Alternative text missing

Gewerkschaften in Israel: Die Geschichte der Haifa Chemicals

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die einst sozialistisch geprägte Wirtschaftsordnung in Israel in eine rein kapitalistische, in großen Teilen gar neoliberale, verwandelt. Die Geschichte des Konzerns Haifa Chemicals zeigt die Rolle der Gewerkschaften in diesem Prozess auf.

Die Geschichte von Haifa Chemicals ist auf das Engste mit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes verflochten. Sie steht für wissenschaftliche Innovationen, die die industrielle Entwicklung vorantreiben, für den Übergang von einer sozialistischen hin zu einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung, für die Privatisierung von erfolgreichen staatlichen Unternehmen, für den Kampf der Arbeiter*innen für ihre Rechte, für Abwägungen zwischen Umweltbelangen, Verteilungsgerechtigkeit und sozialstaatlichen Anliegen und für die Verflechtung von Kapital und politischer Macht. Anhand der Geschichte des Werks Haifa Chemicals und dessen Beschäftigten werde ich die israelische Wirtschaftsgeschichte nachzeichnen und insbesondere die Entwicklung der gewerkschaftlich organisierten Arbeit in Israel: von ihren optimistischen Anfängen über die Phasen ihres Niedergangs bis hin zur heutigen Situation, in der versucht wird, die Gewerkschaftsmacht wieder zu stärken.

Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre: Wachstum

Der Abschluss des Baus der Anlagen von Haifa Chemicals in der Bucht von Haifa im Norden Israels fiel in das Jahr 1966. Es war zunächst ein staatliches Unternehmen, gegründet auf der Grundlage von am Technion - Israel Institute of Technology in Haifa entwickeltem Know-how, das später zum weltweit größten Werk seiner Art zur Herstellung von Düngemitteln für die Landwirtschaft und von Chemikalien für die Lebensmittelindustrie und andere Industriezweige werden sollte. Es verarbeitete vor allem Kalisalz aus dem Toten Meer, Phosphate aus der Rotem-Ebene im Süden Israels sowie Ammoniak, das in der damaligen Zeit noch in Israel hergestellt wurde. Auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit, im Jahr 2017, beherrschte das Werk mit einem Anteil von zwei Dritteln an der Gesamtproduktion den globalen Düngemittelmarkt.

Die meisten derer, die in dem Werk arbeiteten, lebten selbst in der Bucht von Haifa. Im Jahr 1973 begann das Werk, Gewinne zu erzielen; im Jahr 1974 verdoppelte sich seine Produktionskapazität und bereits im Jahr 1978 wurden Aktien des Unternehmens an der Börse in Tel Aviv ausgegeben. Da Haifa Chemicals ein Staatsbetrieb war, waren die dort Arbeitenden alle in der Histadrut (Allgemeiner Verband der Arbeiter im Land Israel) organisiert. Die Histadrut war damals (und ist bis heute) die größte Gewerkschaft in Israel. Ihre Gründung geht auf die Initiative von jüdischen Einwander*innen der zweiten Alija[1], Europäer*innen mit einem meist ausgeprägten Klassenbewusstsein, zurück. Seit Beginn übernahm die Histadrut verschiedene Funktionen: Sie stellte einen wichtigen Teil der wirtschaftlichen Infrastruktur, vertrat Arbeitnehmer*inneninteressen und sorgte für Beschäftigung. In den ersten Jahren nach der Staatsgründung war die Histadrut der größte Arbeitgeber in Israel. Die Histadrut war bestrebt, in Israel eine egalitäre Gesellschaft von Arbeiter*innen zu schaffen. Daneben kümmerte sie sich um die Ansiedlung jüdischer Immigrant*innen sowie die Förderung der «hebräischen Arbeit» (was im Umkehrschluss den Ausschluss arabischer Arbeiter*innen bedeutete) und engagierte sich in den Bereichen Bildung, Kultur und Gesundheitsversorgung. Wer davon profitierte, waren insbesondere alle, die ein «rotes [Partei-]Buch» hatten, das heißt, Mitglieder von Mapai, der Partei die von 1948 bis 1977 die Regierung stellte und die in der Histadrut das Sagen hatte. Man könnte behaupten, dass sich die Histadrut um das wirtschaftliche Wohlergehen derer kümmerte, die aus ihrer Sicht auf der richtigen politischen Seite waren – das hieß, vor allem aschkenasische Jüdinnen und Juden, die dem Sozialismus anhingen.

Es ließe sich aber auch behaupten: Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Macht konnte sich Mapai die Unterstützung einer breiten Wählerschaft sichern, auch die Stimmen derjenigen, die nicht unbedingt sozialistische Überzeugungen hatten. Wie dem auch sei: Wichtig ist anzuerkennen, dass sich die Histradrut nicht nur durch die besonders idealistischen sozialistischen Vorstellungen ihrer Gründer*innen auszeichnete, sondern durch eine außergewöhnliche wirtschaftliche und politische Machtposition – was eine enge Verflechtung von Kapital und Regierung beförderte. Histadrut als der größte Arbeitgeber im Land und Mapai als langjährige Regierungspartei warben massiv Spenden von wohlhabenden Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt ein, die Geld gaben, um den Staat Israel und die benötigte Infrastruktur zu unterstützen. Mapai und Histadrut entschieden sich angesichts der Herausforderung, eine produktive Volkswirtschaft aufzubauen, am Ende für das bürgerliche Kapital und gegen Klassengleichheit, wie Zeev Sternhell in seinem Buch «The Founding Myths of Israel» gezeigt hat. Rafi Kamhi, Direktor des Programms Leadership der Akademie für soziale Ökonomie (SEA), weist darauf hin, dass das «Modell des sozialen Dialogs zwischen Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften, aus dem in Europa der Sozialstaat hervorging und das auf der politischen Macht aller Arbeitenden beruhte, in Israel zwar von der Histradrut übernommen wurde, aber mitnichten für alle in der Gesellschaft gleichermaßen galt.»

Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre: Privatisierung

Ab April 1980 gingen wesentliche Teile von Haifa Chemicals nach und nach in den Privatbesitz von israelischen und US-amerikanischen Konzernen über. Der israelische Staat verkaufte nicht nur das Know-how und die Produktionsmittel ins Ausland, sondern privatisierte auch die natürlichen Ressourcen, auf denen die Produktion des Werks beruht. Selbst in einer wirtschaftlichen Situation, die durch starke Konkurrenz und neoliberale Prinzipien geprägt ist, ist der Verkauf von seltenen einheimischen Rohstoffen und anderen Ressourcen an private Firmen ein schwerer Fehler – es sei denn, er geht mit strengen Auflagen und Regulierungen einher, was im Falle der neuen Eigentümer*innen von Haifa Chemicals nicht der Fall war. Obwohl im Laufe der Jahre der Börsenwert des Unternehmens beträchtlich gewachsen war und trotz öffentlicher Kritik, wurde die Privatisierung fortgesetzt, das Werk schließlich weit unter Wert verkauft. Laut Gerüchten aus Regierungskreisen zahlten die privaten Käufer*innen der Aktien für diese weniger als das, was das Unternehmen zu dieser Zeit an liquiden Mitteln besaß. Im Jahr 2008 wurde der Jahresumsatz des Unternehmens auf 900 Millionen US-Dollar geschätzt; seitdem gehört es der US-amerikanischen Trump Group, der Jules Trump vorsteht (der nicht mit dem gegenwärtigen US-amerikanischen Präsidenten verwandt ist).

Das Schicksal von Haifa Chemicals ähnelt dem vieler anderer israelischer Unternehmen und Fabriken, die zu einem ähnlichen Zeitpunkt gegründet wurden. Seit der Likud 1977 die Regierungsgeschäfte übernahm und die Mapai nach 30 Jahren an der Macht ablöste, war der gesamte ökonomische Sektor Deregulierungs- und Flexibilisierungsprozessen unterworfen, die darauf abzielten, ihn in eine wettbewerbsorientierte kapitalistische Wirtschaft zu verwandeln. Ähnliche Entwicklungen fanden auch anderswo auf der Welt statt, unter anderem in Großbritannien oder den USA unter der Führung von Margaret Thatcher bzw. Ronald Reagan. Im Zuge dieser Entwicklung erlebte die Histadrut ihren Bankrott – in ideologischer, organisatorischer und ökonomischer Hinsicht. Sie machte mit bei den Privatisierungswellen; viele ihrer Fabriken und Unternehmen wurden an private Firmen verkauft. Seitdem nahm die Macht des Kapitals gegenüber den Betriebsräten zu und der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Beschäftigten erreichte in Israel einen Tiefpunkt: Er sank von 80 auf 20 Prozent. Es folgten der Abbau von Stellen in staatlichen Unternehmen und Behörden sowie die Entlassung gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer*innen, die nach und nach durch Beschäftigte ersetzt wurden, für die keine Tarifverträge gelten – darunter im internationalen Vergleich ungewöhnlich viele Leiharbeiter*innen, die arbeitsrechtlich wesentlich schlechter geschützt sind.

Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre: zunehmende Verflechtung von Kapital und Regierung in der Bucht von Haifa

Laut dem Jahresberichts des staatlichen Rechnungshofes von 1989 «beanspruchen einige der Unternehmen, die mit gefährlichen Stoffen in der Bucht von Haifa arbeiten, […] Oil Refineries Ltd. (ORL), Gadot Biochemical Industries, Haifa Chemicals und die petrochemischen Werke, seit Jahren auf der Kommunalebene einen extraterritorialen Status. Ein solcher Status bedeutet, dass es praktisch unmöglich ist, planungs- und baurechtliche Auflagen und Vorschriften der Gewerbeaufsicht gegenüber diesen Unternehmen durchzusetzen.» Und obwohl Haifa Chemicals mehr als zwei Millionen Kubikmeter an giftigen Abwässern (Phosphor, Stickstoff, organischer Kohlenstoff, Chrom, Cadmium und Kupfer) in den Fluss Kischon, an dem das Werk liegt, geleitet hat, erhielt das Unternehmen vom Ministerium für Handel und Industrie eine Auszeichnung für seine hervorragenden Exportleistungen. Haifa Chemicals hat mit Berufung auf seine Extraterritorialität und die angeblich besondere Beschaffenheit des Geländes, auf dem sich das Werk befindet (dieses mache es schwierig, Umweltschutz- und Planungsauflagen umzusetzen), über Jahre hinweg systematisch das Ökosystem des Flusses Kischon zerstört. Bis zum Jahr 2001 wurde Haifa Chemicals zusammen mit anderen Unternehmen wie ORL darüber hinaus als Hauptverursacher der Schadstoffemissionen in die Luft in der Region von Haifa eingestuft. Zudem wurde 1989 in der Bucht von Haifa ein riesiger Tank für Ammoniak errichtet, der ausländischen Eigentümer*innen gehörte und in dem bis zu seiner Schließung das gesamte in Israel produzierte und von der hiesigen Industrie und Wirtschaft benötigte Ammoniak lagerte. Das heißt, die 12.000 Tonnen Ammoniak aus dem Tank verschärften noch weiter die katastrophale ökologische Situation in dem Gebiet von Haifa. Obwohl der Ammoniak-Tank weder eine Bau- noch eine Betriebsgenehmigung hatte, ließen die Behörden über Jahrzehnte seine Nutzung zu. Das Umweltministerium hat bewusst in Kauf genommen, dass aus dem Tank in all dieser Zeit Giftstoffe austraten. Eine Funktionsstörung, eine Naturkatastrophe oder ein Anschlag auf die Anlage hätten Schätzungen zufolge zum Tod von Tausenden Menschen führen können. Diese Gefahr hat 30 Jahre lang über dem meist trüben Himmel von Haifa geschwebt.

Alternative text missing
Blick auf die Bucht von Haifa. Foto: Wikipedia

Bereits in den 1980er Jahren erschienen erste Studien, die einen Zusammenhang zwischen der von den Industrieanalagen in der Haifa-Bucht verursachten Umweltverschmutzung und der ungewöhnlich hohen Morbiditäts- und Sterblichkeitsrate in der lokalen Bevölkerung nachwiesen, aber jahrzehntelang konnten Kritiker gegen das auf der Verflechtung von Kapital und Regierung beruhende Kartell des Schweigens nichts ausrichten. Die israelische Umweltbewegung hat das Ausmaß der ökologischen Katastrophale in der Bucht von Haifa schon länger erkannt. Die Coalition for Public Health, ein Zusammenschluss von 17 gemeinnützigen Organisationen und Vereinen, hat das Thema in den Mittelpunkt seiner Aktivitäten gestellt. Es gab Demonstrationen, vereinzelte Zeitungsberichte und Vorwürfe der Initiativen gegen die Behörden, diese würden Informationen zurückhalten und Vorfälle vertuschen, zum Beispiel durch ineffektive Überwachung, weniger strenge Richtlinien, die Ausübung von Druck auf Wissenschaftler*innen, die Verhinderung der Veröffentlichung von relevanten medizinischen Studien sowie die Beeinflussung der Berichterstattung in den Medien. In der Bucht ist die Zahl der Herz-, Leber-, Nieren-, Lungen-, Asthma- und Krebserkrankungen sowie von Fehlentwicklungen bei Föten und Kindern und damit verbundener Todesfälle höher als in anderen Teilen Israels – aber all dies wurde völlig verdrängt.

Die Verflechtung von Kapital und Staat hat sich in diesem Fall als äußerst stark und vielschichtig erwiesen. Es lassen sich enge Beziehungen zwischen den Minister*innen für Finanzen, Infrastruktur sowie Arbeit und Soziales, den Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses sowie vielen anderer Staatsbediensteten und den Eigentümern der Israel Corporation aufzeigen, zu deren Holdings die großen umweltverschmutzenden Industrieanlagen, einschließlich der Oil Refineries Ltd., gehören. Alle in der Bucht von Haifa angesiedelten Werke sind in den Genuss von Protektion seitens der Behörden gekommen. Viele hochrangige Mitarbeiter*innen des Finanzministeriums, des Zolls und der Steuerverwaltung fanden über den Drehtür-Effekt am Ende ihrer Amtszeit Anstellung in den umweltverschmutzenden Unternehmen. So wechselte die ehemalige Leiterin des Umweltministeriums, Nehama Ronen, später auf einen Direktorenposten bei Oil Refineries Ltd.[2] Rechtsanwalt Mosche Schachal, der unter anderem die Israel Corporation, Oil Refineries Ltd. (Bazan) und die Ofer Brothers Group vertreten hat, bekleidete zuvor verschiedene Regierungsämter, darunter Minister für Kommunikation, Minister für Energie und Infrastruktur und Polizeiminister.[3] Darüber hinaus erhielt die Israel Corporation im Jahr 2006 eine Auszeichnung, weil sie mit einer Spende an Krebs erkrankten Menschen Medikamente zur Verfügung gestellt hatte, die vom öffentlichen Gesundheitssystem nicht bezahlt werden.[4] Die Auszeichnung hatte ihr die Israel Cancer Association verliehen, die jahrelang den Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und erhöhten Krebsraten bestritten hatte und deren damaliger Präsident, der Geschäftsmann Benjamin («Benny») Gaon, CEO von Koor Industries war, einem der größten umweltbelastenden Unternehmen in der Bucht von Haifa. Eine Stellungnahme von Yona Yahav, dem Bürgermeister von Haifa, spiegelte die offizielle Sicht zu der Zeit treffend wider. Am 6. Juni 2012 versicherte er auf einer Stadtratssitzung zum Thema Luftverschmutzung in Haifa: «Die Luft, die die Bewohner von Haifa einatmen, ist sauber.

Erst im April 2015 erkannte das Gesundheitsministerium den Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und erhöhter Morbidität in Haifa an. Das Umweltministerium, das später in Ministerium für Umweltschutz umbenannt wurde, erklärte die Bucht von Haifa zu einem «kontaminierten Gebiet». Fünf Monate später äußerte sich auch die israelische Regierung dazu und sprach von einer außergewöhnlich hohen Luftverschmutzung in der Region und besorgniserregend hohen Erkrankungsraten. Zu Beginn des Jahres 2019 schließlich erfuhr die diesen Gesundheitsgefahren seit Jahrzehnten ausgesetzte Bevölkerung von Haifa, etwa eine halbe Million Menschen, von dem Plan der Regierung, die Industrieanlagen aus der Haifa-Bucht zu entfernen und den Boden und das Grundwasser gründlich zu reinigen. Das Vorhaben soll bis 2032 umgesetzt werden.

Die 1990er und frühen 2000er Jahre: ein historischer Streik

Im Jahr 1994 wurde das Werk Haifa Chemicals-Süd in der Rotem-Ebene in der Nähe der Stadt Arad im Süden Israels trotz Einwände des damaligen obersten Rechnungsprüfers mit staatlicher Unterstützung errichtet. Fehlende gewerkschaftliche Organisierung und der Mangel an Arbeitsplätzen im Süden des Landes erlaubten den Betreibern, den Beschäftigten miserable Bedingungen aufzuzwingen. Das wollte sich auch die Geschäftsleitung des Mutterwerks Haifa Chemicals-Nord zunutze machen. Sie drängte darauf, den dort gültigen Tarifvertrag aufzukündigen. Darauf bot die Belegschaft an, das Werk zu kaufen, ihr Angebot wurde jedoch abgelehnt. Als die Beschäftigten sich zu Warnstreiks entschlossen, schickte die Werksleitung daraufhin die meisten von ihnen in Zwangsurlaub. Im November 1996 begannen die Arbeiter*innen einen Streik, der fast ein halbes Jahr anhielt. Es stand damals viel auf dem Spiel. Viele erwarteten, dass das Ergebnis dieses Arbeitskampfs das Kräfteverhältnis zwischen Arbeiter*innen/Gewerkschaften und Arbeitgeber*innen nicht nur in diesem Werk, sondern in der gesamten israelischen Wirtschaft verändern würde. Dies drückte sich auch in der Entwicklung des Arbeitskampfs aus. Das Management griff zu extremen Maßnahmen gegen die Streikenden. Dazu zählte die Aufwiegelung der Öffentlichkeit gegen die Streikenden und das Anheuern von Schlägertrupps, die die Streikenden angriffen. Druck wurde auch über eine arbeitsgerichtliche Verfügung ausgeübt, die von den Streikenden die Entfernung ihres Protestzelts vom Werksgelände verlangte. Die Streikenden gaben jedoch nicht nach. Sie arbeiteten mit anderen Betriebsräten zusammen, auch im Süden des Landes. Sie blockierten den Zugang zu Haifa Chemicals-Süd, um die Produktion dort zu stoppen und somit zu verhindern, dass das Werk im Süden die Verluste des Hauptwerks im Norden ausglich. Der Industriellenverband ließ dem Unternehmen finanzielle Unterstützung zukommen, damit dieses die durch den Streik verursachten Verluste tragen konnte.

Es gibt Einschätzungen, wonach Arie Genger, der damalige Chef von Haifa Chemicals-Nord und enger Freund des damaligen Ministers für Industrie, Handel und Arbeit, Ariel Sharon, kurz davor war nachzugeben. Vermutlich wäre der Arbeitskampf auch anders ausgegangen, wenn sich die Histadrut damals dazu hätte durchringen können, den Streik auf andere Unternehmen auszuweiten, die im Industriellenverband zusammengeschlossen waren. Aber die Histadrut erwies sich als schwach und entschied sich dagegen. Weil in dem Histadrut-Gremium, das für die streikenden Arbeiter*innen von Haifa Chemicals die Verhandlungen führte, die Betriebsräte nicht vertreten waren, konnte die Histadrut eine schließlich vom Management des Werks vorgeschlagene Vereinbarung als «alternativlos» präsentieren. Die Histadrut akzeptierte dieses Angebot im Namen der Streikenden und riet ihnen, es sofort zu unterschreiben, um Einfluss auf darin enthaltene Regelungen zu nehmen. Es hieß: jetzt oder nie. Und so zwang eine Geschäftsleitung zum ersten Mal in der Geschichte Israels Beschäftigten ein Abkommen auf, das zwischen verschiedenen Kategorien von Arbeiter*innen unterscheidet. Bei dieser Methode des teile und herrsche verschlechtern sich die Beschäftigungsbedingungen der alten Belegschaft (der «ersten Generation») nicht, in der Annahme, dass sie mit der Zeit immer kleiner wird, bis sie irgendwann ganz verschwindet. Im Gegensatz dazu werden neu Eingestellte (die «zweite Generation») zu schlechteren Bedingungen beschäftigt. Zudem wird deren Stellung durch die Ausweitung der Leiharbeit, die im Jahr 1996 eine gesetzliche Grundlage erhielt, noch weiter untergraben. Diese Generationen-Modell wurde von vielen Betrieben übernommen und schuf in Israel eine Schicht von erwerbstätigen Armen («working poor»).

Massive Machtkämpfe und Streiks zeichneten die gesamte israelische Wirtschaft in jenen Jahren aus. Die Oslo-Abkommen führten zur wirtschaftlichen Eroberung der Westbank und versorgten die israelische Wirtschaft mit billigen Arbeitskräften. Der Mord an Rabin schwächte die israelische Linke beträchtlich. Nach der Privatisierung ihrer Unternehmen wurde die Histadrut zu einer neuen Organisation umgebaut, die sich auf den Schutz von Arbeitnehmer*innenrechten konzentrieren sollte. In diesen kritischen Jahren, von 1995 bis 2006, war der aus dem peripheren Städtchen Sderot stammende Mizrachi Amir Peretz Vorsitzender der Histadrut. Die traditionell aschkenasische Führung der Histadrut bemühte sich damals, auch Menschen aus gesellschaftlichen «Randgruppen» (Bewohner*innen dünn besiedelter Gebiete, Ultraorthodoxe, Mitglieder der palästinensischen Minderheit und Mizrachim) in ihre Reihen zu rekrutieren. Allerdings war ihre Reichweite mittlerweile gering, und sie bemühte sich auch nicht, den Kreis der gewerkschaftlich Organisierten zu vergrößern. Vielmehr konzentrierte sie sich darauf, die guten Arbeitskonditionen der alten Mitglieder zu erhalten – wie im Fall von Haifa Chemicals-Nord.

Im Jahr 2003 wurde Benjamin Netanjahu zum Finanzminister ernannt und leitete eine umfassende Wirtschaftsreform ein, mit der eine Privatisierung der meisten staatlichen Unternehmen einherging sowie eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen der im öffentlichen Dienst Beschäftigten (auf kommunaler und nationaler Ebene), erst eine Verstaatlichung und dann Privatisierung der Pensionsfonds der Histadrut sowie eine Kürzung sozialer Leistungen. Netanjahu erklärte die Histadrut und die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft zum «Feind». Der Vorsitzende der Histadrut, Peretz, reagierte mit Streikandrohungen. Daraufhin kam es in den israelischen Häfen tatsächlich zu einem zweimonatigen Streik, dem längsten seiner Art in der israelischen Geschichte, sowie zu einem Generalstreik. Aber nach zwei Jahren waren unter anderen die Discount Bank, die 1983 infolge der Bankenkrise verstaatlicht worden war, das für die Telekomunikation in Israel zuständige staatliche Unternehmen Bezeq, die Ölraffinerien, die Containerschiffreederei Zim und die staatliche Fluggesellschaft El Al privatisiert. Nur eine relativ kleine Gruppe von älteren Arbeitnehmer*innen, die noch alte Verträge hatten, konnte von den Aktivitäten der Histadrut und ihrem Vorsitzenden Peretz profitieren. Das Nachsehen hatten die große Mehrheit der Lohnabhängigen und die auf Sozialleistungen Angewiesenen.

Die 2000er Jahre: ein historischer Sommer

«Als klar war, dass die Histadrut zu schwach war, um den gewerkschaftlichen Organisationsgrad in Israel zu erhöhen und um das bisher Erreichte zu verteidigen, wurde [im Jahr 2007] Koach La-Ovdim («Alle Macht den Arbeitern») gegründet, eine Gewerkschaft, deren demokratische Struktur dem skandinavischen Gewerkschaftsmodell ähnelt (mit einigen Modifikationen, um dem israelischen Arbeitsrecht zu entsprechen)», sagt Rafi Kamhi, der dem Betriebsrat der streikenden Arbeiter*innen von Haifa Chemicals-Nord als Koordinator der Zentrale-Nord von Koach La-Ovdim zur Seite stand. Koach La-Ovdim ist ein Gewerkschaftsbund, der die gewerkschaftliche Organisierung in Israel stärken und ausbauen will. Er hat eine kollektive Führung, die alle zwei Jahre in demokratischen Wahlen gewählt wird. Die Mitglieder, das heißt Beschäftigte und Betriebsräte, bestimmen Delegierte, die in der sogenannten Repräsentantenversammlung (dem «Parlament» der Organisation) zum Beispiel darüber entscheiden, wie mit Arbeitskonflikten umgegangen wird. Das reicht von der Erklärung eines Arbeitskonflikts über die Entscheidung, zu streiken oder einen Streik zu beenden, bis hin zur Annahme oder Ablehnung der Bedingungen eines Tarifvertrags. Heute hat Koach La-Ovdim zirka 22.000 Mitglieder und vertritt die Interessen von mehr als 30.000 Beschäftigten.

Die Gründung einer zweiten großen Gewerkschaftsorganisation veranlasste die Histadrut, neue Initiativen zu ergreifen und sich um neue Mitglieder zu bemühen, wodurch der Kreis der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter*innen erweitert wurde. «Es ist bemerkenswert», fügt Kamhi hinzu, «dass sich ab Mitte der 1980er Jahre, als in Israel ein neoliberales Wirtschaftsmodell eingeführt wurde, in der israelischen Arbeiterklasse ein beschleunigter Flexibilisierungsprozess vollzog. Dieser hatte einen starken Rückgang des Anteils der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten und der Beschäftigten, die von Tarifverträgen abgedeckt sind, zur Folge. Die Transformation der israelischen Arbeiterklasse von einer sehr gut organisierten und geschützten (zu Beginn der 1980er Jahre waren um die 80 Prozent aller Arbeiter*innen Gewerkschaftsmitglied) hin zu einer unter Prekarisierung leidenden erreichte im Jahr 2011 ihren Höhepunkt, als nur etwa ein Viertel aller Lohnabhängigen organisiert und nur etwa ein Drittel von ihnen von Tarifverträgen erfasst waren. Mit dem Auftauchen von Koach La-Ovdim zeichnete sich eine Trendwende ab: Ab 2008 begannen sich vor allem junge und gut ausgebildete Menschen verschiedenster Berufszweige, vornehmlich aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, gewerkschaftlich zu organisieren, um die fortschreitende Erosion ihrer Löhne und Arbeitsbedingungen einzudämmen und sich Arbeitsplatzsicherheit und einen menschenwürdigen Lebensunterhalt zu sichern. Prekär Beschäftigte in privatisierten Sozialdiensten, Versicherungs-, Finanz-, Telekommunikations- und Hightech-Unternehmen sowie in der Industrie und der Energiewirtschaft organisierten zum ersten Mal Betriebsräte an ihrem Arbeitsplatz und lösten damit eine große Welle gewerkschaftlicher Organisierung aus. Nach Angaben des israelischen Statistikamts stieg die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer*innen in Israel um zirka 200.000 Menschen an, sodass ihr Anteil im Jahr 2016 bei zirka 27 Prozent lag. Koach La-Ovdim vertritt inzwischen ganz verschiedene Beschäftigtengruppen: zum Beispiel in kommunalen Verkehrsbetrieben arbeitende Busfahrer*innen, an öffentlichen Hochschulen arbeitende Akademiker*innen sowie in privatisierten Sozial- und Bildungsdiensten Beschäftigte wie etwa Lehrer*innen im HILA-Programm [ein Bildungsprogramm für Jugendliche, die aus dem regulären Schulbetrieb ausgeschlossen wurden].»

Im Jahr 2011, als der Betriebsrat von Haifa Chemicals-Nord davon erfuhr, dass die Histadrut beabsichtigte, einen Tarifvertrag zu unterzeichnen, der erneut die Beschäftigungsbedingungen verschlechtert hätte, entschloss er sich zu einem drastischen Schritt. «An einem Abend kündigten mehr als 90 Prozent der im Werk Arbeitenden ihre Mitgliedschaft in der Histadrut und traten gemeinsam Koach La-Ovdim bei. Trotz der Versuche, die Rechtmäßigkeit dieses Wechsels infrage zu stellen, musste der damalige Vorsitzende der Histadrut, Ofer Eini, akzeptieren, dass fortan Koach La-Ovdim den Betriebsrat des Werks vertritt. Unmittelbar nach dem Wechsel begannen die Verhandlungen, was zu einem weiteren historischen Streik führte», erzählt Kamhi. Wie sein Vorgänger währte der Streik ein halbes Jahr, symbolischer Weise begann er am 1. Mai. Auch in diesem Fall führte der Streik am Ende zur Unterzeichnung einer Vereinbarung, die zum Präzedenzfall für das System der Arbeitsbeziehungen in Israel wurde. Doch diesmal ging diese in eine komplett andere Richtung.

Als Koach La-Oved seine Arbeit aufnahm, gab es vier Kategorien von Beschäftigten im Werk: Das Management, Ingenieur*innen sowie das Personal in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung hatten individuelle Arbeitsverträge. Zirka 250 in der Produktion Beschäftigte arbeiteten auf der Grundlage eines Tarifvertrages, den die Histadrut im Jahr 1996 unterschrieben hatte. Etwa 100 davon zählten zur sogenannten ersten Generation, etwa 150 zur zweiten Generation der Belegschaft. Außerdem gab es eine große Gruppe von rund 150 Leiharbeiter*innen, die Produkte verpackten sowie Wartungs-, Reinigungs- und andere Arbeiten ausführten.

«Es ist wichtig hervorzuheben», betont Kamhi, «dass die relativ geringe Anzahl der in der Produktion Beschäftigten und ihre relativ hohe durchschnittliche Produktivität wesentlich zur riesigen Gewinnspanne des Werks beitragen.» Der Betriebsrat und Koach La-Ovdim hatten sich zum Ziel gesetzt, die Beschäftigungsbedingungen der zweiten Generation an die der ersten Generation anzugleichen und die Anzahl der Leiharbeiter*innen zu verringern. Die erste Generation stand ihren Kolleg*innen bei und unterstützte sie in ihrem Kampf. Nachdem die Arbeiter*innen das Werk unter ihre Kontrolle gebracht hatten, verschanzten sie sich dort, um den Einsatz von Streikbrecher*innen zu verhindern.

Das Management des Werks, das Jules Trump (der Benjamin Netanjahu nahesteht) gehört, ging mit Gewalt und Brutalität gegen den Streik vor. Es übte Druck auf die erste Generation der Belegschaft aus, drohte mit Entlassungen, stellte die Glaubwürdigkeit von Koach La-Oved infrage, versuchte die Arbeiterschaft zu spalten und sogar zum Wechsel in die Histadrut zu bewegen – aber die Streikenden blieben standhaft. Und diese Solidarität führte zum Erfolg. Am 1. November 2011 wurde eine Vereinbarung unterzeichnet, die für die nächsten fünf Jahre eine Lohnerhöhung für alle Angehörigen der zweiten Generation der Belegschaft in Höhe von 25 Prozent sowie wesentliche Verbesserungen der Sozialleistungen und Arbeitsbedingungen garantierte und damit eine schrittweise Gleichstellung mit ihren Kolleg*innen aus der ersten Generation.

Es sollte erwähnt werden, dass sich im Sommer jenes Jahres, im Sommer 2011, noch etwas anderes Beeindruckendes in Israel ereignete. Die größte soziale Protestbewegung in Israels Geschichte hatte sich Solidarität auf ihre Fahnen geschrieben. Eine soziale Revolution zeichnete sich ab, als sich den Tausenden, die in der teuersten Allee [Rothschild-Boulevard] der teuersten Stadt Israels, Tel Aviv, ihre Protestzelte aufgeschlagen hatten, Hundertausende anschlossen, die an den Wochenenden durch die Stadt zogen und soziale Gerechtigkeit forderten. «Gewerkschaften, wenn sie sehr stark sind und breite Unterstützung auf der politischen Ebene haben,» sagt Kamhi, «können nicht nur für höhere Löhne sorgen, sondern auch die sozialstaatlichen Leistungen und Dienste verbessern, zum Beispiel für eine gebührenfreies Bildungswesen, ein ausgebautes öffentliches Nahverkehrssystem, eine gute öffentliche medizinische Versorgung und verlängerten Mutterschaftsurlaub eintreten. All dies führt zu einem besseren Lebensstandard. Wenn es Sozialwohnungen gibt, deren Miete nur 20 und nicht länger 50 Prozent und mitunter noch mehr des Einkommens ausmacht, und Bildung und öffentlicher Verkehr kostenlos sind, haben die Menschen mehr Kaufkraft, was die Wirtschaft ankurbelt. Wenn man sich die Aufrufe der damals Protestierenden betrachtet, dann sieht man, dass sie sich mit all diesen und weiteren Fragen befasst hatten. Trotzdem kam es zu keiner effektiven Zusammenarbeit zwischen dieser sozialen Bewegung und Histadrut, der größten Gewerkschaft in Israel, die damals immer noch über eine gewisse politische Macht verfügte. Dadurch und durch die Entscheidung von Histradut, sich nicht den Sozialprotesten anzuschließen oder mit einem Generalstreik die Wirtschaft lahmzulegen, wurde eine sich selten ergebene riesige Chance vertan.»

Als sich die erste Euphorie legte, stellte sich heraus, dass doch keine Revolution stattgefunden hatte. Es wurden zwar Regierungs- und öffentliche Ausschüsse eingesetzt, um sich mit den hohen Lebenshaltungskosten in Israel und der Wettbewerbsförderung in der Wirtschaft zu befassen. Man beschäftigte sich wieder stärker mit nicht auf Privateigentum basierenden Wirtschaftsmodellen und gründete neue Genossenschaften. Und obwohl einige Vertreter*innen der Protestbewegung in die Knesset gewählt wurden, blieb die neoliberale rechte Regierung an der Macht. Die Protestbewegung hat kaum etwas erreicht.

Alternative text missing
Protest von Umweltaktivist*innen gegen den Ammoniak-Tank, Haifa 2016. Foto: Zalul

Zufälligerweise oder auch nicht gewann eine andere Entwicklung in diesen Jahren an Schwung. Es gelang den Umweltorganisationen in Haifa endlich, mit ihrem Kampf in das öffentliche Bewusstsein vorzudringen und so eine breitere Öffentlichkeit zu mobilisieren – fast zwei Jahrzehnte, nachdem sie ihren Kampf gegen die großen Gefahren, die von dem Ammoniak-Tank in der Bucht von Haifa ausgehen, begonnen hatten.

Im Sommer 2006 waren die Stadt Haifa und ihre Umgebung während des zweiten Libanonkriegs Angriffen von Langstreckenraketen ausgesetzt. Das gefährdete das Leben von Hunderttausenden von Menschen und insbesondere die 12.000 Tonnen Ammoniak in der Tankanlage und auf den Schiffen, die das inzwischen aus anderen Ländern importierte Ammoniak dorthin transportierten. Im Jahr 2011 erhielt die Zalul Environmental Association in dem von ihr angeführten Kampf für die Schließung des von Haifa Chemicals betriebenen Ammoniaklagers aufgrund von Sicherheitsbedenken erneut Rückenwind. Im Jahr 2012 sprach das Umweltschutzministerium die Empfehlung aus, im Negev ein neues Ammoniumwerk zu errichten. Die zuständige Regulierungsbehörde schlug vor, zur Produktion von Ammonium im eigenen Land zurückzukehren. Im Februar 2017 schloss sich der Stadtrat von Haifa mit Yona Yahav an der Spitze (dem Bürgermeister, der fünf Jahre zuvor noch erklärt hatte, die Luft in Haifa sei sauber) den Forderungen der Umweltorganisationen an und beantragte eine Verfügung, um den weiteren Betrieb des Tanks in der Bucht von Haifa zu unterbinden. Der Einspruch von Haifa Chemicals wurde zurückgewiesen. Das Management des Werks warnte davor, dass die Schließung der Tankanlage zur Entlassung von 1.500 Beschäftigten führen werde. Dagegen protestierten die im Werk Angestellten. Ihnen gegenüber standen die Umweltaktivist*innen. Auf beiden Seiten der Barrikaden standen also Bewohner*innen der Region.

Alternative text missing
Strassenblockade von Arbeiter*innen gegen die Schließung des Werks. (Auf dem Schild steht: "Haifa Chemicals ist mein Zuhause"), Tel Aviv 2017.

Der Oberste Gerichtshof ordnete an, den Ammoniak-Tank bis zum 31. Juli 2017 zu leeren (was gegen Ende des Sommers tatsächlich geschah). Verschiedene Lösungsvorschläge, wie zum Beispiel das importierte Ammoniak in kleinen Behältern (Isotanks) zu transportieren, wurden vonseiten der Unternehmensleitung von Haifa Chemicals abgelehnt. Sie verlagerte die Produktion stattdessen von ihrem Werk im Norden nach Haifa Chemicals-Süd. Das Management beschloss, die in Haifa Chemicals-Nord Beschäftigten zu entlassen. Koach La-Ovdim blieb nichts Anderes übrig, als hierfür die besten Konditionen auszuhandeln. Nach einer langwierigen Auseinandersetzung kam es im Sommer 2019 endlich zur Einigung auf einen Vergleich.

Überlegungen zur Unzulänglichkeit begrenzter Solidarität

Die Geschichte von Haifa Chemicals-Nord zeigt vortrefflich, wie Kapital und Regierung Hand in Hand arbeiten, um gemeinsam ihre Interessen durchzusetzen, meist gegen die Interessen der Allgemeinheit. Dagegen fällt es Lohnabhängigen, den Bewohner*innen der südlichen und nördlichen Peripherie des Landes, Umweltaktivist*innen, Eltern und anderen gesellschaftlichen Gruppen wesentlich schwerer, erfolgreich für gemeinsame Interessen und Ziele zu kämpfen.

Rückblickend stellt sich die Frage, ob und inwieweit bei Haifa Chemicals Beschäftigte Teil der Bewegung gegen die ökologischen Verbrechen in der Bucht von Haifa waren, die schreckliche Auswirkungen hatten und viele Menschenleben forderten. Es kann angenommen werden, dass die dort Arbeitenden die Situation und deren Konsequenzen kannten. Lehrer*innen wissen, wie schlecht der Unterricht in Klassen mit über 40 Kindern ist. Sozialarbeiter*innen wissen, dass 300 Fälle pro Mitarbeiter keine angemessene Betreuung erlauben. Und die bei Haifa Chemicals Arbeitenden wussten, welche Schadstoffe in dem Werk produziert wurden und wie mit diesen in der Praxis umgegangen wurde. Damit kommt den dort Beschäftigten eine große Verantwortung zu, die einige von ihnen in einem späteren Stadium des Kampfs auch bereit waren zu tragen. Es lässt sich schwerlich den Beschäftigten vorwerfen, dass sie nicht bereits früher Informationen weitergeleitet haben, denn das hätte ihren Lebensunterhalt gefährdet. Vorstellbar ist jedoch: Hätten sie von Anfang an die Umweltaktivist*innen und ihre Anliegen unterstützt, wären die Letzteren eventuell auch bereit gewesen, sich für die Fortsetzung der Produktion im Werk in der Bucht von Haifa einzusetzen, natürlich unter entsprechenden Auflagen und strengen Kontrollen.

Wie bereits angedeutet, ist es auch vorstellbar, dass die vom Betriebsrat und Koach La-Ovdim ausgehandelten guten Beschäftigungsbedingungen in Haifa Chemicals-Nord die Unternehmensleitung dazu bewogen haben, die Produktion in das Werk im Süden Israels zu verlegen, weil dort die Belegschaft weniger Rechte hat. Wären diese 2011 in den Arbeitskampf miteinbezogen worden, hätte es vielleicht einen Anreiz weniger für die Produktionsverlagerung gegeben. Wer weiß?

Eine weitere Überlegung aufseiten der Geschäftsführung von Haifa Chemicals könnte gewesen sein, mit der Schließung des Werks in der Bucht von Haifa der breiten Empörung über die dortige katastrophale Umweltsituation und die schweren Folgen für die öffentliche Gesundheit besser aus dem Weg gehen zu können. Nach dem Motto: aus den Augen, aus dem Sinn. Verliert also der Kampf für eine gesunde Umwelt und Naturschutz immer dann an Schwung, wenn sich umweltschädliche verhaltende Konzerne in Gebieten ansiedeln, in denen eher unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen leben, die so sehr benachteiligt sind, dass ökologische Fragen, die langfristig alle betreffen, keine große Rolle beim Risikomanagement von Industrieprojekten spielen?

«In der Tat ist das eine Frage, die wir in unseren Kämpfen aufgreifen und mitberücksichtigen sollten», sagte Kamhi. «Es ist unser Ziel, die Solidarität in den jeweiligen Communities und Regionen zu fördern und zu stärken. Es ist an der Zeit, Reorganisationsprozesse anzuregen, zum Beispiel auf Grundlage der Erkenntnis, dass Lehrer*innen wichtige Partner*innen im Kampf für sozialen Wohnungsbau sind, weil Kinder einen festen Wohnort und bestimmte Lebensbedingungen benötigen, um lernen zu können. Genauso sollten sich die bei Zara Beschäftigten auf der ganzen Welt um die Löhne der im Fernen Osten in der Textilherstellung tätigen Arbeiter*innen kümmern, weil ihr Lebensunterhalt davon abhängt. Die verschiedenen Gemeinschaften dazu zu motivieren, sich für das Wohl aller einzusetzen, erscheint mir angesichts der Aufstiegs der politischen Rechten und der anhaltenden Hegemonie des wirtschaftlichen Neoliberalismus in Israel und weltweit der beste Weg zu, sich zu organisieren.»

Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin

Ziv Adaki ist freiberufliche Autorin; in der Vergangenheit arbeitete sie bei der israelischen Umweltorganisation Green Course.

Weiterführende Links

Assaf Bondi, Koach La-Ovdim - Eine Gewerkschaft von unten

Sefi Krupsky, «Na klar, den Kapitalismus stürzen»

Anmerkungen

[1] Zweite Alija bezieht sich auf den Zeitraum 1903 bis 1914, in dem zirka 35.000 jüdische Migrant*innen nach Palästina einwanderten; die meisten von ihnen kamen aus Russland und Polen.

[2] Liora Amitai: Das Amt, um Arbeit zu arrangieren, in: HaAyin HaShevi'it, 7. Januar 2018 (auf Hebräisch).

[3] Lior Gutman und Naama Sikuler: Ein neuer Schachal, in: Calcalist, 12. August 2010 (auf Hebräisch).

[4] Israel Cancer Association: Jahresbericht 2007, S. 99 (auf Hebräisch).

Downlaod PDF:

Alternative text missing

Autor:innen

Oren Ziv ist ein Fotojournalist, ein Reporter für Local Call und ein Gründungsmitglied des Fotokollektivs Activestills.