Protest vor dem norwegischen Parlament gegen die israelischen Angriffe auf Gaza, Oslo, 19. Mai 2021. Foto: Ryan Rodrick Beiler (ActiveStills)
30 Jahre Oslo
Am 13. September 1993 wurde das erste Oslo-Abkommen in Washington D.C. unterzeichnet. Zum ersten Mal erkannte die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) unter Jassir Arafat den Staat Israel an und Israel akzeptierte, unter Yitzchak Rabin, die PLO als legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes. Was damals eine große Hoffnung war, wurde rückblickend zu einem Symbol der scheinbaren Unmöglichkeit eines Verständnisses zwischen den beiden Völkern.
Dreißig Jahre nach dem historischen Händedruck vor dem Weißen Haus belastet der israelisch-palästinensische Friedensprozess, auch Oslo-Prozess genannt, den aktuellen politischen Diskurs in Israel und Palästina stark. Die Narrative über Oslo, die unter den beiden um das Land kämpfenden Bevölkerungsgruppen vorherrschen, sind so tief verwurzelt , dass das Wort «Oslo» auch zum Synonym für die offensichtliche Unmöglichkeit einer Versöhnung geworden ist. Die jeweiligen Seiten machen entweder Jassir Arafat als Verkörperung der kollektiven palästinensischen Psyche oder den «Zionismus» als monolithische und festgefahrene Ideologie der jüdischen Israelis und ihrer Führer für «Oslo» verantwortlich. Leider verbreiten auch angesehene Intellektuelle und seriöse Wissenschaftler*innen diese einseitigen nationalen Narrative über Oslo und verleihen ihnen damit Glaubwürdigkeit.
Es besteht großer Bedarf an einer Wissensbasis über den israelisch-palästinensischen Konflikt im Allgemeinen und den Oslo-Prozess im Besonderen, die den wissenschaftlichen Methoden der historischen Forschung gerecht wird: Vermeidung von essentialistischen, anachronistischen und deterministischen Erklärungen. Historiker*innen des Nahostkonflikts, die sich an professionelle Standards halten, liefern komplexe und differenzierte Darstellungen, die vielleicht keine einfachen Antworten auf die Frage geben, wie es weitergehen soll, aber starre politische Positionen auflockern können. Die Freigabe von Dokumenten und die Anwendung neuer theoretischer Ansätze wie der settler-colonial-studies sind hier vielversprechend. Doch lange bevor die Manuskripte auf den Schreibtischen akademischer Verlage landen, sollten wir die völlige Unzulänglichkeit der vorherrschenden «Falltheorien» zur Kenntnis nehmen, die in beiden Gesellschaften und ihren jeweiligen intellektuellen Schichten zirkulieren und die jeweilige Darstellung des Oslo-Prozesses begründen.
Die beiden nationalen Narrative, die sich gleichermaßen durch Voreingenommenheit, Ungereimtheiten und kollektive Amnesie auszeichnen, haben zwei gegensätzliche historische Bewertungen hervorgebracht. Die Mehrheit der jüdischen Israelis und ihrer Unterstützer*innen sieht in Arafat, der stellvertretend für den kollektiven Willen der Gesamtheit der Palästinenser*innen steht, im Wesentlichen jemanden, der die Israelis hintergangen hat. Nach dieser Darstellung, die von Politiker*innen, Fachleuten, Militärexpert*innen und Wissenschaftler*innen vertreten wird, kamen Arafat und die Spitzenkader der PLO aus Tunis in die besetzten Gebiete, um einen Zufluchtsort für Terrorist*innen und eine neue Ausgangsbasis für ihre unerbittliche Kampagne zur Zerstörung Israels zu schaffen.
Das israelische Vertrauen in die palästinensischen Absichten wurde durch die Intensität des palästinensischen Terrors erschüttert, der in den ersten Jahren nach dem ersten Oslo-Abkommen und noch stärker nach dem Scheitern des Oslo-Prozesses zwischen 2000 und 2002 eskalierte. Die «Beweise» für eine Verschwörung Arafats beruhen jedoch eher auf der Deutung von Symbolen und anderen unwissenschaftlichen Interpretationen. Eine Behauptung, die Israelis immer wieder anführen, um zu beweisen, dass Arafat nicht in der Lage gewesen sei, Frieden mit Israel zu schließen, geht auf Professor Efraim Karsh von der Bar-Ilan-Universität zurück, der darauf hinwies, dass Arafat seine Militäruniform nie abgelegt habe, nicht einmal bei der Verleihung des Friedensnobelpreises. Ein weiteres Beispiel für das in israelischen sozialen Medien kursierende Narrativ ist ein kürzlich auf YouTube veröffentlichter Vortrag von Schlomo Ben-Ami, Historiker, Außenminister und ehemaliger israelischer Chefunterhändler bei den abschließenden Verhandlungen im Jahr 2000 in Camp David. In seinem Vortrag mit dem vielsagenden Titel «Warum die Palästinenser*innen keinen Frieden mit Israel schließen wollten» bemüht Ben-Ami vage Verallgemeinerungen über den palästinensischen Nationalethos und Arafats charakterliche Eigenschaften, um die grundsätzliche Unfähigkeit der Palästinenser*innen zu erklären, mit Israelis Frieden zu schließen. Doch welches Arafat-Zitat oder -Manöver auch immer als Beweis für dessen heimlichen Wunsch, die Versprechen von Oslo zu brechen, angeführt werden mag, ein vollständiges «Geständnis» zu den Einzelheiten der Verschwörung ist nirgends zu finden. Letztlich setzt die Behauptung, Arafat habe den Oslo-Prozess nutzen wollen, um den Untergang Israels herbeizuführen, die Fähigkeit voraus, in seinen Kopf hineinzugucken und seine Gedanken zu lesen. Diese Fähigkeit fehlt den Historiker*innen nicht nur, vielmehr lässt sich die gesamte «Theorie» von vornherein ausschließen, wenn man den historischen Kontext berücksichtigt, in dem Arafat agierte, und einige grundlegende logische Überlegungen anstellt.
Historiker*innen können weder die Gedanken einer einzelnen Person, geschweige denn eines gesamten Volkes lesen. Menschen sind komplex; sie ändern ihre Meinung, belügen sich selbst und folgen keinem großen Plan – sie denken, während sie handeln. Wenn wir also glauben, dass Arafat von Anfang an plante, «Oslo» als Mittel zur Ermordung weiterer Jüdinnen und Juden zu nutzen, müssen wir Folgendes annehmen: Dass derselbe Arafat, der Mitte der 1970er-Jahre die radikalen Gruppierungen in der PLO unter Druck setzte, um die palästinensische Nationalbewegung in Richtung Pragmatismus zu lenken, der diese Kräfte im Libanon bekämpfte, um seinen Anspruch auf Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten durchzusetzen, der den gesamten Palästinensischen Nationalrat drängte, Israel anzuerkennen, und der in den Autonomiegebieten kurz vor einem Bürgerkrieg mit der Hamas stand, dass dieser Arafat die ganze Zeit insgeheim plante, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen? Sollen wir glauben, dass Arafat sich öffentlich zur Diplomatie bekannte, während er gleichzeitig Millionen von Palästinenser*innen in den palästinensischen Gebieten und in der Diaspora insgeheim zu verstehen gab, sie sollten sich bereithalten und auf weitere Anweisungen warten?
Verschwörungen kommen vor, aber sie setzen eine straffe Organisation voraus und können nicht auf der Ebene einer ganzen Nation funktionieren. Führende Politiker*innen mögen ihre öffentlichen Äußerungen revidieren, aber ihre Worte haben eine historische Wirkung. Arafats wiederholte Bekenntnisse zum Frieden und zur Anerkennung Israels waren nicht geeignet, die Palästinenser*innen für einen totalen Krieg gegen Israel zu mobilisieren. Das bedeutet nicht, dass Arafat keine Verantwortung für das Scheitern des Oslo-Prozesses trüge, dass er sich auf dessen Scheitern nicht vorbereitet oder alles in seiner Macht Stehende getan hätte, um die palästinensische Gewalt zu stoppen, oder sogar darauf verzichtet hätte, diese zu schüren. Allerdings kann er in Anbetracht der Umstände keinen Plan zur Zerstörung Israels verfolgt haben.
Während die israelische Metaerzählung von «Oslo» einer einfachen logischen Prüfung nicht standhält, scheint die palästinensische Hypothese vom Scheitern des Oslo-Prozesses auf den ersten Blick fundierter zu sein. Palästinenser*innen wie Edward Said und Mahmoud Darwish, die die Zweistaatenlösung unterstützten, «Oslo» aber kritisch gegenüberstanden, warnten davor, dass die Bedingungen des ursprünglichen Abkommens es Israel erlauben würden, die Siedlungen beizubehalten, den Palästinenser*innen einen Staat zu verweigern und die PLO im Wesentlichen zu einem israelischen Unterbeauftragten für lokale Angelegenheiten und Sicherheit zu machen. Diese Prophezeiung scheint sich erfüllt zu haben, denn Israel ist nach wie vor alleiniger Herrscher über das gesamte Land zwischen Fluss und Meer und baut nahezu ungehindert Häuser für jüdische Siedler*innen im Westjordanland und in Ostjerusalem. Die Palästinensische Autonomiebehörde, von Palästinenser*innen auch als «Oslo-Behörde» bezeichnet, dient den Interessen Israels, indem sie die Hamas und andere bewaffnete Gruppen im Westjordanland in Schach hält. Selbst die amtierende rechtsextreme Regierung will die Palästinensische Autonomiebehörde stärken und ihren Zusammenbruch verhindern. Im Gazastreifen scheinen die Hamas und die israelische Rechte eine gewisse Entspannung erreicht zu haben. Letztere hat die Verantwortung für die Verwaltung des israelischen «Gefängnisses unter freiem Himmel» übernommen, und Israel hat die perfekte Ausrede, keine Gespräche mit der PLO zu führen, dadiese nicht alle Gebiete kontrolliert.
Seit 1967 haben verschiedene israelische Regierungschefs eine hybride Situation, in der die Palästinenser*innen in getrennten Konklaven ein gewisses Maß an Autonomie «genießen», als den besten Weg betrachtet, das Land zu behalten und die Menschen, die es bewohnen, nicht zu integrieren. Rabin selbst starb aller Wahrscheinlichkeit nach mit einer Vision innerhalb dieser Parameter. Einen Monat vor seiner Ermordung sprach er in der Knesset über das Endstatus-Abkommen, das er auszuhandeln gedachte und das die Beibehaltung der meisten Siedlungen, ein israelisches Jerusalem, die israelische Kontrolle über das Jordantal und die Zustimmung zu einem palästinensischen Gebilde, das «weniger als ein Staat» sein würde, vorsah. Im Wesentlichen bekam Israel genau das, was es wollte, mit der PLO als Mitunterzeichner des subalternen Status der Palästinenser*innen.
Dies ist in der Tat ein Beweis dafür, dass die israelische Führung den Oslo-Prozess nicht mit der Absicht begonnen hat, den Palästinenser*innen einen Staat zu gewähren. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Oslo-Prozess nicht zur Gründung eines solchen Staates hätte führen können, geschweige denn, dass Zionist*innen grundsätzlich nicht in der Lage wären, die Gründung eines souveränen palästinensischen Staates auf dem ehemaligen britischen Mandatsgebiet zu akzeptieren. Auch wenn Israelis dem Friedensprozess immer wieder Hindernisse in den Weg stellten, so bleibt doch die Tatsache, dass Ehud Barak einem palästinensischen Staat auf etwa 95 Prozent des von den Palästinenser*innen beanspruchten Territoriums zustimmte, und Arafat dies ablehnte. Im Nachhinein wissen wir, dass Arafat die Clinton-Parameter im Dezember 2000 nicht hätte akzeptieren können. Trotz seines Rufs, unehrlich zu sein, war er ziemlich konsequent in Bezug auf seine Ziele, als er den großen Schritt wagte, die PLO zu verpflichten, das Existenzrecht Israels anzuerkennen: einen Staat, das gesamte Westjordanland, das gesamte Ostjerusalem und eine gerechte Lösung für die palästinensischen Vertriebenen. Die Clinton-Parameter waren das «großzügigste» Angebot, das den Palästinenser*innen je unterbreitet wurde, aber sie wurden nur einem von Arafats Zielen gerecht – einem Staat. Das einzige Druckmittel, das er hatte, um auch die anderen Ziele zu erreichen, war die Verweigerung seiner Zustimmung. Gleichzeitig hätte Barak nichts davon gehabt, ein unaufrichtiges Angebot zu machen, von dem er wusste, dass es abgelehnt werden würde. Baraks berüchtigter Ausspruch, Arafat sei «kein Partner für den Frieden», war eine Schlussfolgerung.
Es ist auch erwähnenswert, dass die Zweistaatenlösung in Israel jahrelang populär war. Sie wurde jedoch im Parlament nie stark genug vertreten, um sich gegen den erbitterten Widerstand der Siedler*innen und ihrer Unterstützer*innen in der israelischen Gesellschaft durchzusetzen. Es ist denkbar, dass ein proaktiveres Amerika, eine mutigere israelische Führung oder auch ein weniger tödlicher palästinensischer Widerstand dieser Wählerschaft zu mehr politischer Macht verholfen hätte.
Vor einem Jahr habe ich in Zusammenarbeit mit Molad, dem Zentrum für die Erneuerung der israelischen Demokratie, eine ausführliche achtteilige Podcast-Serie über den Oslo-Prozess verfasst, die demnächst auch in englischer Sprache veröffentlicht wird. Die Kapitel konzentrieren sich auf mehrere Themen, darunter die jeweiligen Herangehensweisen der Zionist*innen und Palästinenser*innen an den Konflikt, die palästinensische Gewalt, den israelischen Siedlungsbau und die Mechanismen der diplomatischen Verhandlungen. In einer weiteren Episode wird erklärt, was ich auch hier dargelegt habe, dass nämlich keine der beiden Seiten das Ziel verfolgte, die andere «übers Ohr zu hauen». Erst wenn wir verstehen, dass der Oslo-Prozess ein aufrichtiges Bemühen um die Beendigung eines Konflikts darstellt, der seit anderthalb Jahrhunderten andauert, werden wir in der Lage sein, uns mehr auf die Frage «Was ist passiert?» als auf die Frage «Wer ist schuld?» zu konzentrieren.
Übersetzung aus dem Englischen von Gegensatz Translation Collective.
Autor:in
Arnon Degani ist Fellow am Molad, dem Zentrum für die Erneuerung der israelischen Demokratie, und spezialisiert sich auf die Geschichte des Zionismus, des palästinensischen Nationalismus und des israelisch-palästinensischen Konflikts. Kürzlich veröffentlichte er die hebräische Podcast-Serie «Hesket Oslo» über die Oslo-Verträge und arbeitet derzeit an der englischen Adaption «Still Processing». Seine Doktorarbeit befasste sich mit der Integration palästinensischer Araber*innen in die israelische Gesellschaft von 1948 bis 1967, wie sie in alltäglichen Begegnungen mit israelischen Behörden zum Ausdruck kam. In seinem in Kürze erscheinenden Buch mit dem Titel «Our Arabs» befasst er sich eingehend mit diesem Thema.