Ohne Erinnerung keine Zukunft. Die Nakba auf Hebräisch
Wie geht die israelische Öffentlichkeit mit der Geschichte der Vertreibung der Palästinenser*innen um?
Nakba — (arabisch für: Katastrophe) bezeichnet die Ereignisse im Rahmen des Krieges von 1948 (1947–1949) und deren Folgen. Der neu gegründete israelische Staat beherrschte 77 Prozent des historischen Palästina, mehr als 10.000 Palästinenser*innen kamen während der Kampfhandlungen ums Leben, mehr als 500 Städte und Dörfer wurden zerstört bzw. entvölkert und mehr als 700.000 Palästinenser*innen (das heißt mehr als die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung im historischen Palästina bzw. ca. 80 Prozent der Palästinenser*innen, die vor dem Krieg in Gebieten gelebt hatten, die sich nach Kriegsende innerhalb der international anerkannten Grenzen Israels befanden) wurden zu Flüchtlingen. Ihr in Israel befindliches Eigentum wurde vom israelischen Staat konfisziert.
In diesem Artikel zeichne ich den israelischen Diskurs über die Nakba (hauptsächlich als Thema, aber auch als historisches Ereignis) nach. Wann ist die Nakba im israelischen Diskurs aufgetaucht? Wann ging die Beschäftigung mit diesem Thema zurück? Wann wurde sie unterdrückt? Was waren die Gründe für diese Veränderungen? Im Folgenden werde ich versuchen, die verschiedenen Phasen in der Geschichte Israels seit der Staatsgründung nachzuzeichnen, um das jeweils spezifische Verhältnis zur Nakba und die im Laufe der Zeit eingetretenen Veränderungen zu untersuchen. Dieser Artikel beschäftigt sich fast ausschließlich mit dem hebräischen Diskurs über das Thema und nicht mit dem Diskurs darüber in arabischer Sprache und in der arabischen Welt.
1946–1952: Anfängliche Naivität
So überraschend es auch klingen mag – der Begriff Nakba als Bezeichnung für die palästinensische Katastrophe wurde zum ersten Mal von der israelischen Armee verwendet: Im Juli 1948 wandte sie sich mit einem Flugblatt an die arabischen Bewohner*innen von Tirat Haifa, die sich der Besetzung widersetzten. In vorzüglichem Arabisch wurden sie dazu aufgerufen, sich zu ergeben: „Wenn Ihr der Nakba vorbeugen, die Katastrophe vermeiden und Euch vor dem unausweichlichen Unheil retten wollt, müsst Ihr Euch ergeben.“[1]
Etwas später, im August 1948, veröffentlichte der syrische Intellektuelle Constantin Zureiq ein Essay über „Die Bedeutung der Katastrophe“. Dort schreibt er unter anderem: „Die Niederlage der Araber in Palästina ist nicht einfach ein Rückschlag oder ein vorübergehendes Leid. Es ist eine Nakba im wahrsten Sinne des Wortes.“ Zureiq wandte sich in seinem Essay an die Araber*innen im Nahen und Mittleren Osten und flehte sie an, auf die schreckliche Katastrophe, die über sie hereingebrochen ist, zu reagieren. Für ihn war die Nakba nicht nur eine palästinensische Angelegenheit, sondern betraf die gesamte arabische Welt.
Gegen Ende des Jahres, am 19. November 1948, veröffentlichte der berühmte, eng mit der zionistischen Arbeiterbewegung verbundene Dichter Nathan Alterman sein Gedicht „Al Zot“ („Darüber“) in der Tageszeitung der Histadrut Davar, und David Ben-Gurion gab Anweisung, das Gedicht an alle israelischen Soldaten zu verteilen. Das Gedicht beschreibt ein von israelischen Soldaten verübtes Massaker an wehrlosen Palästinenser*innen. Es bezieht sich vermutlich auf Kriegsverbrechen, die in Lod (Lydda) verübt worden sind. Hannan Hever, Professor für hebräische Literatur, und der Schriftsteller und Literaturkritiker Yitzchak Laor sind der Meinung, dass Altermans Kritik an dem Ereignis nicht so eindeutig ist, wie es auf den ersten Blick scheint.[2] Auch wenn sie recht haben und abgesehen davon, dass das Gedicht mit dem klaren Aufruf endet: „Fürchte [Dich] nicht und ‚Sag’s nicht an in Gath‘[3]…“, beschreibt es Ereignisse, die, wenn sie heute veröffentlicht werden würden, für große Aufregung in der israelischen Öffentlichkeit und in der politischen Führung sorgen würden, wie nicht zuletzt der gegenwärtige Eklat um die Nichtregierungsorganisation Breaking the Silence (Das Schweigen brechen)[4] zeigt.
Schon 1948 schrieb S. Yizhar (Yizhar Smilansky), einer der führenden israelischen Schriftsteller, sein Buch „HaSchawui“ („Der [Kriegs-]Gefangene“), in dem er die grausame Behandlung von besiegten Palästinenser*innen durch israelische Soldaten beschreibt. Ein paar seiner anderen Bücher aus dieser Zeit, „Jamei Ziklag“ („Tage von Ziklag“) und „Chirbet Chisa“ („Ein arabisches Dorf“), erörtern offen die Gräueltaten, die von israelischen Soldaten während der Nakba begangen wurden. „Chirbet Chisa“ wurde in den Lehrplan der staatlichen Schulen aufgenommen und von Tausenden von Schüler*innen gelesen.
Im Jahr 1948 und in den ersten Jahren danach war der mit der Nakba verbundene Diskurs von Naivität geprägt. Obwohl der Begriff selbst nicht verwendet wurde, zeichnete sich die Darstellung der Ereignisse, einschließlich der von israelischen Soldaten an Palästinenser*innen verübten Gräueltaten, durch ihre Einfachheit und Selbstverständlichkeit aus – frei von narrativen Filtern und Sublimation. Dieser Ansatz passte gut zu S. Yizhars Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms (stream of consciousness), bei der sich der Autor nicht als Subjekt versteht, das den Text prägt, sondern angeblich nur als Medium dient, die Erfahrungen anderer in unbearbeiteter Form zu übermitteln. Auf diese Weise wurden auch die Ereignisse der Nakba geschildert: im Klartext, geradeheraus.
„Die Eroberung von Jaffa“ war das erste Buch, das die Kriegsereignisse in Jaffa schilderte und unter ebendiesem Titel 1951 erschien. Sein Autor, Chaim Lazar, gehörte der revisionistischen zionistischen Bewegung und der Cherut-Partei an. Später wurde im öffentlichen Diskurs der Begriff „Eroberung“ durch „Befreiung“ ersetzt.[5] Lazar war es auch, der den Begriff der „[ethnischen] Säuberung“ verwendete, um zu beschreiben, was zionistische Milizen in Jaffa getan hatten. Jahre später, als der kritische Politologe Meron Benvenisti[6] und, noch später, als der zu den (Neuen) Historikern gehörende Ilan Pappé[7] denselben Begriff verwendete, wurde darin eine Provokation gesehen.
Die Palästinenser*innen, die nach 1948 zu israelischen Staatsbürger*innen geworden waren, standen unter Schock und waren traumatisiert. Die Militärregierung, der sie unterstellt waren, ließ keinerlei Protest zu. Die palästinensischen Flüchtlinge hofften darauf, dass die arabischen Länder und die internationale Gemeinschaft sie dabei unterstützen würden, Gerechtigkeit zu erlangen. Aber wirkliche Unterstützung in diesem Sinne blieb aus.
Im Jahr 1951 verfügte das Oberste Gericht in einer berühmt gewordenen Entscheidung, dass die ehemaligen palästinensischen Bewohner*innen von Irqit und Bir'im (die israelische Staatsbürger*innen waren) in ihre Dörfer zurückkehren dürfen, wie es ihnen am Tag ihrer Vertreibung von der israelischen Armee versprochen worden war. Darüber hinaus fällte das Oberste Gericht zwei weitere Entscheidungen, die in der Öffentlichkeit allerdings weniger bekannt sind: Ebenfalls im Jahr 1951 erteilte das Gericht palästinensischen Flüchtlingen, die in Israel lebten und die israelische Staatsbürgerschaft besaßen, die Erlaubnis, in ihr Dorf Ghabisija in der Nähe von Naharija zurückzukehren. Und im Jahr 1952 gab das Oberste Gericht der Klage der vertriebenen palästinensischen Bewohner*innen von Dschalame, die in Israel lebten und ihr Rückkehrrecht eingeklagt hatten, statt. Aber die Mitglieder des Kibbuz Lehavot Haviva, der auf dem Land des Dorfes Dschalame errichtet worden war, sprengten daraufhin die Häuser des Dorfes und verhinderten so die Rückkehr. In allen vier Fällen wurde die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Dörfer dadurch verhindert, dass sich das Militär über die Entscheidungen des Obersten Gerichts hinwegsetzte (und die Dörfer zerstört wurden). Danach gab es keine weiteren Gerichtsentscheidungen dieser Art.
1952–1967: Marginalisierung und Vergessen
Mit der Zunahme des zeitlichen Abstands zu den historischen Ereignissen und der Intensivierung der Beschäftigung mit dem Aufbau des neu errichteten Staates, mit der Ansiedlung der Neuankömmlinge und der Verhinderung der Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge verschwand diese „naive“ Art und Weise, die Nakba offen anzusprechen. Ein deutliches Zeichen für diese Veränderung war die Tatsache, dass Flüchtlinge, die zurückzukehren versuchten, nun plötzlich als „Eindringlinge“ bezeichnet wurden. Im israelischen Diskurs waren sie nicht länger einheimische Menschen, die vertrieben worden waren und nun versuchten, nach Hause zurückzukehren, sondern fremde Eindringlinge: illegal und illegitim.[8] Zwischen den Vorstellungen davon, was ein „Flüchtling“ und was ein „Eindringling“ ist, liegen Welten: Ein Flüchtling ist jemand, der aus seiner Heimat vertrieben worden ist, er ist entwurzelt und ein geschlagenes, traumatisiertes Opfer, während ein Eindringling nicht von hier ist, er führt Böses im Schilde, ist ein Dieb und hat geografische Grenzen überschritten. Den Gegensatz brachte Marko Rosio in einem Interview 2007 auf den Punkt: Als einer der ersten Siedler in Kerem Ben-Zimra, einem Moschaw, dessen Mitglieder anfänglich in die Häuser der palästinensischen Flüchtlinge von Ras al-Ahmar eingezogen waren, hatte Rosio sein Dorf gegen die Palästinenser*innen mit der Waffe verteidigt und erklärte: „Sie versuchten zurückzukommen, um zu stehlen, was ihnen einst gehörte. Also haben wir sie erschossen.“[9] Später wurden aus den „eindringenden“ Palästinenser*innen „Fedajin“ – wodurch die Verwandlung abgeschlossen wurde: erst Flüchtling, dann illegaler Einwanderer, schließlich Terrorist.
Die Präsenz von Romanen im öffentlichen Raum, die offen beschrieben, was 1948 geschehen war, machte die Schaffung eines Narrativs erforderlich, das die Gräueltaten, die „unsere Jungs“ begangen hatten, rechtfertigte. Es war schwer für den jungen Staat, das Unrecht, das Israelis Palästinenser*innen angetan hatten, weiterhin direkt zu beschreiben ohne die Vermittlung eines Narrativs, das „unsere Seite“ unterstützte. So wurde die Nakba zu etwas, das nur „aus der palästinensischen Perspektive eine Katastrophe“ war, und es entstanden zwei Versionen der Geschichte: unsere und ihre, „die beide Resultat derselben Maßnahmen des jüdischen Staates sind, der systematisch darauf hinarbeitete, eine eindeutige Trennung zwischen Juden und Jüdinnen einerseits und Araber*innen andererseits zu schaffen, und diese Trennung als eine objektive Wahrheit zu postulieren, die nicht infrage gestellt werden kann“.[10]
Die Nakba wurde zu einem Teil des Narrativs, das versuchte, die Errichtung des jüdischen Staates nach dem Holocaust zu rechtfertigen. Dies führte zum ersten der Wir-hatten-keine-andere-Wahl-Argumente in der Geschichte des Staates: Wir hatten keine andere Wahl, als das zu tun, was wir im Jahr 1948 getan haben. Gleichzeitig setzte sich die Doktrin der „Reinheit der Waffen“ durch, der zufolge unsere Soldaten während des Krieges von 1948 keine Gräueltaten begangen hatten, und falls dies doch geschehen sein sollte, sei es die Ausnahme gewesen. Der Begriff der „Reinheit der Waffen“ war bereits in den 1940er Jahren in Bezug auf die Kämpfe des Jischuws geprägt worden. Er wurde in den 1950er Jahren wieder in Umlauf gebracht, um die Errichtung des jüdischen Staates und die damit einhergehende Entrechtung der meisten Palästinenser*innen zu rechtfertigen.
Nach dem Krieg standen die meisten palästinensischen Ortschaften noch in der Landschaft, sie waren verlassen, aber nicht zerstört. Die Behauptung, dass diese Ortschaften während des Krieges von 1948 zerstört worden sind, ist falsch. In Wahrheit wurden Hunderte von ihnen in einer planvollen konzentrierten Aktion, die der Staat in den Jahren zwischen 1965 und 1969 durchführte, dem Erdboden gleichgemacht – wie Aron Shai in seinem bemerkenswerten Aufsatz zeigt.[11] In den 1950er Jahren fanden die leerstehenden Dörfer noch eine bescheidene Erwähnung, weil sie in einer Reihe von Landkarten verzeichnet waren, die vom Survey of Israel, der staatlichen Vermessungsbehörde, herausgegeben wurden. Die britische Mandatsregierung hatte diese englisch beschrifteten Landkarten Israel hinterlassen, und deshalb waren dort die Ortschaften, die bis 1948 existierten, zu finden. Um klarzustellen, dass diese Ortschaften nun unbewohnt waren, setzten die israelischen Kartograf*innen den Vermerk „harus“ (hebräisch für: zerstört) in Lila unter den Namen eines jeden Ortes, dessen palästinensische Einwohner*innen vertrieben worden waren und nicht zurückkehren durften. Dies war das letzte Mal, dass die während der Nakba entvölkerten palästinensischen Ortschaften auf israelischen Karten auftauchten. Das Projekt ihrer systematischen Zerstörung in den 1960er Jahren kann rückblickend als eine Maßnahme verstanden werden, die darauf abzielte, die Differenz zwischen der Existenz dieser Ortschaften auf den Landkarten und ihres tatsächlichen Unbewohntseins zu beseitigen. Durch ihre Zerstörung wurde ihre Erwähnung auf den Landkarten überflüssig. Seither existieren sie nur noch als Chirbe („Ruinen“) auf Wanderkarten.
1967–1985: Das Verschwinden durch Expansion
Die von dem ehemaligen Stabschef Moshe Dayan und anderen erhobene Forderung nach einer „zweiten Runde“ (der Eroberung) erzeugte in Israel zunehmend Druck, der sich schließlich im Krieg von 1967 entlud. Ergebnis des Krieges war die größte territoriale Ausbreitung des Zionismus im Nahen Osten und die Vervierfachung des Gebiets unter israelischer Herrschaft. Die Westbank und der Gazastreifen, die Golanhöhen und die Sinai-Halbinsel wurden erobert. Die Palästinenser*innen in der Westbank und dem Gazastreifen wurden einer Militärregierung unterstellt, eine Viertelmillion von ihnen wurde zu Flüchtlingen, einige davon zum zweiten Mal (nachdem sie 1948 bereits zu Flüchtlingen geworden waren). Seither sind die Palästinenser*innen in der Westbank und dem Gazastreifen hauptsächlich damit beschäftigt, unter der militärischen Besatzung zu überleben.
Neben dem wirtschaftlichen Boom, der Arroganz und Euphorie, die auf den großen militärischen Sieg über die arabischen Legionen innerhalb von sechs Tagen in Israel folgten, kam es im Land zu einer Debatte darüber, ob Israel die eroberten palästinensischen Gebiete beherrschen und behalten sollte. Aus heutiger Sicht lässt sich argumentieren, dass diese Debatte niemals ernsthaft geführt worden ist und dass es in Wirklichkeit nie eine reale Chance für einen israelischen Rückzug aus den besetzten Gebieten der Westbank und des Gazastreifens gegeben hat. Aber unmittelbar nach dem Krieg schien es, als gäbe es wirklich eine Debatte zwischen den Befürworter*innen der israelischen Besiedlung der besetzten Gebiete und deren Gegner*innen. Auf jeden Fall war eine Diskussion über die Nakba in dieser Situation irrelevant, ja sogar anstößig.
Verständlich wird vor diesem Hintergrund allerdings die Debatte, die im Jahr 1978 um die Ausstrahlung der in den 1970er Jahren vom israelischen Fernsehen produzierten Verfilmung von S. Yizhars Roman „Chirbet Chisa“ geführt wurde. Sie gipfelte darin, dass das Erziehungsministerium die Ausstrahlung des Films untersagte. Aufgrund einer Entscheidung der israelischen Rundfunk- und Fernsehanstalt wurde der Film schließlich doch ein einziges Mal gesendet, bevor er für 20 Jahre im Archiv verschwand. Dass im einzigen israelischen Fernsehsender ein Film gezeigt wurde, der die Vertreibung von Palästinenser*innen aus ihrem Dorf im Jahr 1948 beschreibt, war für die Israelis in jener Zeit schwer erträglich.
Die enorme koloniale Expansion ließ das Bewusstsein um die Nakba in Israel restlos verschwinden. Die territoriale Expansion schuf neue geopolitische Konstellationen, in denen die Nakba und die Flüchtlinge, die auf ihre Rückkehr warteten, keinen Platz hatten. Im Zuge der neuen Eroberungen verschwanden die Eroberung und Vertreibungen von 1948 aus dem öffentlichen Bewusstsein. „Die Besatzung“ wurde zu einem Begriff, der sich ausschließlich auf die Expansion im Jahr 1967 bezieht – eine Sichtweise, die fast die gesamte israelische Linke bis heute akzeptiert. Die zionistische Linke spricht von 49 – bald 50 – Jahren der Besatzung, obwohl sie in Wirklichkeit fast 20 Jahre länger besteht. Die militärische Expansion und die Errichtung israelischer Siedlungen in der Westbank, die in den 1970er Jahren begann, schufen neue Konflikte und führten zur vollständigen Verdrängung der Nakba aus dem israelischen Bewusstsein.
1985–1993: Eine neue Geschichtsschreibung
Ende der 1980er Jahre prägte der Historiker Benny Morris den Begriff der „Neuen Historiker“, um seine eigene Arbeit und die seiner Kolleg*innen zu beschreiben, die die israelische Geschichtsschreibung über die Ereignisse des Krieges von 1948 und der Nakba weitgehend revidiert haben. Sein 1988 veröffentlichtes Buch „The Birth of the Palestinian Refugee Problem, 1947–1949“ („Die Entstehung des palästinensischen Flüchtlingsproblems, 1947–1949“) hat maßbeglich zur Freilegung des israelischen Narrativs beigetragen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Arbeit von Simcha Flapan, Avi Schlaim, Tom Segev und anderen zu erwähnen, die an die Öffentlichkeit brachten, was in Israel in Bezug auf 1948 verschwiegen wurde, nämlich das „palästinensische Narrativ“. Morris’ These – in einem Satz zusammengefasst – besagt, dass es 1948 keine Alternative zur Errichtung des jüdischen Staates gegeben hat, dass es aber die Palästinenser*innen waren, die den Preis für die unvermeidlichen Folgen zahlen mussten, und dass in der Tat unmoralische Gräueltaten auch von zionistischer Seite begangen worden sind.
Der Diskurs der Neuen Historiker*innen führte zu einer lebhaften Auseinandersetzung in israelischen akademischen Kreisen (und auch im Ausland) über ihre Ansätze und Thesen. Außerhalb akademischer Kreise wurde die Diskussion fast ausschließlich in der (links-)liberalen Tageszeitung Haaretz geführt, konnte darüber hinaus allerdings nicht in den israelischen Mainstream vordringen. In der israelischen Gesellschaft und Kultur blieb die Nakba nur am Rande präsent.
1993–2000: Das Wiederauftauchen des Verdrängten (des palästinensischen Flüchtlings)
Die Oslo-Abkommen waren ein schwerer Schlag für die palästinensischen Flüchtlinge. In den vom israelischen Premierminister Jitzchak Rabin und PLO-Chef Jassir Arafat unterzeichneten Abkommen wurde vereinbart, die Zwei-Staaten-Lösung zu verwirklichen, mit der Grünen Linie als Grenze. Die Verhandlungen zur Lösung der Flüchtlingsfrage wurden auf einen späteren Zeitpunkt verschoben.
Dies war für die Flüchtlinge inakzeptabel und folglich wurden mehrere Organisationen in der palästinensischen Diaspora gegründet, sowie Badil (arabisch für: Alternative/Ersatz, „Ressourcenzentrum für palästinensische Aufenthalts- und Flüchtlingsrechte“)[12] in Bethlehem und die Association for the Defense of the Rights of the Internally Displaced (ADRID – „Vereinigung zur Verteidigung der Rechte von B*innenvertriebenen/-flüchtlingen“) in Israel. ADRID hat die Frage der palästinensischen B*innenvertriebenen/-flüchtlinge (die im offiziellen hiesigen Sprachgebrauch als„anwesende Abwesende“ (present absentees) bezeichnet werden) in Israel politisiert. Bis zur Gründung der Organisation gedachten diese Menschen der Nakba meist im privaten Rahmen, im Kreise ihrer Familien und Gemeinden, oft in Form von Familienausflügen in die zerstörten Dörfer am israelischen Unabhängigkeitstag.
Im Jahr 1997 organisierte ADRID die erste „Rückkehr-Parade“ am israelischen Unabhängigkeitstag. Die Parade wurde zur Tradition und zum wichtigsten Ausdruckszeichen der Nakba in der israelischen Öffentlichkeit. Jedes Jahr marschieren an diesem Tag Tausende palästinensische Staatsbürger*innen Israels mit palästinensischen Fahnen in einer langen Parade und verlangen ihr Recht auf Rückkehr. Die Parade findet jedes Jahr in einem anderen Dorf statt, das Israel 1948 entvölkert und dann zerstört hat. Zur Zeit der Militärregierung war der israelische Unabhängigkeitstag der einzige Tag, an dem sich Palästinenser*innen in Israel frei bewegen durften und dafür keine Sondergenehmigung vom Militärgouverneur benötigten. Sie nutzten ihre beschränkte Freiheit dazu, ihre verlassenen und (später) zerstörten Dörfer zu besuchen. So entwickelte sich die Tradition, der Nakba am israelischen Unabhängigkeitstag zu gedenken. Die kontroverse Interpretation „Unabhängigkeit für sie, Nakba für uns“ kam erst später hinzu.
Die Parade wurde von Jahr zu Jahr größer, wodurch es für die israelischen Medien immer schwieriger wurde, sie weiterhin zu ignorieren. Das Gedenken an die Nakba am israelischen Unabhängigkeitstag hat die Debatte über das Thema noch weiter polarisiert. Im israelischen Mainstream ist die Nakba eine palästinensische Katastrophe, ein palästinensisches Narrativ, ein Teil der palästinensischen Geschichte. Auf der anderen Seite stehen wir Israelis und unsere Unabhängigkeit. Selbst innerhalb der israelischen Linken sehen die meisten die Nakba auch heute noch als eine Katastrophe, die nur ein Fünftel der israelischen Bevölkerung betrifft.
Im Jahr 1999 veröffentlichte das Van-Leer-Jerusalem-Institut eine Anthologie mit dem Titel „50 [Jahre] nach [19]48“. Die Nakba wird darin in einer in der hebräischen Fachliteratur noch nie dagewesenen Art und Ausführlichkeit behandelt. Neben vielen bislang verschwiegenen Aspekten, die in diesem dicken Buch zum Ausdruck kommen, wird die Nakba als ein zentrales Ereignis, als die „Stunde Null“[13] der Staatsgründung dargestellt.
Zu jener Zeit gab es auch zahlreiche politische und wissenschaftliche Konferenzen – zumeist im Ausland, aber auch in Israel –, die sich mit dem Thema des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge beschäftigten. In Israel geriet die Position, die dieses Recht negiert, dadurch nicht ins Wanken, aber die Stimmen aus dem Ausland waren deutlich zu hören.
2000–2011: „Die Nakba“ erhebt ihr Haupt
Der Ausbruch der Zweiten Intifada im Oktober 2000 markiert einen Tiefpunkt in den Beziehungen zwischen den jüdischen und den palästinensischen Bürger*innen Israels. Während der Solidaritätsdemonstrationen, die in Israel aus Protest gegen die Tötung von Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten, insbesondere am Tempelberg/Haram al-Scharif in Ost-Jerusalem und in der übrigen Westbank, stattfanden, wurden 13 palästinensische Staatsbürger[14] von den Sicherheitskräften erschossen. Die meisten jüdischen Israelis (einschließlich der israelischen Linken) akzeptierten die offizielle Version der Ereignisse, der zufolge die Demonstranten in Notwehr erschossen worden wären, weil die Sicherheitskräfte sich in unmittelbarer Lebensgefahr befunden hätten. Die meisten jüdischen Israelis, einschließlich derer, die mit palästinensischen Nachbar*innen in ihren Wohnvierteln leben, waren „tief enttäuscht“ über die Demonstrationen, die Straßen blockierten und ihren normalen Lebensrhythmus störten. An dieser Sichtweise änderte sich nichts – trotz der gegenteiligen Darstellung von palästinensischer Seite und trotz der drei Jahre später vorgelegten Ergebnisse einer von der Regierung eingesetzten Untersuchungskommission: Die von einem Richter des Obersten Gerichts, Theodore Or, geleitete Kommission kam zu dem Schluss, dass in keinem dieser Fälle eine unmittelbare Lebensgefahr für die Sicherheitskräfte bestanden hatte.
Im Unterschied zu dem Großteil der jüdischen Israelis wurde angesichts dieser Ereignisse aber Tausenden von ihnen klar, auf welcher zentralen Prämisse der jüdische Staat basiert: Araber*innen können darin per Definition keine vollen Staatsbürger*innen sein. Die Juden und Jüdinnen, die das verstanden, wandten sich daraufhin in einem gewissen Maß von der zionistischen Ideologie ab, die sie von klein auf als selbstverständlich betrachtet hatten. Seitdem haben etliche jüdische Israelis öffentlich und ohne sich zu schämen erklärt, dass sie nicht zionistisch oder sogar antizionistisch sind.[15]
In diese Zeit fällt auch die Gründung der ersten Organisation, die die Grundannahmen des jüdischen Staates mit dem Ziel infrage stellt, die Nakba ins Bewusstsein der Hebräisch sprechenden israelischen Gesellschaft zu bringen: Zochrot („Sich erinnern“,[16] gegründet 2002) fördert die Anerkennung der Nakba aufseiten jüdischer Israelis und unterstützt das Recht auf Rückkehr von palästinensischen Flüchtlingen.[17] Es war die erste Organisation dieser Art, die von Israelis gegründet wurde, die privilegierten gesellschaftlichen Schichten angehören (ehemalige Kibbuz-Mitglieder und Soldaten der israelischen Armee) und einen tiefen Wandel in ihrer Identität durchlaufen haben. Im Jahr 2002 hätte eine Google-Suche nach dem Wort Nakba (in Hebräisch) nur sehr wenige Ergebnisse erbracht.
Zunächst wurde Zochrot ignoriert. Als sich die Organisation zum Beispiel im Jahr 2004 mit der Forderung an den jüdischen Nationalfonds wandte, Gedenktafeln an den Standorten der 1967 eroberten (und dann zerstörten) palästinensischen Dörfer im Canada Park aufzustellen, erhielt sie umgehend einen ablehnenden Bescheid. Die Antwort war so schnell erfolgt, weil die Organisation noch unbekannt war und ihre Möglichkeiten, den israelischen Diskurs zu verändern, noch nicht eingeschätzt werden konnten. Das änderte sich, nachdem Zochrot in dieser Sache Klage beim Obersten Gericht eingereicht hatte und diese erfolgreich war. Anschließend wurde die Korrespondenz mit offiziellen Stellen viel langwieriger und komplizierter, weil die Möglichkeiten der Organisation, Veränderungen herbeizuführen, deutlich geworden waren.
Neben Zochrot schlossen sich Hunderte von jüdischen Israelis der Rückkehr-Parade an, und jedes Jahr wird eine der Reden mittlerweile auch auf Hebräisch gehalten. Zochrot ist es gelungen, den Diskurs über die Nakba in Israel zu verändern. Selbst die Gegner*innen der Organisation erkennen ihre Wirkungsmacht an. Die von Zochrot organisierten Führungen zu palästinensischen Dörfern, die während der Nakba entvölkert und dann zerstört worden sind, beeinflussten die öffentliche Wahrnehmung der Landschaft so nachhaltig, dass es unmöglich wurde, diese Dörfer auszulöschen oder sie als rein exotische Erscheinungen in der Landschaft stehen zu lassen. Im Jahr 2008 organisierte Zochrot die erste Konferenz über das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge in Tel Aviv. Professor Adi Ophir, ein Veteran der israelischen Linken und prominenter Philosoph, schrieb 2012, dass „der Beitrag, den Zochrot zur Veränderung des Diskurses und Bewusstseins in Bezug auf die Nakba geleistet hat, kaum zu überschätzen ist“.[18]
Während zu Beginn der Arbeit von Zochrot das Wort Nakba im Hebräischen kaum verwendet wurde, hat sich dies im Laufe der Zeit geändert. Zochrot unterstützte die Veröffentlichung einiger Romane, die die Nakba und die israelische Verantwortung für diese offen thematisieren und schließlich zu Bestsellern wurden, wie zum Beispiel Alon Hilus Roman „The House of Rajani/Dajani“ (2008) und Eschkol Nevos Roman „Vier Häuser und eine Sehnsucht“ (2004, dt. 2007). Außerdem veröffentlichte der Verlag Andalus Publishing im Jahr 2002 eine hebräische Übersetzung des wichtigen Romans des libanesischen Schriftstellers Elias Khoury über die Nakba „Bab al-Shams“ (1998, dt. „Das Tor zur Sonne“, 2004). Obwohl die hebräische Übersetzung kein Bestseller wurde, wurde sie vielfach und ausführlich besprochen.
2011–2016: Dank der Regierung im Zentrum der Aufmerksamkeit
Angesichts der Tatsache, dass die Diskussionen über die Nakba außer Kontrolle zu geraten schienen, beschloss die Regierung, dem durch ein neues Gesetz entgegenzusteuern. Der erste Entwurf des „Nakba-Gesetzes“ war so extrem, dass sich selbst Mitglieder des Likud, wie zum Beispiel Benny Begin, an den Protesten dagegen beteiligten. Im März 2011 wurde eine moderatere Version des Gesetzes verabschiedet,[19] doch verfolgt auch diese Fassung ohne Zweifel das Ziel, die Anerkennung der Nakba in Israel und die Auseinandersetzung mit ihr zu verhindern. Das Gesetz ist deutlich weniger weitreichend als ursprünglich geplant – ursprünglich sollte die Beschäftigung mit der Nakba strafrechtlich verfolgt werden. Nun droht Institutionen und Organisationen, die staatliche Gelder erhalten, der Entzug eines Teils dieser Gelder, falls sie am israelischen Unabhängigkeitstag der Nakba gedenken. Die abschreckende Wirkung ist eindeutig. Diese Absicht wurde umso klarer, als verschiedene Minister*innen, angeführt von Kulturministerin Miri Regev, dazu übergingen, den Gesetzestext sehr weit auszulegen, um Institutionen, die Veranstaltungen zum Gedenken an die Nakba in Israel unterstützen, organisieren oder ihre Räume dafür zur Verfügung stellen, mit dem kompletten Entzug staatlicher Gelder zu drohen.
Zur gleichen Zeit und abgestimmt auf das Gesetzgebungsverfahren startete die Organisation Im Tirtzu („Wenn Ihr wollt“)[20] eine Kampagne, die das Ziel verfolgte, die vollständige israelische Leugnung der Nakba wiederherzustellen. Sie veröffentlichte eine Broschüre mit dem Titel „Nakba Kharta“ („Nakba-Blödsinn“),[21] in der alle israelischen Argumente in Bezug auf die „Nakba-Lüge“ wieder auftauchen: Es wäre nicht dazu gekommen, wenn es 1948 keinen Krieg gegeben hätte, in dem alle Araber uns vertreiben wollten; das ist der Grund, warum sie den Preis dafür zahlen müssen. Außerdem bemühten sich die Autoren, die neue, revidierte Geschichtsschreibung zurückzuweisen.[22]
Die Mitglieder von Im Tirtzu begleiteten ihre Kampagne mit dem eingängigen Slogan „Wir haben die Nakba über Euch gebracht“,[23] womit sie paradoxerweise die israelische Verantwortung für die Katastrophe öffentlich zugeben.
Das Gesetz, die damit verbundene öffentliche Auseinandersetzung und die Kampagne von Im Tirtzu rückten das Thema Nakba ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Nakba wurde ein geläufiger Begriff in den hebräischen Medien. Politiker*innen und andere begannen, das Wort zu benutzen, um damit unterschiedlichste Katastrophen und Konfliktsituationen zu beschreiben. Amüsanterweise fand es sogar im Kontext von Ereignissen aus dem Bereich des Sports Verwendung: So war in einem Bericht des Nachrichtenportals Ynet zu sehen, dass ein Fan des Sportvereins Hapoel Tel Aviv am Tag, als die Ussischkin-Korbball-Arena des Vereins abgerissen wurde, sagte: „Heute ist Nakba-Tag für die Fans von Hapoel Tel Aviv.“ Bei einer anderen Gelegenheit beschrieb ein Kommentator in einer Sportsendung im Radio (103 FM) den Groll der Spieler eines Teams gegenüber ihrem Trainer als „Nakba im Umkleideraum“.
Spuren der Nakba werden auch in den Kämpfen der israelischen Mizrachim sichtbar, von denen viele in den ersten Jahren in leerstehenden palästinensischen Häusern untergebracht wurden, um zu verhindern, dass die ursprünglichen palästinensischen Bewohner*innen in diese zurückkehrten. Heutzutage, viele Jahrzehnte danach, wird diese Tatsache von der Folgegeneration anerkannt. Die gegenwärtigen Verhältnisse sind die, dass zum Beispiel Joni Jochanan in Lifta und Menasche Chalif in Givat Amal (das auf al-Dschammasin al-Gharbi errichtet wurde) gegen ihre eigene Enteignung durch den Staat und das Kapital kämpfen müssen. Sie halten in diesem Zusammenhang die Erinnerung an den Grund, aus dem sie dort leben, wo sie leben, lebendig.[24]
Wie sich aus der folgenden Grafik entnehmen lässt, gab es im Jahr 2011 einen sprunghaften Anstieg der Zahl der Ergebnisse bei der Google-Suche nach dem Wort Nakba auf Hebräisch. Die Trefferzahl stieg zwischen 1999 und 2010 kontinuierlich und ein sprunghafter Anstieg ist 2011 sowohl in Bezug auf die absolute Trefferzahl als auch im Vergleich zum Anstieg im Jahr 2010 zu verzeichnen. Vermutlich nimmt die Anzahl der Suchergebnisse für jedes Wort im Laufe der Jahre zu, weil das Internet stärker genutzt wird. Deshalb ist es interessant, die Trefferzahl für das Wort Nakba (in Hebräisch) zwischen 2011 und 2015 mit der Trefferzahl für die Kombination Nakba + Zochrot (in Hebräisch) im selben Zeitraum zu vergleichen. Die Anzahl der Suchergebnisse für diese Kombination ist seit dem Jahr 2000 ständig gestiegen und hat sich im Jahr 2011 mehr als verdoppelt, während sie zwischen 2011 und 2015 deutlich zurückgegangen ist. Dieser Rückgang bestärkt die These, dass es einen stetigen Anstieg in der Verwendung des Wortes Nakba im Hebräischen gibt, und das sogar nachdem der Hauptakteur, der sich um die Anerkennung der Nakba in der israelischen Gesellschaft bemüht, an Prominenz verloren hat.
Die Beschäftigung mit der Nakba hat in Israel zweifellos beträchtlich zugenommen. Aber es ist auch wichtig hervorzuheben, dass das Nakba-Gesetz Angst verbreitet hat. So haben etwa Lehrer*innen Angst, dass es ihrer Karriere schaden könnte, wenn sie sich mit dem Thema beschäftigen.
Eine von der Organisation De-Colonizer („Entkolonisierer“)[25] durchgeführte Umfrage unter 500 jüdischen Israelis kommt zu dem Ergebnis, dass die meisten von ihnen den Begriff Nakba mit etwas Negativem, mit einem Konflikt mit Palästinenser*innen verbinden. Ein solches Ergebnis wäre vor 15 Jahren noch undenkbar gewesen. Dennoch wissen die meisten jüdischen Israelis immer noch nicht, was dieser Begriff genau bedeutet.
Heute spiegelt der Begriff Nakba die Polarisierung der israelischen Gesellschaft und des öffentlichen Diskurses deutlich wider. Für die nicht zionistische Linke ist die Nakba zentral, um den israelisch-palästinensischen Konflikt zu verstehen und mögliche Lösungen zu finden. Gleichzeitig hat das Wissen um die Nakba zugenommen, die Informationen stehen zur Verfügung – und das macht sich zunehmend bemerkbar.
Andererseits tobt, angeführt von der israelischen Regierung, ein erbitterter Kampf, um solche Diskussionen so weit wie möglich zu unterdrücken. Paradoxerweise führen diese Versuche dazu, dass die Nakba eine brennende Frage bleibt, die nach Antworten verlangt. Sie ist eine offene Wunde, aus der ständig Eiter rinnt.
Jüdische Israelis, die die Auseinandersetzung mit der Nakba in Israel fördern wollen, stehen vor zwei Herausforderungen: Neben der Fortsetzung der Aktionen zur Anerkennung und zum Gedenken an die Nakba müssen sie sich zum einen an der Planung der Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge beteiligen, damit diese Aufgabe nicht nur auf die Palästinenser*innen abgewälzt wird; zum anderen müssen sie sich darum bemühen, jüdische Israelis darüber aufzuklären, was während der Nakba passiert ist und welche Konsequenzen sich daraus für die israelische Gesellschaft heute ergeben. Bis auf erste, vorbereitende Schritte, die getan sind, steht die Arbeit in beiden Bereichen noch ganz am Anfang.
Eitan Bronstein Aparicio ist seit fast 40 Jahren im Bereich der politischen Bildung tätig. Er hat Sozial- und Geisteswissenschaften an der Open University of Israel und Hermeneutik und Kulturwissenschaft an der Bar-Ilan-Universität studiert. Im Jahr 2002 gründete er die Organisation Zochrot, die darauf abzielt, die Anerkennung der Nakba und des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge unter Israelis zu fördern. Im Jahr 2015 gründete er zusammen mit Eléonore Merza das Forschungs- und Kunstlabor De-Colonizer („Entkolonisierer“).
(Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin)
Weiterführende Links
• Tomer Gardi, „Stein, Papier. Eine Spurensuche in Galiläa“, Rotpunktverlag, Zürich 2016
(„Am Anfang war ein Gerücht. Als Tomer Gardi erfährt, dass das neue Museum in seinem Kibbuz mit den Steinen eines 1948 zerstörten palästinensischen Dorfes errichtet worden sein soll, kann er es zunächst nicht glauben. Wie kann es sein, dass niemand davon weiß, niemand darüber spricht? Wer lebte dort in Hounin? Wo sind diese Menschen und ihre Nachfahren heute? Und wie konnte deren Schicksal so gründlich verdrängt werden? Tomer Gardi sucht Antworten. Er durchforstet die israelischen Archive, stellt die Menschen im Kibbuz zur Rede. Bewusst rennt er gegen die Mauern des kollektiven Schweigens und Vergessens an und hält seine Recherchen und Eindrücke fest. Entstanden ist eine ganz eigene Form der Annäherung an die Geschichte, ein Spiel mit den Grenzen zwischen Essay, Reportage und Prosa und ein eindrückliches Zeugnis von zivilem Ungehorsam.“)
• Morris, Benny: Israel’s Border Wars: Arab Infiltration, Israeli Retaliation, and the Countdown to the Suez War, 1949–1956. Clarendon Press, Oxford 1993.
• Morris, Benny: The Birth of the Palestinian Refugee Problem, 1947–1949. Cambridge University Press, Cambridge 1988, 2. Aufl. 2004.
• Pappé, Ilan: Die ethnische Säuberung Palästinas, Zweitausendeins Verlag, Frankfurt am Main 2007.
• Azoulay, Ariella: From Palestine to Israel: A Photographic Record of Destruction and State Formation, 1947–1950. Pluto Press 2011.
• Kadman, Noga: Erased from Space and Consciousness: Israel and the Depopulated Palestinian Villages of 1948. Indiana University Press 2015.
• Khalidi, Walid: Before their Diaspora: A Photographic History of the Palestinians 1876–1948 (1984), unter: http://btd.palestine-studies.org/content/digital-edition#/1/.
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Anmerkungen
[1] Hagana Archiv, 16017 (alte Katalogisierung: 15033 und 16019), Flugblatt des IDF Hauptquartiers an die Araber von Tira, Tamuz-Av 5708. Es ist bemerkenswert, dass in der von dem Hagana-Archiv zur Verfügung gestellten hebräischen Übersetzung der Begriff Nakba mit Shoah (Holocaust) übersetzt ist.
[2] Hever, Hannan (Hrsg.): Sag’s nicht an in Gath. Zochrot 2010. [Hebräisch]
[3] „Sag’s nicht an in Gath“ ist ein Bibelzitat (2. Samuel 1:20) und bedeutet so viel wie „Häng’s nicht an die große Glocke“ oder „Sprich’ nicht darüber“.
[4] Vgl. die Homepage der NGO unter: www.breakingthesilence.org.il/.
[5] Beispiele dafür finden sich im Museum der israelischen Armee in Manschije (einem zerstörten Stadtteil von Jaffa) und auf einer Tafel mit einer historischen Erklärung, die auf dem Uhrturm-Platz in Jaffa angebracht wurde.
[6] Benvenisti, Meron: Sacred Landscape: The Buried History of the Holy Land since 1948. University of California Press 2000.
[7] Pappé, Ilan: The Ethnic Cleansing of Palestine. One World, Oxford 2006.
[8] Morris, Benny: Israel’s Border Wars: Arab Infiltration, Israeli Retaliation, and the Countdown to the Suez War, 1949–1956. Clarendon Press, Oxford 1993.
[9] Marko Rosio in einem Interview, das Eitan Bronstein Aparicio und Esther Goldenberg im April 2007 mit ihm führten. Siehe auch Bronstein Aparicio, Eitan: Turning Israel into a state of “all its infiltrators”, in: +972, 20.12.2013, unter: http://972mag.com/turning-israel-into-a-state-of-all-its-infiltrators/84103/.
[10] Azoulay, Ariella: From Palestine to Israel: A Photographic Record of Destruction and State Formation, 1947–1950. Pluto Press 2011.
[11] Shai, Aron: The Fate of Abandoned Arab Villages in Israel, 1965–1969, in: History and Memory 18 (2006) 2, S. 86–106.
[12] Vgl. die englischsprachige Webseite der Organisation unter: www.badil.org/en/.
[13] Das ist der Titel der Einleitung von Adi Ophir, dem Herausgeber der Anthologie.
[14] Später stellte sich heraus, dass einer von ihnen kein israelischer Staatsbürger war; aber das war zur Zeit seiner Erschießung nicht bekannt (Anm. d. Übers.).
[15] Zum Beispiel der ehemalige Präsident der Knesset und Vorsitzender der Jewish Agency, Avraham („Avrum“) Burg. Vgl. Shavit, Ari: Burg: Defining Israel as a Jewish State Is the Key to Its End, in: Haaretz, 7.6.2007, unter: www.haaretz.com/news/burg-defining-israel-as-a-jewish-state-is-the-key-to-its-end-1.222491.
[16] Die gewählte Form ist weiblich, im Gegensatz zur grammatikalischen Regel (und mithin als Protest gegen die „herrschende Ordnung“), der zufolge der allgemeine Plural männlich ist, es sei denn, es handelt sich ausschließlich um Frauen (Anm. d. Übers.).
[17] Vgl. die Homepage der Organisation unter: zochrot.org/.
[18] Ophir, Adi: Regime change passes through its zero year: 1948, unter: http://zochrot.org/en/article/53780.
[19] Khoury, Jack/Lis, Jonathan: Knesset Passes Two Bills Slammed as Discriminatory by Rights Groups, in: Haaretz, 24.3.2011, unter: www.haaretz.com/knesset-passes-two-bills-slammed-as-discriminatory-by-rights-groups-1.351462.
[20] Der Name bezieht sich auf den berühmten Satz von Theodor Herzl: „Wenn Ihr wollt, ist es kein Traum.“ Die extrem rechte zionistische Organisation, der relativ junge Leute mit meist akademischer Ausbildung angehören, wurde 2006 gegründet, um „zionistische Werte“ zu fördern und gegen diejenigen vorzugehen, die sie als Feinde dieser Werte wahrnehmen. Bisher haben sich ihre Aktionen primär gegen Lehrinhalte und Dozent*innen an den Universitäten gerichtet sowie gegen Nichtregierungsorganisationen, insbesondere solche, die zum linkeren politischen Spektrum gehören und/oder sich mit Menschenrechten beschäftigen (Anm. d. Übers.).
[21] Deger, Allison: Im Tirtzu protests „nakba bullshit“ at Tel Aviv University, in: Mondoweiss 14.5.2013, unter: http://mondoweiss.net/2013/05/protests-bullshit-university/.
[22] Vgl. Yalin, Roi: Der Kampf der Nachhut gegen die Geschichte, Haoketz 15.5.2011 (Hebräisch), unter: www.haokets.org/2011/05/15/%D7%A7%D7%A8%D7%91-%D7%9E%D7%90%D7%A1%D7%A3-%D7%A0%D7%92%D7%93-%D7%94%D7%94%D7%99%D7%A1%D7%98%D7%95%D7%A8%D7%99%D7%94/.
[23] Zit. nach Zonszein, Mairav: Rightists disrupt Nakba ceremony at Tel Aviv University, in: +972 14.5.2012, unter: http://972mag.com/rightists-disrupt-nakba-ceremony-at-tel-aviv-university/45646/.
[24] Vgl. Jochanan, Joni: Sind wir Eindringlinge?, Haokets, 6.7.2012 (Hebräisch), unter www.haokets.org/2012/07/09/%D7%90%D7%A0%D7%97%D7%A0%D7%95-%D7%A4%D7%95%D7%9C%D7%A9%D7%99%D7%9D/.
[25] Vgl. die Homepage der Organisation unter: www.de-colonizer.org/.
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