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„Ich will diesem Staat nicht als Make-up dienen“

Als palästinensische Sozialarbeiterin kämpft Samah Salaime an vielen Fronten, indem sie patriarchale und rassistische Strukturen herausfordert und eine Kampagne gegen eine Mordwelle an arabischen Frauen anführte. Der Kampf für Gleichberechtigung kann in ihren Augen nur radikal geführt werden.

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Wo wurdest du geboren?

Meine Antwort auf diese Frage ist: wo ich geboren werden sollte. Ich hätte in einem Dorf namens al-Shajara geboren werden sollen, das 1948 zerstört wurde. Meine Familie ist heute in Flüchtlingslagern auf der ganzen Welt verstreut. Vor dem jetzigen Bürgerkrieg lebten sie hauptsächlich in Syrien und heute sind sie in Deutschland, Holland und Schweden. Mein Großvater floh in die entgegengesetzte Richtung und so befanden wir uns seitdem in Tur'an, zehn Minuten von unserem ehemaligen Heimatdorf entfernt.

Hattest du als Palästinenserin, die im Staat Israel aufgewachsen ist, den Konflikt bereits in deiner Kindheit zu spüren?

Sehr früh hatte ich das Gefühl, das wir in unserem Wohnort nicht wirklich dazugehören. Auch als wir die israelische Fahne am Unabhängigkeitstag schwenken sollten, wurde klar, dass die Eltern und Großeltern damit ein Problem hatten. Es gab diese gewisse Lüge, die über uns hing. Schon damals habe ich Fragen gestellt. Aber erst im Gymnasium konnte ich alle Puzzlestücke zusammensetzen: wir waren eigentlich Flüchtlinge und unser Land wurde uns weggenommen. Erst als ich an der Universität Sozialarbeit studierte und ein Paper über meine Familie schrieb, wurde mir klar, dass diese Vertreibung keine Naturkatastrophe war, sondern dass sie geplant war.

Warum hast du dich für Sozialarbeit entschieden?

Eigentlich wollte ich Jura studieren, ich stellte mir vor, wie ich in der schwarzen Robe vor Gericht schreien und Gerechtigkeit fordern würde. Aber weil ein mir völlig fremder Mann meinen Eltern sagte, ich solle als Frau lieber kein Jura studieren und mein Zulassungsformular änderte, kam ich zur Sozialarbeit. Die Intervention dieses Mannes, der dachte, er wisse besser was gut für mich wäre, ließ mich den Entschluss fassen, es einem Mann nie wieder zu erlauben, Entscheidungen für mich zu treffen.

Wie bist du nach Neve Shalom/Wahat al-Salam gekommen?

Ich habe Sozialarbeit in Jerusalem studiert, wo ich auch meinen Partner traf und unser erstes Kind zur Welt brachte. Als wir nach einer normalen Schule suchten, mussten wir feststellen, dass es nur eine einzige internationale Schule gab und die jüdischen Schulen unser Kind nicht aufnahmen. Mein Partner arbeitete als Moderator von Jugendgruppen und wusste von dieser arabisch-jüdischen Gemeinde mit einer bi-nationalen Schule, wo wir unseren Sohn vielleicht würden anmelden können. Als ich diese Schule dann zum ersten Mal besuchte, war ich erstaunt von diesen lieben Kindern, bei denen man die jüdischen von den arabischen nicht unterscheiden konnte. Es war ein großes Glück, genau im September 2000, fünf Tage vor dem Ausbruch der Zweiten Intifada, zogen wir dorthin und konnten in einer Gemeinde leben, die von der mit der Intifada einhergehenden Gewalt verschont blieb. Wahat al-Salam ist eine Gemeinde mit vielen Herausforderungen. Ein Ort, der von Israelis und Palästinenser*innen geteilt wird, die sich freiwillig entschieden haben zusammen zu leben. Zusammen streben sie nach Gleichheit und Demokratie ohne eine nationale Gruppe zu bevorzugen. Darüber hinaus hat sich diese Gemeinde auf die Fahne geschrieben, für den Frieden durch Bildung, gewaltlosen Widerstand und offenen Dialog zu arbeiten. Wir leben dort seit 18 Jahren und haben unsere drei Söhne dort aufgezogen. Wie sich herausstellt ist es viel schwieriger, drei Söhne und ihren Vater zu Feministen zu erziehen, als Frieden zu schaffen, aber ich habe noch große Hoffnungen.

Du engagierst dich heute vor allem in den arabischen Communities in den gemischten Städten Lod und Ramle.

Nachdem wir nach Wahat al-Salam umgezogen waren, begann ich das Gemeindezentrum in Lod zu führen. Plötzlich verstand ich, dass die Situation der arabischen Frauen in gemischten Städten im Zentrum von Israel viel schlimmer ist, als die der Frauen in Ost-Jerusalem unter militärischer Repression. Das Ausmaß der Gewalt und Kriminalität in Lod ist zehnmal größer als im nationalen Durchschnitt. Wenn es keine guten Schulangebote und keine soziale Infrastruktur gibt, ist es auch kein Wunder, dass dieser Ort zum Zentrum von Drogen- und Waffenhandel wird. Und die ganze Situation, die Gewalt gegen Frauen betreffend, hängt sehr stark mit der politischen Situation in der Stadt zusammen. Als ich dafür plädierte, dass das Gemeindezentrum die Lage der Frauen thematisieren sollte, behauptete die arabische Führung in der Stadt, dass ich damit die Harmonie innerhalb der arabischen Familien verletze. Dadurch war ich letztendlich vom Gemeindezentrum ausgeschlossen.

Und: wo bist du dann hingegangen?

Ich habe in Ramle ein Zentrum für arabische Mädchen gegründet. Die meisten unserer Aktivitäten konzentrierten sich darauf, zu verhindern, dass arabische Mädchen das Bildungssystem verlassen - ein wichtiger Faktor, um minderjährige Eheschließung zu verhindern und neue Horizonte für Frauen zu öffnen. Zu der Zeit als unser Projekt lief, wurden in Ramle und Lod vierunddreißig Frauen ermordet und ich konnte es nicht mehr ertragen. Wie kann es sein, dass es in einer Stadt mit 40 Prozent arabischen Einwohner*innen keine arabischen Sozialarbeiter*innen gibt? Mein Gefühl war, dass die Polizei ihre Arbeit nicht macht, dass die sozialen Einrichtungen und Schulen ihre Arbeit nicht machen und dass sie fahrlässig handeln.

Und was war deine Reaktion darauf?

Im Jahr 2007, nachdem ein Mädchen, das ich sehr gut kannte, brutal ermordet wurde, habe ich beschlossen, dass ich innerhalb der hiesigen Gesellschaft und nicht im Norden oder in Haifa kämpfen möchte. Ich wollte im Sinne des Feminismus nicht nur akademisch, sondern auch praktisch, mit allen Frauen und Menschen aus allen Bereichen vor Ort zusammenarbeiten. Deshalb gründeten wir die Organisation „Naam“, was auf Arabisch „Ja” bedeutet, bei der die Arabischen Frauen im Zentrum stehen. Mit der Organisation „Naam“ stehen wir für unsere Grundrechte ein – und damit meine ich nicht nur das Recht auf Selbstbestimmung, sondern darüber hinaus soziale Rechte auf Bildung, Arbeit und Zugang zur Gesundheitsversorgung. Ich möchte genauso wie eine jüdische Frau behandelt werden. Wir sind es müde, wie Bürgerinnen zweiter Klasse behandelt zu werden. Wir wollen die gleichen Dienstleistungen genießen und nicht erleben, dass der Bürgermeister sagt, wie es in der Vergangenheit der Fall war: „Wenn die Araber ihre Frauen ermorden wollen, sollten sie es gefälligst in ihrer Nachbarschaft tun, aber nicht in der Nachbarschaft, in der ich lebe“.

Bekommst du auch von jüdischen Feministinnen Unterstützung?

Die Stadt Lod befindet sich geografisch im Zentrum des Landes, aber im öffentlichen Bewusstsein liegt sie irgendwo in Wüstennähe. Oft habe ich von feministischen Aktivistinnen gehört, dass sie gar nicht wussten, dass so viele arabische Frauen ermordet werden oder dass 80 Prozent der arabischen Frauenmörder nicht vor Gericht gestellt werden. Selbst die Polizei behauptet dies nicht zu wissen. Also beschloss ich, auf Hebräisch zu veröffentlichen, damit sie nicht mehr sagen können, sie hätten nichts davon gewusst. Die radikalen Feministinnen aus Tel Aviv möchten außerdem, dass ich mich am Slutwalk beteilige. (Anm. d. Übers.: In Israel nennt sich der Slutwalk „Sharmuta-Marsch“ – das Wort bedeutet ursprünglich auf Arabisch „Hure“, wird im Hebräischen eher lässig verwendet.). Wie und wo soll ich anfangen ihnen zu erklären, dass ich als Palästinenserin bei so etwas nicht mitmachen kann? Oder warum meine Kämpfe so anders sind als die ihren? Und dennoch will ich natürlich die gleichen Rechte, die eben diese Frauen in Tel Aviv erkämpfen.

Und was denkst du über die Feierlichkeiten zu siebzig Jahren Israel?

Ich denke, dass dieser Staat politisches und finanzielles Kapital auf meinem Rücken und auf dem Rücken meines Volkes gebildet hat. Sogar wenn mir Auszeichnungen für meine feministischen Aktivitäten durch staatliche Institutionen angeboten werden, nehme ich sie nicht an. Falls ich an einem demokratischen Ort gelebt hätte, hätte ich mich natürlich dafür bedankt, aber ich möchte von diesem Staat keine Anerkennung, egal wofür. Ich kann nicht neben dieser Flagge stehen, die mich so missachtet. Unser gesamtes Leben lang sind wir als Palästinenser*innen in Israel dieser Auseinandersetzung ausgesetzt: In welchem Verhältnis stehen wir zu diesem Staat. Ich will diesem Staat nicht als Make-up dienen.

Was wünschst du dir in zehn Jahren in diesem Land?

Ich möchte einen Staat sehen, der sich sozialistischen und demokratischen Werten verpflichtet fühlt. Ich möchte hier Bürger*innen sehen, die zusammenleben und ihre Privilegien aufgeben. Ich will hier niemanden sehen, der glaubt, mehr verdient zu haben, einzig weil er oder sie eine jüdische Mutter hat oder als Palästinenser*in geboren wurde. Dieser Ort soll allen gehören in Gleichheit, Offenheit und Sicherheit. Dafür muss unser Kampf stärker und lauter sein, der feministische und politische Kampf muss radikal sein, um die Mitte der Gesellschaft zu verändern. Auch der Kampf für den Frieden muss radikaler geführt werden, um etwas zu bewegen. Ich möchte ja einen Ort haben, an dem auch meine Söhne leben wollen.

Das Interview führte Yossi Bartal

Weiterführende Links:

- Nabila Espanioly, Eine Minderheit die nicht mehr schweigt

- Mieke Hartmann, Internationaler Frauenkampftag in Israel

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Gegen den Strom – was bewegt israelische Aktivistinnen anno 2018?

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Autor:in

Samah Salaime ist eine palästinische feministische Aktivistin und Autorin.