Golanhöhen: Besatzung und Annexion aus Sicht des Völkerrechts
Die schleichende internationale Anerkennung der Annexion der Golanhöhen und Ost-Jerusalems macht einen künftigen Frieden zwischen Israel und seinen Nachbarn unmöglich und untergräbt darüber hinaus das Völkerrecht, das Annexionen verbietet, um die friedliche Lösung von Konflikten zu gewährleisten.
Als die israelische Armee die Gebiete der Westbank, des Gazastreifens, der Sinai-Halbinsel und der Golanhöhen zwischen dem 6. und dem 11. Juni 1967 eroberten, erließen die Kommandeure dieser Gebiete Proklamationen, wonach das in diesen Gebieten bis zur Eroberung geltende Recht (das heißt, jeweils das jordanische, ägyptische oder syrische Recht sowie auch Teile des Rechts des britischen Mandats und des osmanischen Reichs) weiterhin in Kraft bleibt, insofern es nicht künftigen von der israelischen Armee erlassenen Proklamationen und Dekreten widerspricht. Abgesehen von Ost-Jerusalem und den Golanhöhen, wo israelisches Recht aufgrund von speziellen von der Knesset verabschiedeten Gesetzen (1967 für Ost-Jerusalem und 1981 für die Golanhöhen) gilt, beruht das Recht im Gazastreifen bis 2007 und in der Westbank bis heute auf diesen Proklamationen und auf Tausenden von Dekreten, die im Laufe der Jahre von israelischen Militärkommandeuren erlassen wurden. Selbst die begrenzte gesetzgeberische Funktion der Palästinensische Autonomiebehörde (PA) seit den 1990er Jahren wurde durch solche Dekrete erlaubt und unterliegt diesem Regime der Militär-Proklamationen. Ihre juristische Autorität darf allerdings nicht für israelische Staatsbürger*innen gelten.
Daneben hat der israelische Gesetzgeber exterritorial den Geltungsbereich von verschiedenen von der Knesset verabschiedeten Gesetzen auf israelische Staatsbürger*innen, die in den besetzten Gebieten leben (Siedler*innen), ausgedehnt, und militärische Befehlshaber haben Dekrete, die israelische Gesetze aufgreifen und diese zu geltendem Recht für israelische Siedler*innen und Siedlungen machen, erlassen. So sind „Enklaven“ israelischen Rechts, das personenbezogen nur für israelische Siedler*innen gilt, in den besetzen Gebieten entstanden. So entstand auch eine Zweiteilung der Justiz – zum einen für Palästinenser*innen, die in die Zuständigkeit der israelischen Militärgerichte oder der Gerichte der PA fallen, und zum andern für jüdische Israelis, die in demselben Gebiet leben, für die aber israelisches Recht gilt und die in die Zuständigkeit von in Israel befindlichen Gerichten fallen.
Das Recht der Besatzung
Bevor die Rechtmäßigkeit einer Annexion und der Anwendung von Gesetzen in besetzten Gebieten erörtert wird, sollten wir uns fragen, woher Militärkommandeure eigentlich die Befugnis haben zu entscheiden, welche Gesetze gelten und welche nicht, und für wen. Wie kommt es dazu, dass ein Militärkommandeur plötzlich zum Gesetzgeber wird? Es lässt sich natürlich argumentieren, dass seine Befugnis von der Waffe, die er in der Hand hat, herrührt. Das wäre eine im Sinne von Realpolitik richtige Antwort, aber nicht gemäß des Völkerrechts oder israelischem Recht.
Konflikte zwischen Staaten oder zwischen Staaten und Organisationen außerhalb ihres Staatsgebiets sind völkerrechtlich geregelt. Wie das nationale Recht ist auch das Völkerrecht ein Normensystem, das festlegt, was erlaubt und was verboten ist, das heißt die Befugnisse, Rechte und Pflichten derer, die ihm unterstehen. Das Völkerrecht regelt verschiedene Bereich der internationalen Beziehungen, wie zum Beispiel internationalen Handel, die diplomatischen Beziehungen zwischen Staaten, die Art und Weise, in der internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen und ihre Agenturen arbeiten, und Wege zur friedlichen Konfliktlösung. Das Kriegsvölkerrecht ist eines der wichtigsten und ältesten Teilbereiche des Völkerrechts. Dieses Recht, das möglicherweise antiken Ursprungs ist und dessen moderne Version sich seit dem 19. Jahrhundert schnell entwickelt hat, besteht aus zwei Bereichen: Das Recht zum Krieg, das die Gründe für legitime Gewaltanwendung in internationalen Beziehungen festlegt, und das Recht im Krieg, das festlegt, was im Kriegsgebiet zulässig und was verboten ist, das heißt, es setzt dem Einsatz von Gewalt Grenzen und ist deswegen auch als humanitäres Völkerrecht bekannt. Sein Hauptzweck besteht darin, Menschen, die sich nicht aktiv an den Kampfhandlungen beteiligen, zu schützen und menschliches Leid zu lindern. Deshalb gilt es unabhängig davon, ob der Einsatz von Gewalt ursprünglich gerechtfertigt oder rechtmäßig war.
Eines der Phänomene, die das humanitäre Völkerrecht zu regeln sucht, ist die Konstellation, in der eine kriegsführende Armee ihre effektive Kontrolle über ein Territorium außerhalb ihres Staatsgebiets etabliert, das heißt eine Besatzung errichtet. Es enthält daher eine Reihe von Grundsätzen und Regeln, die die Handlungsmöglichkeiten und Befugnisse der Besatzungsmacht im besetzten Gebiet sowie die ihr obliegenden Einschränkungen und Verbote festlegen. Dies ist das Besatzungsrecht. Es regelt nicht nur die Beziehungen zwischen der Besatzungsmacht (wie der Staat, dessen Armee ein Territorium außerhalb seiner Grenzen, besetzt im Gesetz genannt wird) und dem besetzten Land, sondern auch zwischen der Besatzungsmacht und der Zivilbevölkerung in dem besetzten Gebiet. Zentral für die Kodifikation des Besatzungsrechts sind zwei internationale Konventionen: Das vierte Haager Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs von 1907 sowie die Genfer Konvention (Genfer Abkommen IV) über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten von 1949. Der israelische Staat hat die Genfer Konvention unterzeichnet und ratifiziert. Das Haager Abkommen, das vor der Gründung des Staats Israel unterzeichnet wurde, ist für Israel verbindlich, da es zur international verbindlichen Praxis gehört. Heute gilt auch die Genfer Konvention als übliche Praxis, das heißt, sie ist auch verbindlich für Staaten, wie Israel, die nicht alle Bestimmungen der Konvention in ihrer Gesetzgebung verankert haben.
Das Besatzungsrecht basiert auf dem Grundprinzip des Verbots der Annexion. Daraus ergeben sich drei zentrale Prinzipien: Die Besatzung konstituiert keine Souveränität (Hoheit); eine Besatzung ist temporär; die Besatzung ist ein Treuhand-Regime der Besatzungsmacht für die Menschen, die in dem besetzten Gebiet leben. Im Rahmen dieses Artikels kann auf eine ausführliche Erläuterung dieser Grundsätze nicht eingegangen werden. Hier soll nur angemerkt werden, dass das Besatzungsrecht Chaos in dem besetzten Gebiet verhindern, Sicherheit und geordnetes ziviles Leben soweit als möglich wiederherstellen und diese ordnen soll, solange die Besatzung andauert. Zu diesem Zweck schafft das Besatzungsrecht ein neues, vorübergehendes Regime und erteilt in diesem Rahmen der Besatzungsmacht die Befugnisse, die zur Erfüllung der Funktion, die vor der Besatzung Aufgabe staatlicher Stellen war, erforderlich sind. Somit hat der Befehlshaber der Armee eine sich aus dem Völkerrecht ableitende Befugnis, in dem besetzten Gebiet Gesetze zu erlassen, und seine Dekrete sind als Gesetze und Verordnungen zu verstehen. Er ist der Chef der Exekutive in dem besetzten Gebiet und seine ihm untergeordneten Offiziere erhalten alle Befugnisse, die die staatlichen Stellen in diesem Gebiet vor der Besatzung innehatten. Der Befehlshaber der Armee ist auch befugt, für Sicherheitsangelegenheiten zuständige Militärgerichte zu errichten.
Die Rechte der Besetzten
Neben diesem antidemokratischen Regime (das heißt, ein Regime, in dem die Zivilbevölkerung nicht an der Festlegung der Normen, an die sie sich halten muss, beteiligt ist) sind im Besatzungsrecht nur wenige Beschränkungen vorgegeben; diese sind jedoch ausgesprochen wichtig: Erstens muss der Befehlshaber der Armee den bestehenden Zustand so weit wie möglich aufrecht erhalten. Er darf das bestehende Recht nicht ändern, wenn dies nicht zur Erfüllung seiner Pflichten erforderlich ist. Er soll in dem besetzten Gebiet keine langfristigen Änderungen vornehmen, da dies eine Befugnis ist, die Ausdruck der Souveränität ist, er aber diese nicht innehat. Er ist lediglich ein vorrübergehender Verwalter des Gebiets. Zweitens soll die Verwaltung des besetzten Gebiets dem Wohl der dort lebenden Zivilbevölkerung dienen. Darin kommt zum Ausdruck, dass das besetzte Gebiet einem Treuhand-Regime untersteht. Drittens ist der Befehlshaber der Armee verpflichtet, die Grundrechte der Zivilbevölkerung in dem besetzten Gebiet nicht zu verletzen und sie vor Übergriffen vonseiten Dritter zu schützen. Die meisten vom Besatzungsrecht anerkannten Rechte der unter Besatzung lebenden Zivilbevölkerung sind nicht absolut, so dass Sicherheitserwägungen verhältnismäßige Einschränkungen rechtfertigen können.
Dennoch verleiht das Besatzungsrecht den unter Besatzung lebenden Menschen einige Rechte uneingeschränkt, das heißt, die Besatzungsmacht darf sie unter keinen Umständen beschränken. Eines davon findet Ausdruck in dem Verbot, unter Besatzung lebende Menschen zu enteignen. Ein anderes uneingeschränktes Recht zieht das Verbot, unter der Besatzung lebende Menschen aus dem gesetzten Gebiet abzuschieben, nach sich sowie die Pflicht, unter der Besatzung lebende Menschen in ihre Häuser zurückzubringen, falls sie diese im Zuge von Kampfhandlungen verlassen mussten. Ein drittes uneingeschränktes Recht kommt in dem Verbot, Menschen aus dem Staatsgebiet der Besatzungsmacht in das besetzte Gebiet zu übersiedeln und so eine Gemeinschaft von Siedler*innen neben der unter Besatzung lebenden Bevölkerung zu schaffen, zum Ausdruck.
Israelische Rechtsverletzungen
Dass Israel den während des Kriegs geflüchteten Syrier*innen und Palästinenser*innen verboten hat, in ihre Häuser auf den Golanhöhen beziehungsweise in der Westbank zurückzukehren, stellt eine Verletzung des humanitären Völkerrechts dar. Dazu kam dann bald auch noch die Ausweitung des Stadtgebiets von Jerusalem und des Geltungsbereichs des israelischen Rechts auf die Gebiete Ost-Jerusalems. Dies ist ein Schritt, der den Grundsätzen des Kriegsvölkerrechts und des Besatzungsrechts absolut zuwiderläuft, da diese eine aus Gewaltanwendung resultierende und nicht auf Vereinbarung beruhende Annexion verbieten. Eine weitere skandalöse Politik, die gegen die Genfer Konvention verstößt, ist der Bau von Siedlungen in den besetzten Gebieten. Diese Politik wurde bereits in den ersten Monaten nach der Eroberung von der israelischen Regierung beschlossen und wird bis heute, sogar noch intensiver, fortgeführt.
Die unzähligen durch den Siedlungsbau verursachten Verstöße gegen die Menschenrechte der unter der Besatzung lebenden palästinensischen Bevölkerung zeigen exakt, warum es im Völkerrecht ein spezifisches Verbot gibt, Bevölkerung der Besatzungsmacht in einem besetzten Gebiet anzusiedeln. Artikel 49 der Genfer Konvention, dessen erster Absatz Zwangsumsiedlungen und Deportationen aus dem besetzten Gebiet von unter Besatzung lebenden Menschen verbietet, legt das folgende Verbot in seinem letzten Absatz fest: „Die Besetzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder umsiedeln.“ Israel hat niemals israelische Staatsbürger*innen in die besetzten Gebiete abgeschoben, aber das Verbot erstreckt sich auch auf „Umsiedlung“. Israel hat in der Vergangenheit Israelis auf den Golanhöhen und in der Westbank angesiedelt und tut dies immer noch. Israel unterhält ein staatspolitisches, rechtliches und bürokratisches System, das es seinen Staatsbürger*innen ermöglicht, in die besetzten Gebiete zu übersiedeln, und ermutigt sie verschiedentlich dazu.
So stellt die Menschenrechtsorganisation B’tselem auf ihrer Webseite zusammenfassend fest: „Die Siedlungen sind der Faktor, der am stärksten das Leben in der Westbank beeinflusst und ihre Auswirkungen auf die Menschenrechte der Palästinenser*innen sind verheerend und gehen weit über die hunderte von Quadratkilometern Land, einschließlich Weide- und Ackerland, das ihnen zum Zweck des Siedlungsbaus geraubt wurde, hinaus: Weiteres Land von ihnen wurde enteignet, um hunderte Kilometer von Umgehungsstraßen für Siedler*innen zu bauen. Straßensperren, Checkpoints und andere Mittel, die nur die Bewegungsfreiheit der Palästinenser*innen einschränken, wurden entsprechen der örtlichen Lage der Siedlungen platziert; palästinensischen Eigentümer*innen wird der Zugang zu vielen ihrer landwirtschaftlichen Flächen – innerhalb und außerhalb der Siedlungen – praktisch verwehrt; und die Sperranlage, die die Rechte der in der Umgebung lebenden Palästinenser*innen stark beeinträchtigt, verläuft in gewundener Form innerhalb der Westbank, hauptsächlich damit möglichst viele Siedlungen und Land für deren Erweiterung auf der westlichen Seite bleiben.“[1]
Die Ausreden Israels
Vertreter*innen der israelischen Regierung haben im Laufe der Jahre in internationalen Foren verschiedene Argumente gegen den Vorwurf dieser eklatanten Verletzungen des Völkerrechts vorgebracht: Zuerst, dass die Genfer Konvention gar nicht auf die israelische Kontrolle der Westbank und des Gazastreifens anwendbar sei, da diese Gebiete vor der israelischen Eroberung nicht Teile der legalen souveränen Staatsgebiete von Jordanien und Ägypten gewesen wären. Insofern sei die Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Genfer Konvention nicht erfüllt. Demnach seien die Bestimmungen der Genfer Konvention nur auf „die vollständige oder teilweise Besetzung des Gebietes einer Hohen Vertragspartei“ (d.h. eines Mitgliedstaats) anwendbar. Da die Westbank nicht zum Staatsgebiet von Jordanien und der Gazastreifen nicht zum Staatsgebiet von Ägypten gehörten, als die israelische Armee dort 1967 einmarschierte, seien nach Ansicht von Sprecher*innen der israelischen Regierung diese Territorien keine „besetzten Gebiete“. Und wenn die Genfer Konvention nicht anwendbar ist, bestehe auch kein Verbot, Teile der israelischen Bevölkerung in diesen Territorien anzusiedeln. In Bezug auf die Besetzung der Golanhöhen wird von israelischer Regierungsseite argumentiert, dass diese die Folge eines Verteidigungskriegs (was eine an sich bereits fragliche Definition ist) sei, was die Annexion durch die angegriffene Partei ermögliche. Ein weiteres Argument, dass Israel hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Siedlungen vorgebracht hat, bezieht sich auf die Definition des Verbots in Genfer Konvention. Vertreter*innen Israels argumentieren, dass der Begriff „umsiedeln“ sich auf ein aktives mit Ausübung von Zwang verbundenes Handeln des Staats beziehe, und weil die Siedler*innen freiwillig in die Siedlungen ziehen, sei der Absatz der Konvention nicht auf das israelische Siedlungsprojekt anwendbar.
Und die Antworten der Weltgemeinschaft
Keine der israelischen Behauptungen fand je Zustimmung in einem internationalen Gremium; sie wurden alle samt zurückgewiesen: In Bezug auf den Status der Territorien als besetzte Gebiete und der Illegalität der Siedlungen besteht Konsens unter Jurist*innen, was in einem auf streitbarer Auseinandersetzung ausgerichteten Fachgebiet ausgesprochen selten ist. Der Konsens unter Völkerrechtler*innen in diesen beiden Fragen ist so breit, dass er selbst am Maßstab der Naturwissenschaften gemessen außergewöhnlich und gewiss für eine Debatte in den Sozialwissenschaften äußerst selten ist. Alle ausgewiesenen Völkerrechtler*innen stimmen darüber überein, dass die Genfer Konvention auch auf die Territorien, die von Israel 1967 besetzt wurden (die aus rechtlicher Sicht „besetzte Gebiete“ sind), anzuwenden ist; dass die Genfer Konvention auch für Israel verbindlich ist; und dass die israelischen Siedlungen, einschließlich derer in Ost-Jerusalem und auf den Golanhöhen, gegen das Verbot in Artikel 49 der Konvention verstoßen. Dies beruht darauf, dass die Definition der militärischen Besetzung nicht in der Genfer Konvention, sondern im Haager Abkommen festgelegt ist, und dass es dort keine Vorbedingung gibt, wonach das Territorium vor der Besetzung zu dem international anerkannten Hoheitsgebiets eines anderen Staats gehören muss. Das ist natürlich sehr sinnvoll, da das humanitäre Völkerrecht, wie gesagt, die Zivilbevölkerung schützen und das Besatzungsrecht einen schützenden Rahmen für die Zivilbevölkerung, die sich unter Fremdherrschaft befindet, schaffen soll. Es wäre völlig unlogisch, diesen Schutz vor einer Besatzungsmacht nicht gewähren, nur weil diese das Gebiet von einer anderen Besatzungsmacht erobert hat.
Derzeit gibt es außer Israel keinen Staat auf der Welt, der aus juristischer Sicht argumentiert, dass die israelischen Siedlungen legal sind. Es gibt kein internationales Gremium, dessen Rechtsberater*innen der Auffassung widersprechen, dass die Siedlungen einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellen. Das Internationale Rote Kreuz, das mit der Auslegung der Genfer Konvention beauftragt ist, weist die von Israel in internationalen Foren vorgebrachte Argumentation zurück. Viele internationale Tribunale, allen voran der Internationale Gerichtshof, haben entschieden, dass Israel durch den Bau von Siedlungen und dadurch, dass es seinen Staatsbürger*innen ermöglicht, dort zu wohnen, gegen das Verbot, seine Bevölkerung in das besetzte Gebiet zu übersiedeln, verstößt. Die Positionen von Jurist*innen, die im akademischen Rahmen arbeiten, sind ebenso eindeutig wie die ihrer in praktischen Bereichen tätigen Kolleg*innen. In hunderten von Büchern, tausenden von Artikeln und unzähligen Vorträgen haben Jura-Professor*innen, auch israelische, immer wieder festgestellt, dass der Bau der israelischen Siedlungen gegen ein völkerrechtliches Grundprinzip, das im letzten Absatz von Artikel 49 der Genfer Konvention zum Ausdruck kommt, verstößt, wonach es der Besatzungsmacht verboten ist, seine Bevölkerung in das besetzte Gebiet zu übersiedeln.
Der Sinn des Gesetzes...
Wichtiger als die Text-Interpretation ist allerdings der Zweck des Besatzungsrechts. Es soll auch die Veränderungen, die die Besatzungsmacht in dem besetzten Gebiet machen darf, auf das Nötigste begrenzen, um eine Situation zu schaffen, die es erleichtert, die Besatzung zu beenden und eine friedliche Lösung zu finden. Daher ist in dem in der Genfer Konvention verankertem Verbot der Bevölkerungsumsiedlung ein Grundprinzip des Besatzungsregimes zu sehen, das das Besatzungsrecht schaffen soll. Das Verbot, Bevölkerung der Besatzungsmacht in das besetzte Gebiet zu übersiedeln ist mithin ein Gesetzeszweck.
Dieses Rational prägt alle Bestimmungen von Artikel 49 der Konvention, der auch das Verbot der Abschiebung der Bevölkerung des besetzten Gebiets sowie deren interne Zwangsumsiedlung enthält. Dies zielt darauf ab, demographische Veränderungen zu verhindern, durch die die unter der Besatzung lebende Bevölkerung ihre Stellung als denjenigen, denen das besetzte Gebiet in erster Linie gehört, ohne ihre Zustimmung verliert. Damit soll verhindert werden, dass Tatsachen geschafften werden, die eine friedliche Lösung des Konflikts erschweren. Dies zielt darauf ab, die Rechte der unter der Besatzung lebenden Bevölkerung zu schützen, da ihre Rechte mit Sicherheit verletzt würden, wenn eine Community von Menschen der Bevölkerung der Besatzungsmacht in ihrem Territorium angesiedelt wird. Das Ziel der Regelung ist es, genau das zu verhindern, was in den Gebieten, die Israel 1967 erobert hat, geschah und bis heute immer noch geschieht.
Der lange Weg zur Annexion
Wie aus diesem kurzen Überblick hervorgeht, ist die völkerrechtliche Beurteilung der Situation in den besetzten Gebieten ganz klar: Es besteht ein einhelliger Konsens unter Völkerrechtler*innen, dass die Westbank, Ost-Jerusalem und die Golanhöhen besetzte Gebiete sind, und dass die dort errichteten israelischen Siedlungen illegal sind und einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellen. Dennoch hat dieser breite Konsens wenig dazu beigetragen, dieses Unrecht zu beseitigen und die internationale Gemeinschaft hat es praktisch immer wieder versäumt, die israelische Politik zu stoppen. Die bloße Existenz des Völkerrechts hat möglicherweise mit unter noch schwerwiegenderes Unrecht abgemindert oder vielleicht sogar verhindert, und die Gefahr einer internationalen Reaktion auf eine Völkerrechtsverletzung hat eventuell die Anwendung von Gewalt gegen die palästinensische Bevölkerung etwas beschränkt. Dennoch ist die gegenwärtige Situation ein Beweis dafür, dass die auf dem humanitären Völkerrecht und dem Besatzungsrecht gegründete internationale Ordnung bei der Durchsetzung ihrer Normen und der Verhinderung der Verletzung der Menschenrechte der unter der Besatzung lebenden Bevölkerung gescheitert ist. Noch schlimmer ist, dass die Aushöhlung der Grundlagen des humanitären Völkerrechts als Grundlage für internationale Politik seit Donald Trumps Amtsantritt noch schneller voranschreitet, was sich besonders deutlich in dem größten Paradigmenwechsel widerspiegelt, den Israel seit seiner Eroberung der Westbank in Jahr 1967 vollzogen hat: Annexion. Eine echte permanente Annexion per Gesetz. Eine Annexion de jure.
Dieser historische Paradigmenwechsel kommt nach 50 Jahren Besatzung, während der Israel die Landschaft, die Demographie und das Rechtssystem der besetzten Gebiete drastisch verändert hat. Die israelische Regierung manipulierte die enormen Befugnisse, die das Völkerrecht der Besatzungsmacht einräumt, um sich der Ressourcen der besetzen Gebiete auf eine Weise zu bemächtigen, die das Besatzungsrecht niemals zulassen sollte. Das ist die de facto Annexion, die vor unseren Augen im Laufe der Jahre langsam vollzogen wurde. Die israelische Regierung hat dennoch daran festgehalten, die Westbank mit Ausnahme von Ost-Jerusalem (und der Golanhöhen) nicht de jure zu annektieren. Sie war damit einverstanden, dass der endgültige Status des Territoriums in Verhandlungen und einen Abkommen festzulegen sei, und beteuerte, dass das Militärregime in den besetzten Gebieten ein temporäres sei. Auch wenn Taten wichtiger als Worte sind, sind Worte nicht bedeutungslos. Israels offizieller Standpunkt erhielt die politische und rechtliche Trennung zwischen der Westbank und Israel aufrecht, beschränkte so die israelischen Aktivitäten in dem besetzten Gebiet und verlangsamte damit deren Einverleibung.
Das ist jetzt vorbei. Unter dem Druck der nationalistischsten Regierung in Israels Geschichte und dank des durch den US-amerikanischen Präsidenten gewährten Handlungsspielraums beraten und entwerfen das Justiz- und das Verteidigungsministerium sowie die israelische Armee rechtliche Schritte, die darauf abzielen, das israelische Hoheitsgebiet und den Geltungsbereich seines Rechts über die Grüne Linien hinaus auszuweiten. Diese Erweiterung ist darauf ausgerichtet, den Interessen einer starken einflussreichen Minderheit in Israel, nämlich der Siedler*innen, zu dienen, und geht auf Kosten der Mehrheit der in der Westbank lebenden Menschen, der Palästinenser*innen, die seit 50 Jahren keine Grundrechte haben, und die dort, wo ihre Zukunft entschieden wird, ohne Stimme oder Vertretung sind. Der Prozess der Annexion findet auf mehreren Ebenen statt: auf der politischen, der der Verwaltung und der legislativen. Auf der legislativen Ebene, die die einschneidendste ist, begann dieser Prozess mit dem Enteignungsgesetz (offiziell „Gesetz zur Regelung der Besiedlung in Judäa und Samaria“), das von der Knesset im Februar 2017 verabschiedet wurde. Abgesehen davon, dass darin Diebstahl eine gesetzliche Grundlage erhält, ist es ein Präzedenzfall für die unmittelbare Geltung eines von der Knesset verabschiedeten Gesetzes für die palästinensische Bevölkerung in der Westbank, die in der Knesset nicht vertreten ist. Darüber hinaus werden verschiedene Gesetzesvorlagen für die Annexion von Teilen der Westbank diskutiert: eine in Bezug auf die Siedlungsblöcke in der Umgebung von Jerusalem; eine andere in Bezug auf Maale Adumim; eine dritte in Bezug auf das Jordantal; und eine vierte in Bezug auf alle der Kommunalverwaltung der Siedlungen unterstehenden Gebiete.
Da Europa mit dem Brexit, der Flüchtlingskrise und dem Aufstieg von antiliberalen Kräften beschäftigt ist und Washington von Trumps Leuten beherrscht wird, scheint es, dass die Welt diese Annexionsprozesses hinnehmen wird, insbesondere auch angesichts des von Trump gesteuerten Kurs, der einen Verstoß gegen das grundsätzliche Verbot der Annexion fördern, wie zum Beispiel die Verlegung der US-amerikanischen Botschaft nach Jerusalem und die Anerkennung der Annexion der Golanhöhen. Wenn sie nicht aufgehalten wird, wird diese Entwicklung schwerwiegenden Folgen für die Palästinenser*innen in der Westbank haben, aber auch, nicht geringere, für die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffene Weltordnung. Der durch das Annexionsverbot angestrebte Schutz der Souveränität soll verhindern, dass Staaten Gewalt in der Hoffnung anwenden, dass dies zu einer Erweiterung ihres Hoheitsgebiets führt. Wenn ein so zentrales Prinzip in Frage gestellt wird, untergräbt dies die gesamte Struktur, die das moderne Völkerrecht geschaffen hat, um die friedliche Lösung von Konflikten zu gewährleisten.
Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin
Michael Sfard ist ein führender israelischer Menschenrechtsanwalt und ist Rechtsberater zahlreicher Menschenrechts- und Friedensorganisationen, wie Yesh-Din, Breaking the Silence, Peace Now und der Human Rights Defenders Fund. Außerdem vertritt er als Anwalt humanitäre Hilfsorganisationen, palästinensische Communities sowie israelische und palästinensische Aktivist*innen. Sfards Artikel werden in vielen Tageszeitungen veröffentlicht, einschließlich Haaretz, New York Times und The Independent. Sein neustes Buch, The Wall and the Gate: Israel, Palestine and the Legal Battle for Human Rights (Metropolitan Books) erschien 2018.
Weiterführende Literatur
Noura Erakat, Justice for Some: Law and the Question of Palestine, Stanford University Press, 2019
Aeyal Gross, The Writing on the Wall: Rethinking the International Law of Occupation, Cambridge University Press 2017
Völkerrechtliche Bewertung der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestags: https://www.bundestag.de/resource/blob/547174/adebd0ea6bd7a85c6c49671547fc3b50/wd-2-009-18-pdf-data.pdf.
Links
Die Anwendung des Völkerrechts - ein gebrochenes Versprechen? - Netta Amar-Shiff
Kein gleiches Recht für Alle in der Westbank - Ronit Sela
Anmerkungen
[1] Siehe https://www.btselem.org/settlements (Englisch).
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Autor:in
Michael Sfard ist ein auf internationales Recht, insbesondere Menschenrechte und Kriegsrecht, spezialisierter Rechtsanwalt und Publizist sowie Autor des Buchs The Wall and the Gate: Israel, Palestine, and the Legal Battle for Human Rights (2018).