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„Wenn es euch hier nicht passt, dann geht doch zurück nach Russland“

In Kiew geboren und in Israel aufgewachsen, setzt sich Sonya Soloviov für eine feministische Erneuerung der russischsprachigen Community Israels ein.

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Wo bist du geboren und aufgewachsen?

Dies sind zwei verschiedene Dinge. Ich wurde in Kiew geboren, als es noch Teil der Sowjetunion war und erlebte als Kind die Jahre der Perestroika. Im Jahr 1991 kamen wir in Israel an, genau an dem Tag, als die Sowjetunion zerfiel. Es ist sehr symbolisch für mich - auf einmal hatten wir keine Möglichkeit zurückzukehren, weil es das Land, aus dem wir ausgewandert waren, nicht mehr gab. Das Wort Alija verwende ich absichtlich nicht (Anm. d. Übers.: Alija ist ein biblischer Begriff, der noch heute die Rückkehr eines oder mehrerer Juden nach Israel bedeutet.) um unsere Übersiedlung zu beschreiben, wir kamen aus familiären Gründen hierher, nicht wegen einer politischen Überzeugung.

Dennoch hat man bestimmt zu Hause über Politik gesprochen?

Ich bin ohne Ideologien aufgewachsen. Ich kann mich eher an das wirtschaftliche Kämpfen und Überleben erinnern, sowohl in der Sowjetunion als auch in Israel. Eigentlich sind meine Eltern nicht erfreut, dass ich eine politische Meinung öffentlich vertrete - so etwas ist in ihren Augen verpönt, fast verboten! Meine Familie ist sehr unpolitisch. Trotzdem habe ich schon früh begonnen mich für Politik zu interessieren. Ich erinnere mich daran, einen Enzyklopädie-Beitrag über Martin Luther King gelesen zu haben. Ab diesem Moment interessierte ich mich wahnsinnig für das Thema der Gewaltlosigkeit.

Und wann wurdest du zur Aktivistin?

Das kann ich nicht an einem bestimmten Zeitpunkt festmachen. Um dich selbst eine Aktivistin zu nennen, brauchst du Zugang zu einem aktivistischen Framework. Leute aus der Mittelklasse haben viel mehr Zugang dazu, als Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Aber wenn ich Diskussionen über den Rekrutierungszwang mit meinen Klassenkameraden führte oder mit 14 meinen Freundinnen erklärte, dass Kinder und Heirat nicht die einzige Zukunftsperspektive seien, könnte man das auch als Aktivismus bezeichnen. Manche Menschen haben etwas Aktivistisches in sich, das ihnen Stummheit angesichts einer Ungerechtigkeit unmöglich macht. Möglicherweise können sie ihre daraus resultierenden Handlungen nicht konzeptuell formulieren, aber wenn sie älter werden und sich später einer Aktivistengruppe anschließen, fällt ihnen plötzlich auf: Verdammt, das habe ich doch schon mein ganzes Leben gemacht.

Auch ohne Kontakt zu Aktivist*innen hast du entschieden nicht ins Militär zu gehen

Seit ich 14 bin, definiere ich mich als Pazifistin. Ich weiß, von außen sehe ich ganz hart aus, aber ich kann nicht einmal eine Faust machen. Aus dem Militär wurde ich jedoch aufgrund medizinischer und nicht wegen pazifistischer Gründe entlassen. Ich wusste auch nicht, dass eine Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen (für Frauen) möglich gewesen wäre. In der Zeit hatte ich auch in der Schule soziale Schwierigkeiten, weil ich gegen meinen Willen geoutet wurde. Aber das Outing half mir mich vom Militärdienst befreien zu lassen. Der Militärpsychiater stellte mich aus medizinischen Gründen frei und behauptete ich wäre suizidgefährdet.

Was waren deine Erfahrungen als russischsprachige Person in der Politik?

Von Anfang an, zuerst bei den LGBT-Gruppen und später auch bei den Kämpfen gegen die Besatzung, herrschte immer diese grundlegende Ahnungslosigkeit bezüglich meiner Herkunft oder was es bedeutet, aus einer migrantischen Familie zu kommen, die sich wahrscheinlich viel mehr Sorgen machen würde. Was wäre passiert, wenn ich festgenommen worden wäre - sie würden weder einen Anwalt bezahlen noch meinem nicht russischsprachigen Arbeitgeber die Lage erklären können. Die psychologische Struktur von Migrant*innen ist davon geprägt, Angst zu haben etwas zu tun oder zu sagen. Vom ersten Moment an bekamen wir in Israel gesagt, wenn es euch hier nicht passt, dann geht doch zurück nach Russland (natürlich ohne zu wissen, dass gar nicht alle von uns aus Russland kamen, sondern aus 16 verschiedenen Republiken).

Hast du selbst innerhalb der Linken Diskriminierung erfahren?

Ja, im Hinblick darauf, wie wir als die Russischsprachigen in der israelischen Gesellschaft grundsätzlich als untrennbare Einheit stigmatisiert sind, auch innerhalb der linken Szene. Viele Male habe ich gehört, „ernsthaft, du bist Russin und links?“ Wie kommt es dazu? Es gibt diese rassistische Generalisierung, dass alle Russen rechts sind, ohne zu erkennen, dass diese Hunderttausenden russischsprachigen Menschen gar kein homogener Block sind. Es gibt Ultra-Orthodoxe, Nationalreligiöse und Säkulare, Linke und Rechte, Aschkenasim und Nicht-Aschkenasim. Wenn ich auf Demos von Aktivist*innen zu hören bekomme, dass sie kaum linke Russen wahrnehmen, hat das in erster Linie mit dem sozio-ökonomischen Status der Einwanderer*innen zu tun, die kaum Zugang zu etablierten politischen Gruppen haben. Darüber hinaus haben sie kaum Zeit für Aktivismus, da sie viel härter arbeiten müssen und oft mehr als einen Job haben, weil sie sich finanziell auf niemanden verlassen können.

Womit beschäftigst du dich heutzutage aktivistisch?

In den letzten Jahren fing ich an, mich mit meiner Identität auseinanderzusetzen, mit der Frage wer ich innerhalb der israelischen Gesellschaft bin. Ich fing an zu erkennen, dass mein Vater Christ ist, dass ich Russisch spreche und das ich mich deshalb nicht zu schämen brauche. In den letzten drei Jahren erleben wir eine besondere Aufbruchsstimmung unter den Russischsprachigen, die davon frustriert sind, seit über 25 Jahren hier zu leben, und immer noch als Newcomer wahrgenommen zu werden. Meine Aktivitäten in der Feministischen Liga der Russischsprachigen sind daher zweideutig – an erster Stelle sprechen wir innerhalb der Community über Feminismus, heute auf Russisch fast ein schmutziges Wort, außerdem zeigen wir auch der israelischen Öffentlichkeit, dass wir eine heterogene und aktivistische Community sind, die sie nicht einfach mit Klischees abtun können.

Was wünschst du dem Staat Israel zu seiner 70-jährigen Unabhängigkeit?

Das Beste, was ich diesem Staat wünschen kann, ist, dass er aufhört rassistisch zu sein. Der Rassismus in Israel ist nicht nur der Rassismus von Juden und Jüdinnen gegen Palästinenser*innen, es gibt auch einen inneren Rassismus in der israelischen Gesellschaft: Zwischen Aschkenasim und Mizrachim, gegenüber den äthiopischen Juden oder den Menschen aus der früheren Sowjetunion. Die Situation hier ist sehr vielschichtig und natürlich spielen auch Homophobie, Sexismus und die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern eine Rolle.

Wie feierst du eigentlich den Unabhängigkeitstag?

Ich war nie wirklich begeistert von diesem Tag. Ich habe kein starkes Bedürfnis zu feiern. Wenn ich die Aussagen in den ersten zionistischen Kongressen betrachte, nehme ich eine große Diskrepanz wahr, zwischen dem, was die Idee eines jüdischen Staates sein sollte und dem, was wir heute erleben. Aber auch persönlich bin ich unsicher, was ich von einem Staat halten soll, der meine Familie diskriminiert und in dem ich immer noch, nach 27 Jahren, als Russin und Newcomerin wahrgenommen werde. Diesbezüglich habe ich viele innere Konflikte. Trotzdem habe ich nur einen israelischen Pass und keine andere Staatsbürgerschaft.

Das Interview führte Yossi Bartal

Weiterführende Links:

- Internationaler Frauenkampftag in Israel, darunter Interview mit Yulia Zemlinskaya:

- Partnertext Morashtenu

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Gegen den Strom – was bewegt israelische Aktivistinnen anno 2018?

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