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Dokumentiert: Der Entwurf des Nationalstaats­gesetzes

Der Knesset liegt ein Vorschlag für ein grundlegendes Gesetz vor: „Israel [ist] der Nationalstaat des jüdischen Volkes“. Als grundlegendes Gesetz hätte der Entwurf rechtlich Verfassungsstatus, was den Charakter des Staates neu definieren und den Obersten Gerichtshof sowie alle weiteren gerichtlichen Instanzen den Vorgaben dieses Gesetzes unterordnen würde. Der Gesetzesentwurf ist eine ernste Bedrohung für Demokratie, Menschenrechte (insbesondere die Rechte von Minderheiten) und die Gründung eines auf den Grenzen der Zeit vor dem Krieg von 1967 beruhenden, existenzfähigen palästinensischen Staates. Daher ruft das Mossawa-Zentrum die internationale Gemeinschaft dazu auf, sofort gegen die Verabschiedung des neuen grundlegenden Gesetzes vorzugehen.

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Protestdemo gegen den gesetzlich geforderten Treueschwur auf den israelischen Staat (Auf dem Schild in Hebräisch: "Gemeinsam verteidigen wir den demokratischen Raum"), Tel Aviv, 2010.Foto: Activestills

Wie aus dessen Bezeichnung ersichtlich, geht es im Gesetzesentwurf darum, den Staat Israel als Nationalstaat zu definieren, der einzig und allein dem jüdischen Volk vorbehalten ist. Im ersten Paragraphen heißt es: „Der Staat Israel ist die nationale Heimstätte des jüdischen Volkes; in ihm erfüllt sich das Bedürfnis des jüdischen Volkes nach Selbstbestimmung, entsprechend seinem historischen und kulturellen Erbe.“ Eine Zeile weiter heißt es, das Recht auf nationale Selbstbestimmung im Staat Israel sei, trotz der Anwesenheit anderer Gruppen mit „historischen und kulturellen“ Bindungen an das Territorium, „einzig dem jüdischen Volk vorbehalten“. Die Klausel steht im Widerspruch zu Artikel 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, den Israel unterzeichnet hat, und wo es heißt: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung.“

Obgleich die arabisch-palästinensische Minderheit mehr als zwanzig Prozent der israelischen Bevölkerung ausmacht, erwähnt der Gesetzesentwurf nicht ein einziges Mal die arabischen Bürger*innen Israels. In Artikel IV wird allerdings der Stellenwert der arabischen Sprache erwähnt. Arabisch ist seit der Gründung des israelischen Staates im Jahr 1948 eine der zwei offiziellen Landessprachen gewesen; dennoch droht mit dem Artikel IV die Herabstufung dieser Sprache.

In Artikel IX über die „Wahrung von Kultur, Erbe und Identität“, wird augenscheinlich versucht, die Rechte der nicht-jüdischen Minderheiten des Staates zu schützen. Dort heißt es: „Jeder Bürger Israels soll, unabhängig von Religion oder Nationalität, Anspruch haben auf die Wahrung von Kultur, Erbe, Sprache und Identität.“ Diese Formulierung entspricht jedoch nicht den Vorgaben des internationalen Rechts. Denn in der VN-Erklärung über die Rechte von Personen, die nationalen oder ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten angehören, heißt es: „Staaten haben innerhalb ihrer jeweiligen Territorien die Existenz sowie die nationale oder ethnische, kulturelle, religiöse und sprachliche Identität von Minderheiten zu schützen und sich für Bedingungen einzusetzen, die die Förderung dieser Identität begünstigen.“ Während das vorgeschlagene Nationalstaatsgesetz vom Staat verlangt, sich sowohl in Israel als auch im Ausland „für die Wahrung des kulturellen und historischen Erbes des jüdischen Volkes einzusetzen,“ wird der arabisch-palästinensischen Minderheit nichts Vergleichbares zugesagt. Somit werden Juden und Jüdinnen gegenüber arabischen Bürger*innen privilegiert.

Die zweite Bestimmung von Artikel IX besagt: „Der Staat kann es einer Gemeinschaft, einschließlich der Angehörigen einer einzelnen Religion oder der Mitglieder einer einzigen Nationalität, gestatten, unabhängige Gemeinschaftssiedlungen einzurichten.“ Der Gesetzesentwurf für einen jüdischen Nationalstaat würde also die auf den mehrdeutigen, oft rassistisch konnotierten Kategorien religiöser oder nationaler Zugehörigkeit beruhende Segregation legalisieren. Diese Bestimmung widerspricht demzufolge dem Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung.

In Artikel XIII heißt es: „Beschließt ein Gericht, eine Rechtsstreitigkeit lasse sich nicht anhand von bestehenden Gesetzen, Präzedenzfällen oder strengen juristischen Analogien beilegen, dann kann es seine Entscheidung in Einklang mit den Prinzipien der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Gleichheit und des Friedens treffen, wie sie sich aus dem jüdischen Zivilrecht ergeben.“ Das vorgeschlagene Nationalstaatsgesetz würde also die Bürger*innen Israels – unabhängig von deren Religion – zwingen, sich immer dann, wenn es keine gesetzliche Regelung oder Präzedenzfall gibt, dem aus der Thora abgeleiteten jüdischen Zivilrecht unterzuordnen.

Die erwähnten Artikel stellen den Höhepunkt eines Trends in der Gesetzgebung dar, der die jüdische Bevölkerung Israels wiederholt gegenüber den nicht-jüdischen Bürger*innen des Staates (in erster Linie palästinensische Araber*innen) privilegiert hat. Der Gesetzentwurf sieht sogar eine Privilegierung von Juden und Jüdinnen vor, die keine Bürger*innen des Staats Israel sind. Artikel V und VI sprechen „jedem Juden und jeder Jüdin“ das Recht zu, nach Israel einzuwandern und rufen den Staat zugleich dazu auf, eine solche Einwanderung durch „die Förderung jüdischer Siedlungen auf dem Staatsgebiet“ anzuregen. Diese Artikel sorgen nicht nur für eine systematische nationale, ethnische, religiöse und rassistische Diskriminierung in Einwanderungsfragen; sie sorgen auch für die (erneute) gesetzliche Verankerung einer langjährigen Staatspolitik, die den Interessen jüdischer Personen ohne israelische Staatsbürgerschaft den Vorrang gegenüber dem Wohlergehen nicht-jüdischer, arabisch-palästinensischer Bürger*innen gibt. Der Staat hat kein einziges neues Dorf und keine einzige neue Stadt für arabisch-palästinensische Bürger*innen Israels geschaffen, wodurch arabische Ortschaften heute extrem dicht besiedelt sind und an großer Wohnungsnot leiden. Anstatt diese Krise durch die Einrichtung und Erweiterung von Siedlungsgebieten für die arabischen Bürger*innen Israels anzugehen, verspricht der Gesetzesentwurf solche Leistungen nur jüdischen Menschen, die nicht israelische Staatsbürger*innen sind, und begünstigt deren Ansiedlung auf dem staatlichen „Territorium“. Eine Definition dieses Territoriums verweigert der Staat Israel wieder einmal.

Der Gesetzesentwurf stuft die nicht-jüdische, palästinensisch-arabische Minderheit eindeutig herab, indem er ihr den Status Staatsbürger*innen zweiter Klasse verleiht. Tatsächlich geht der Artikel IX soweit, Nicht-Juden bzw. Nicht-Jüdinnen als „Einwohner“ statt Staatsbürger*innen zu bezeichnen. Hinzu kommt: Das vorgeschlagene Nationalstaatsgesetz erwähnt mit keinem Wort die Frage der Gleichheit – womit es sich mit den bestehenden israelischen grundlegenden Gesetzen in Einklang befindet.

Der zweite Artikel behauptet zwar, es sei der Zweck des Gesetzentwurfs, die „Werte Israels als ein demokratischer jüdischer Staat im grundlegenden Gesetz zu verankern“. Dennoch wird die Demokratie in dem Gesetzesentwurf nicht einmal erwähnt. Es wird auch nicht erklärt, wie der Staat seine ethnische, religiöse Identität mit seinem angeblichen demokratischen Charakter in Einklang bringen kann. Dass dem jüdischen Recht bei Gesetzeslücken oder in Ermangelung von Präzedenzfällen der Vorrang gegeben und dass der jüdische Charakter des Staates in den Vordergrund gerückt wird, wirft die Frage auf, ob ein solcher ethnisch-religiöser Staat mit pluralistischer Demokratie vereinbar ist.

Übersetzt von Max Henninger, lingua•trans•fair

Weiterführende Links:

Partnertext Mossawa

• In englischer Sprache verfasstes Positionspapier

Schwerpunkt: Israelische Demokratie 2018

• Espanioly, Nabila: Eine Minderheit, die nicht mehr schweigt