianischen Bestrebungen der religiösen Tradition verborgen war. Dadurch verschwand das religiöse messianische Prinzip nicht, sondern wurde lediglich „nationalisiert“; es bestand weiter und wurde sogar unter einem dünnen Schleier des Säkularismus gestärkt. In den letzten Jahren nutzt die religiöse Rechte diese latenten messianischen Bestrebungen auf eindrucksvolle, aber gefährliche Weise aus.
Zum Abschluss möchte ich vorschlagen, dass gerade weil der Tempelberg der Ort ist, an dem der Zionismus in all seinen Strömungen mit den verschiedenen unterschwelligen messianischen Vorstellungen zusammentrifft, die Debatte über den Tempelberg zu einem Wendepunkt werden könnte, mit dem der säkulare Zionismus in die Lage versetzt wird, sich von seinen messianischen Verflechtungen zu befreien und sich (vielleicht zum ersten Mal) der Normalisierung der jüdischen Existenz zuzuwenden. Die Debatte über den Tempelberg kann der prinzipielle Scheidepunkt werden zwischen denjenigen, die sich mit den bestehenden Errungenschaften der zionistischen Unternehmung zufriedengeben, und denjenigen, die die darin enthaltene messianische Logik bis zu ihrem äußersten, verheerenden Ende weiterverfolgen wollen. Falls es dem Zionismus gelingt, mit diesen tief sitzenden messianischen Strömungen fertig zu werden, könnte dies auch weitreichende Auswirkungen auf andere Themen haben, wie die Zukunft der Besatzung, die Gleichheit der palästinensischen Staatsbürger*innen Israels und sogar die Trennung von Staat und Religion.
Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin
Dr. Hillel Ben-Sasson, Gründer und Direktor von IDEA: Center for Liberal Democracy, Israel, verheiratet und Vater von drei Kindern, wurde in Jerusalem geboren, wo er bis heute lebt. Er engagierte sich als Basisaktivist in Ost-Jerusalem und schloss sich dann dem Gründerteam von Molad: The Center for the Renewal of Israeli Democracy an und fungierte als dessen Programmdirektor. Seit 2015 ist Ben-Sasson auch Berater und Redenschreiber von Präsident Reuven Rivlin. Ben-Sasson promovierte 2013 in Jüdischer Theologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Er hat publizistische und wissenschaftliche Aufsätze zur klassischen jüdischen Theologie sowie zur israelischen Politik und politischen Theologie veröffentlicht. Nach seiner Promotion hatte er eine Gastprofessur für Israel-Studien am Jewish Theological Seminary in New York inne und leitete das Begabtenprogramm in Civic Education (Lernen für Demokratie und Zivilgesellschaft) des Oranim Academic College of Education in Israel.
Weiterführende Links
Weiterführende Literatur
Berkovitz, Shmuel: The Temple Mount and the Western Wall in Israeli Law (Jerusalem Institute for Israel Studies, Teddy Kollek Center for Jerusalem Studies, Bd. 90), 2001 unter: https://jerusaleminstitute.org.il/en/publications/temple-mount-and-western-wall-in-israeli-law/
Breger, Marshall J./Reiter, Yitzhak/Hammer, Leonard (Hrsg.): Holy places in the Israeli-Palestinian conflict: confrontation and co-existence, Ann Arbor 2009.
Cohen, Hillel: Year Zero of the Arab-Israeli Conflict 1929 (The Schusterman Series in Israel Studies), Waltham 2015.
Eliav, Yaron Z.: Godʼs mountain: The Temple Mount in time, place, and memory, Baltimore 2005.
Golani, Motti: Jerusalemʼs Hope Lies Only in Partition: Israeli Policy on the Jerusalem Question, 1948–67, in: International Journal of Middle East Studies 31 (1999), S. 577–604.
Persico, Tomer: The Temple Mount and the End of Zionism, in: Haaretz, 29.11.2014, unter: www.haaretz.com/israel-news/.premium-1.628929.
Ramon, Amnon: Beyond the Western Wall: Official Israeli and Jewish Public Attitudes toward the Temple Mount, 1967–1999, in: Reiter, Yitzhak: Sovereignity of God and Man: Sanctity and Political Centrality on the Temple Mount, Jerusalem 2001, S. 113–142 [Hebräisch].
Reiter, Yitzhak: From Jerusalem to Mecca and Back: The Islamic Consolidation of Jerusalem, Jerusalem 2005, unter: http://en.jerusaleminstitute.org.il/.upload/meka_eng.pdf.
Shragai, Nadav: The Temple Mount Conflict, Jerusalem 1995 [Hebräisch] (right wing/conservative perspective)
Anmerkungen
[1] Ich bedanke mich bei Prof. Yitzhak Reiter vom Jerusalem Institute for Policy Research für seine wertvollen Kommentare. Für eventuelle Fehler bin ich allein verantwortlich.
[2] Eliav, Yaron Z: Godʼs mountain: The Temple Mount in time, place, and memory, Baltimore 2005, S. 189–241.
[3] Ohana, David: Political Theologies in The Holy Land – Israeli Messianism and its Critics, London 2009, S. 17–52.
[4] Bahat, Ya'akov: Ha'akedah umoreshet hayahadut beshirato shel Uri Zvi Greenberg [The Sacrifice and Jewish Heritage in U.Z. Greenbergʼs Poetry], in: Moznaim 56.6 (1983), S. 36–39.
[5] Elpeleg, Zvi: The Grand Mufti Haj Amin al-Husseini: Founder of the Palestinian National Movement, London/Portland 1993, S. 16–25.
[6] Cohen, Hillel: Year Zero of the Arab-Israeli Conflict 1929 (The Schusterman Series in Israel Studies), Waltham 2015.
[7] Golani, Motti: Jerusalemʼs Hope Lies Only in Partition: Israeli Policy on the Jerusalem Question, 1948–67., in: International Journal of Middle East Studies 31.4 (1999), S. 577–604; vgl. Bar, Doron: Sanctifying a Land: The Jewish Holy Places in the State of Israel 1948–1968, Jerusalem 2007, S. 53–55 [Hebräisch].
[8] Plitnick, Mitchell/Toensing, Chris: „The Israel Lobby“ in Perspective, in: Middle East Report 243 (2007), S. 42–47.
[9] So erklärte Nadav Shragai, ein Journalist und Experte für den Status quo, Dayans Überlegungen wie folgt: „Der israelisch-arabische Konflikt basiert unter anderem auf religiösen Elementen, die sich mit seinen nationalen Grundlagen überschneiden. Sowohl auf der israelischen als auch auf der arabischen Seite beteiligen sich die beiden Religionen oft an nationalen Kriegen und Kämpfen. Dayan sah es als seine Pflicht an zu versuchen, einen Keil zwischen Religion und Nationalismus zu treiben und zu verhindern, dass sich der Konflikt in religiöse Bahnen ausbreitet. Er glaubte, dass der Islam seine religiöse Souveränität auf dem Tempelberg ausüben dürfe, nicht aber seine nationale. Er war davon überzeugt, dass dies den israelisch-arabischen Konflikt auf eine nationale territoriale Ebene begrenzen und sein religiöses Potenzial eliminieren könnte. Mit der Gewährung des Besuchsrechts für Juden und Jüdinnen auf dem Tempelberg versuchte Dayan, einen jüdischen Anspruch auf Kultusausübung und religiöser Souveränität dort zurückzudrängen. Dayan glaubte, dass er die Bedeutung des Tempelbergs als palästinensisches nationalistisches Zentrum abschwächen könne, indem er Muslim*innen die religiöse Souveränität dort gewährte.“
[10] „Our state, the State of Israel, foundation of God’s throne in the world – her whole desire is that God will be one and God’s Name one“ [„Unser Staat, der Staat Israel, Fundament des Thron Gottes in der Welt – sein ganzes Wollen ist darauf gerichtet, dass Gott der Eine wird und Gottes Name der Eine wird.“] (Rav Kook, Notebook 1:186).
[11] Satmar ist eine Strömung innerhalb des charedischen Judentums, die den Zionismus strikt ablehnt. [Anm. d. Übers.]
[12] Segal, Haggai: Dear Brothers, Jerusalem 1987, S. 215 f. [Hebräisch].
[13] Die israelische Polizei hatte zunächst die Bautätigkeiten des Waqfs auf dem Tempelberg erlaubt, insbesondere in Bezug auf die Marwani-Moschee; siehe Reiter, Yitzhak: Sovereignty of God and Man. Sanctity and Political Centrality on the Temple Mount [Hebräisch], 2001, S. 297–318; Reiter, Yitzhak: Status Quo in Change. The Struggles over Controlling the Temple Mount [Hebräisch], 2016, S. 43–46, auch unter: http://din-online.info/pdf/m-i36.pdf.
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