Eine feministische Bewegung im Werden
Die Repolitisierung feministischer palästinensischer NGOs in Israel. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung bringt sechs führende feministische Organisationen zusammen, um eine Reflexion über die Herausforderungen und Hindernisse, mit denen die NGOs konfrontiert sind, zu ermöglichen.
Warum führen feministische palästinensische Organisationen in Israel nicht politische Kämpfe an, sondern ertrinken in bürokratischer Verwaltungsarbeit und fokussieren sich nur auf sehr spezielle Themen? Warum haben sich feministische Organisationen, die von politischen Aktivistinnen gegründet wurden und oft noch immer geleitet werden, von der politischen Bühne zurückgezogen? Wie kann es sein, dass sie die Massen mit einigen ihrer Ideen für sich gewinnen können, es ihnen aber auf der anderen Seite nicht gelingt, ausreichend Leute für einzelne Projekte zu mobilisieren?
In den vergangenen zwei Jahren hat das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Israel (RLS) ein Projekt durchgeführt, das wir intern «Repolitisierung von feministischen Organisationen» nennen. Während wir über potentielle Partnerorganisationen aus der palästinensischen Gesellschaft in Israel beraten haben, fiel uns auf: Die meisten aktiven feministischen Organisationen in dieser Gesellschaft passen zu der politischen und ideologischen Weltanschauung der RLS; die Frauen, die diese Organisationen leiten, sind alle progressive politische Aktivistinnen mit einer Vergangenheit in Parteien, in sozialen Kämpfen etc. Doch gleichzeitig konnten wir keine spezifischen Projekte dieser Organisationen finden, die wir als RLS direkt unterstützen konnten. Die Diskrepanz zwischen dem Diskurs und der Selbstwahrnehmung dieser inspirierenden Frauen und ihrer alltäglichen Arbeit war eklatant. Sie reden über Politik, bieten aber hauptsächlich staatlich finanzierte Dienstleistungen an; sie sind radikal in ihrer politischen Haltung, arbeiten aber mit Geldgeber*innen und Partner*innen aus dem Mainstream zusammen; sie sind auf jeder Demonstration und in jedem Kampf aktiv, aber das oft allein, unfähig ihren engsten Kreis (z.B. Mitarbeitende, Familienmitglieder, Freund*innen) zu mobilisieren; sie wollen die Welt verändern, aber beschäftigen sich nur mit sehr spezifischen Themen.
Wir hatten das Gefühl, dass sich die meisten dieser feministischen Organisationen nach zwei Jahrzehnten der Zusammenarbeit mit Geberorganisationen, deren Vorgaben sowie den entstandenen Abhängigkeiten weit von ihrer politischen Rolle entfernt und einen intensiven «NGOisierungsprozess» durchlaufen haben.
Unsere Partnerorganisationen in dem Projekt «Repolitisierung von feministischen Organisationen» gehören zu den ältesten feministischen Organisationen, die in der palästinensischen Gesellschaft in Israel agieren. Jede von ihnen fokussiert sich auf Frauenthemen, sowohl in der Bereitstellung von Dienstleistungen für unterprivilegierte Frauen als auch durch das Eintreten für sozialen und strukturellen Wandel. Diese Organisationen sind es gewohnt, in Zusammenschlüssen zu arbeiten, die sich um ein spezifisches Thema drehen (z.B. Bündnis für persönliche Statusangelegenheit, Bündnis zum Schreiben des alternativen CEDAW-Berichts[1], Bündnis zur Bekämpfung der Morde an Frauen) oder auch gemeinsam ad-hoc Aktivitäten zu organisieren, wie zum Beispiel am Internationalen Frauentag. Dennoch kamen wir nach mehreren Treffen mit den Organisationen zu dem Schluss, dass sie alle das Verständnis, einer Bewegung anzugehören, stärker verinnerlichen sowie die Rolle der feministischen Bewegung innerhalb der nationalen Bewegung verstehen müssten. Sie sind sehr damit beschäftigt, ihre Organisation am Laufen zu halten, sie springen von einer Koalition und einer Aktivität zur nächsten, aber es fehlt ihnen ein Raum, um gemeinsam auf einer politischeren Basis zu denken. Sie brauchen einen Ort, um über ihre jetzige und historische Rolle in der Gesellschaft zu reflektieren, damit sie klarer sehen können, was in Zukunft getan werden muss. Eine unserer Partnerinnen zitierte mit Blick auf die notwendige Rahmung der Aktivitäten der feministischen Organisationen den brasilianischen Pädagogen Paulo Freire: «Handlung ohne Reflexion ist schlechter Aktivismus, Reflexion ohne Handlung ist schlechter Verbalismus.»
Ein offener dialogischer Prozess mit den Direktorinnen der Organisationen hatte zu dem auf drei Jahre angesetzten Projekt geführt, in dessen Zentrum ein Raum und eine Möglichkeit für eine ehrliche feministische Reflexion über die Herausforderungen und Hindernisse, mit denen sich die NGOs konfrontiert sahen und sehen, stehen. Die RLS ermöglicht im Kontext dieses Projektes das gemeinsame Lernen und Reflektieren, indem es sechs führende feministische Organisationen zusammenbringt, während gleichzeitig jede von ihnen ähnliche interne Prozesse mit ihren Mitarbeiterinnen, dem Vorstand und den Freiwilligen durchführt.
Zwei Jahre sind vergangen und es scheint, als würde die Liste an diskussionswürdigen Themen immer länger werden. Jede Diskussion wirft neue Fragen auf und weist auf weitere Dilemmata hin. Wir haben das Thema Professionalisierung vs. Aktivismus als ein Hauptdiskussionsthema in den letzten sechs Monaten identifiziert. In Vorbereitung für den gemeinsamen Reflexions-Workshop haben alle Teilnehmerinnen akademische Texte über dieses Dilemma in anderen internationalen Kontexten gelesen (z.B. in postsozialistischen Ländern Ost-Europas sowie in Nord- und Südamerika). Das hat den Teilnehmerinnen geholfen, selbst einige Herausforderungen, mit denen sie sich konfrontiert sehen, zu artikulieren. Eine davon war die Angst vor der feministischen Neutralisierung: Die hierarchischen, professionellen und bürokratischen Strukturen von NGOs können feministische Prinzipien und Ziele wie Inklusion, Diversität, Zugänglichkeit und Kollektivität unterminieren. Um damit umgehen zu können, haben die verschiedenen NGOs eine Organisationskultur geschaffen, die diesen Trends entgegenwirken soll, zum Beispiel gemeinsame Entscheidungsmechanismen, Gehaltstabellen und eine offene, ehrliche Atmosphäre, um interne Kritik zuzulassen. Dennoch wurde sogar in dem Workshop deutlich, dass Hierarchie ein evidenter Faktor ist. Wir haben in unseren Sitzungen sichergestellt, dass jede Organisation von einer gemischten Gruppe repräsentiert wird, also von alten und neuen Mitarbeiterinnen und Vorstandsmitgliedern, zudem wurde eine Umgebung geschaffen, die jeder Teilnehmerin die Möglichkeit geben sollte, sich zu äußern. Beim Analysieren der Protokolle bleibt dennoch kein Zweifel: Die Direktorinnen, an der Spitze der Hierarchie, legen die Tagesordnung fest und leiten die Diskussionen. Die Mitarbeitenden halten sich zurück und stellen ihre Positionen nicht in Frage.
Ein weiteres Thema war die Befürchtung, feministische Organisationen würden zu einem «Arbeitsplatz» und dass Feminismus in dieser Konsequenz zu einem Job werde. Einige Leute waren besorgt, dass Frauen diesen Organisationen auf der Suche nach einem bezahlten Job beitreten, nicht aufgrund ihrer politischen Motivation. Eine allgemeine Kluft konnte in diesem Aspekt festgestellt werden: Die Generation der Gründerinnen sieht sich dem politischen Aktivismus absolut verpflichtet und hat Schwierigkeiten mit neuen Mitarbeiterinnen, die sich auf die Arbeitsstunden fokussieren und manchmal nicht willens sind, an nichtbezahlten Aktionen (wie z.B. Demonstrationen oder Beerdigungen von Gewaltopfern) teilzunehmen. Tatsächlich beschrieben aber die meisten Frauen die Organisationen, in denen sie arbeiten, als Schulen für Feminismus. Sogar Frauen, die nicht mit einer deutlich feministischen Perspektive an ihre Arbeit herangingen, schilderten, wie bedeutend und lebensverändernd der Prozess ist, den sie nach ihrer Einstellung durchlaufen haben.
Auch der Aspekt der impliziten oder expliziten Erwartungen der Geberorganisationen, die die NGOs dazu verleiten, bestimmte Projekte zu verfolgen, wurde besprochen. Diskutiert wurde zudem, dass die meisten Organisationen sich nur auf ein Thema oder eine enge Auswahl an Themen fokussieren können, anstatt eine breite feministische Plattform zu bieten. Damit verbunden sind die technischen Voraussetzungen, die die Geberorganisationen im Namen der Rechenschaftspflicht gegenüber den Frauenorganisationen äußern. Um mit diesen Forderungen umgehen zu können, mussten sich die NGOs Expertise in Antragentwicklung, Buchhaltung und Evaluationsprozeduren aneignen. Die Notwendigkeit, greifbare Ergebnisse zu definieren, wirkt sich auf die Auswahl der Bereiche und Arbeitsmethoden aus und erhöht die Arbeitsbelastung der Mitarbeiterinnen deutlich.
Ein weiterer negativer Aspekt in der Abhängigkeit von den Geldgebern ist der Konkurrenzkampf zwischen den Organisationen und ihr Überlebenskampf. In zu vielen Fällen haben sich feministische NGOs eher als Rival*innen denn als Partner*innen verhalten, jede von ihnen versuchte, ihre eigenen Errungenschaften und ihre Exklusivität hervorzuheben. Daraus folgte, dass Solidarität als Wert und Praxis beschädigt wird und verlorengeht. Mehrere Frauen haben Situationen beschrieben, in denen sie mit chauvinistischen und sexistischen gesellschaftlichen Kräften konfrontiert waren, die sie attackiert und heftig kritisiert haben, aber ihre Genossinnen aus der feministischen Bewegung standen nicht an ihrer Seite, um sie zu verteidigen. Überraschend war, wie oft das passiert ist und wie nötig diese Solidarität für jede dieser Frauen gewesen wäre.
Im Zentrum der gemeinsamen Treffen stand eine aktuelle Kampagne, die Fälle sexueller Belästigung aufdeckt. Die Kampagne, eine Art lokale Me Too-Version (oder Me Too Late, wie eine der Aktivistinnen es nannte), entlarvte zwei führende gesellschaftliche Figuren der palästinensischen Gesellschaft als Belästiger. Die Veröffentlichung der Aussagen, in denen die Personen benannt wurden, hält die palästinensische Zivilgesellschaft in Israel bereits seit einem halben Jahr in Aufruhr. Die zwei beschuldigten Männer (einer ist ein früheres Knesset-Mitglied, der andere Direktor einer großen Interessenvertretung) sind ein integraler Bestandteil des palästinensischen nationalen Befreiungskampfes und haben enge persönliche und professionelle Beziehungen zu den Frauen, die die feministischen NGOs führen. Der große Schock dieser Bekanntmachung machte das gesamte System unruhig. Es sind viele Fragen aufgetaucht, einige rütteln an feministischen Grundprinzipien: Welche Seite sagt die Wahrheit – die Frau, die ihre Aussage macht, oder der Mann, der alles abstreitet? Kann persönliche Bekanntschaft oder Freundschaft mit dem Beschuldigten ein Faktor in der Abwägung sein? Bedarf es einer tiefergehenden Untersuchung durch die Organisation, wenn sie einer solchen Aussage eine Plattform bietet und es zu einer «öffentlichen Anklage» kommt (oder nicht)? Sind «öffentliche Anklagen» eine legitime Praxis in einem Bereich, der in regulären Gerichtsverhandlungen so schlecht behandelt wird und bei derartig ungleichen Machtverhältnissen der beiden Parteien? Kann eine Organisation eine solche Kampagne durchziehen, ohne sich mit den anderen zu beraten und wenn sie es tut, kann sie Solidarität bei Angriffen durch die beschuldigten Männer und ihre vielen Freund*innen und Bewunderer*innen erwarten? Die meisten dieser Fragen sind einfach zu beantworten, wenn man sie vom spezifischen Kontext löst. Auf der theoretischen Ebene sind sich alle einig, aber jetzt stehen wir vor einer Prüfung: Was wird aus unseren theoretischen Überzeugungen, welche Kompromisse gehen wir unter den gegebenen Umständen ein, welchen Preis müssen wir bei unterschiedlichen Entscheidungen zahlen, wie werden wir unsere Unterschiede bewältigen, und können wir uns trotz der Meinungsverschiedenheiten immer noch als Partner*innen in einer Bewegung sehen, können wir zu unserem täglichen Geschäft zurückkehren und dieses schwierige Thema beiseitelegen?
Viele weitere Themen sind für die Fortführung des Projekts vorgemerkt, aber um relevant und politisch zu bleiben, müssen wir jede Sitzung auf der Reflexion der vorherigen aufbauen. Wir investieren eine Menge Zeit «hinter den Kulissen», was das Denken und Reden über jede Komponente des Projektes angeht. RLS-eigene Prinzipien werden durch dieses Projekt ständig getestet: Wir mussten alle geldgeberähnlichen Praktiken und Forderungen zurückstellen, wir müssen uns der Machtrelationen bewusst sein und sicherstellen, dass wir nicht die Probleme generieren oder verstärken, die dieses Projekt bekämpft. Schließlich sind wir selbst als linke internationale Organisation mit dem Thema der «NGOisierung» seit Jahren konfrontiert, aber wir haben auf viele Fragen und Dilemmata, die dies mit sich bringt, noch keine Antwort.
Wir wollen, dass unsere progressive Weltsicht mehr Einfluss bekommt, und es muss noch viel passieren, um dieses Ziel zu erreichen. Professionalisierung und einige Aspekte der «NGOisierung» linker NGOs haben auch eine positive Wirkung in der Verbreitung unserer Aussagen gegenüber einem größeren Publikum. Beispielsweise kann ein Frauenhaus, das von einer feministischen Organisation geführt wird, auch als Plattform zur Politisierung seiner Bewohnerinnen sowie der Verbreitung feministischer Ideen im System dienen. Um eine solche Zuflucht zu betreiben, muss die Organisation institutionalisiert genug sein, um die staatliche Finanzierung zu verwalten. Andererseits muss die Organisation sich des Effekts der Institutionalisierung bewusst sein, um sich etwas von ihrer radikalen feministischen und revolutionären Schärfe zu erhalten.
Im letzten Workshop hat eine Teilnehmerin, die erst kürzlich zu dem Projekt gestoßen ist, eine Anmerkung gemacht, die ich als Schlussargument nutzen möchte. Sie sagte: «Liege ich damit richtig, dass das langfristige Ziel dieses Projektes ist, uns von Individuen/NGOs/einzelnen Kämpfen in eine Bewegung zu verwandeln?». Tatsächlich ist die palästinensische feministische Bewegung, zumindest in Israel, immer noch im Werden. Wir hoffen, dass unser kleines Projekt helfen kann, Vertrauen und positive Interaktionen zwischen den feministischen NGOs aufzubauen.
Hana Amoury ist Projektmanagerin im Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung Israel in Tel Aviv.
Weiterführende Links
Schusswaffen in Israel. Realität, Politik und feministische Kritik
Interview mit der Sozialarbeiterin und Aktivistin Samah Saleime
„Jeder Polizist weiß, dass er mit uns alles machen kann“. Interview mit Tigist Mahari
Anmerkungen
[1] CEDAW ist das Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung von Frauen (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women) (Anm. der Redaktion).
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