Der Hahnenkampf – Israel vor den Wahlen zur 22. Knesset
Gewinnen die Rechtspopulisten um Netanjahu und Likud die Wahlen zur 22. Knesset? Welche Alternativen bieten Blau-Weiß, die Gemeinsame Liste, die Arbeitspartei oder Meretz? Und wie steht es um die israelische Demokratie? Eine Vorwahlanalyse
Der Triumph währte nicht lange. Obwohl das rechte Lager im April 2019 von 120 Knesset-Mandaten 65 und damit die absolute Mehrheit erobert hatte, konnte Wahlsieger Premierminister Benjamin Netanjahu (Likud) keine Regierungskoalition bilden. In der entstandenen Pattsituation löste sich die Knesset auf. Doch auch bei den für den 17. September angesetzten Wahlen scheinen sich die Kräfteverhältnisse zwischen dem Netanjahu-treuen Lager und der Opposition nicht grundlegend zu verschieben. So könnten nach den Wahlen Verhandlungsgeschick, Nervenstärke, aber auch die Staatsanwaltschaft den Ausschlag bei der Bildung einer Regierungskoalition geben.
Machos unter sich
Haupthindernis auf dem Weg Netanjahus zu einer fünften Amtszeit war Avigdor Lieberman, Netanjahus ehemaliger Büroleiter und Likud-Generalsekretär, heute Vorsitzender der säkular-nationalistischen Partei Unser Zuhause Israel.
Obwohl er im rechten Lager fest verankert ist, weigerte sich Lieberman, in eine von Netanjahu geführte Regierung einzutreten mit der Begründung, in einer Koalition mit knapper Mehrheit würden die ultraorthodoxen Parteien eine zu gewichtige Rolle spielen. Diese konnten ihren Stimmenanteil bei den letzten Wahlen vergrößern und hätten bei einer rechten Koalition 16 der 65 Abgeordneten gestellt. Lieberman forderte stattdessen eine Große Koalition aus Likud und der wichtigsten Oppositionsliste. Doch Blau-Weiß weigerte sich – ebenso wie alle anderen Oppositionsparteien –, mit dem Likud zu koalieren, solange Netanjahu die Partei führt, dem in mehreren Fällen Bestechlichkeit, Betrug, Untreue und obendrein illegale Einflussnahme auf zwei führende israelische Nachrichtenportale vorgeworfen wird.
Liebermans Begründung, den politischen Einfluss der ultraorthodoxen Parteien nicht wachsen lassen zu wollen, ist allerdings fadenscheinig. Recht häufig ist er mit ihnen ausgezeichnet ausgekommen, zuletzt als es darum ging, einen missliebigen säkularen Bürgermeister in Jerusalem zu verhindern. Seine wahren Gründe liegen vielmehr in der persönlichen Rivalität zu seinem einstmaligen Mentor: Es ist ein lupenreiner Machtkampf, bei dem sich Lieberman an Netanjahu rächt und als sein Nachfolger zu präsentieren trachtet.
Insgesamt spitzt sich bei diesen Wahlen die schon lange zu beobachtende Entwicklung zu, dass inhaltliche Auseinandersetzungen zugunsten der Frage nach der bevorzugten Führungsperson verblassen. Gegen die alten Haudegen Netanjahu und Lieberman setzt auch die Opposition auf erfahrene Krieger – im wahrsten Sinne des Worts. Blau-Weiß kann zwar keinen charismatischen Vorsitzenden vorweisen, dafür hat die Liste an ihrer Spitze gleich drei ehemalige Generalstabschefs der israelischen Armee. Auch die linke Meretz fürchtete, an der 3,25-Prozent-Hürde zu scheitern, und tat sich in mit dem ehemaligen Premier der Arbeitspartei und Generalstabschef Ehud Barak zusammen.
Alternativlosigkeit als Krisenursache
Dass die Parteien auf starke Männer setzen, ist dem Mangel an alternativen Entwürfen in den wichtigsten Feldern israelischer Politik geschuldet. Früher als in anderen Ländern befürwortete die stärkste Kraft der israelischen Linken, die sozialdemokratische Arbeitspartei, in den 1980er-Jahren die neoliberale Ideologie als alternativlose Wirtschaftspolitik und war ausschlaggebend für die Privatisierungs- und Niedrigsteuerpolitik ebenso wie für die Zerschlagung der Gewerkschaftsmacht. Und seitdem ihr damaliger Parteivorsitzender Ehud Barak im Jahr 2000 als Premierminister der israelischen Öffentlichkeit vollmundig und wider besseren Wissens verkündete, es gebe keinen Partner für Frieden auf palästinensischer Seite, hat die Partei auch keine Friedenspolitik mehr, die den Namen verdient. Sie erwähnt die Zweistaatenlösung nur noch im Kleingedruckten und stellt sie unter Bedingungen, die einen lebensfähigen Staat Palästina unmöglich machen.
In Ermangelung von inhaltlichen Alternativen reduziert sich der politische Diskurs auf ein reines Manövrieren um die Macht. Hierbei rücken zwei Fragen immer stärker in den Mittelpunkt: Welche Figur ist aufgrund ihrer persönlichen Eigenschaften am geeignetsten, das Land zu führen, und welche Gruppe erhält welchen Anteil vom Kuchen? Das Fehlen konkurrierender Zukunftsvisionen befördert das Desinteresse an Politik überhaupt und zugleich die Bejahung der gegenwärtigen Zustände: Es mag sein, sagen sich viele, dass es eine lang anhaltende Besatzung und Unterdrückung eines anderen Volks gibt – wir sehen aber keinen Ausweg und wollen uns dafür auch nicht mehr entschuldigen; es mag ebenfalls sein, dass die durchschnittliche Armutsrate in Israel mit 18 Prozent höher ausfällt als in allen anderen Industrieländern, die Mittelschicht schrumpft und der Reichtum sich bei einigen wenigen im Land konzentriert – wir können das aber sowieso nicht ändern, lasst uns deshalb lieber uns selber feiern. Was für eine Befreiung!
Entpolitisierung und die Bejahung der bestehenden Verhältnisse wirken systemstabilisierend. Gleichzeitig bleibt mitnichten alles beim Alten. Infolge abnehmender Solidarität in Zeiten einer neoliberalen Wirtschaftsordnung und der Schwächung des Staatsapparats und weiterer Institutionen, etwa der Gewerkschaften, sowie angesichts eines schwelenden nationalen Konflikts und der inhärenten Fragilität eines Einwanderungslandes gewinnt die Volkszugehörigkeit als Ort echter und vorgestellter Solidarität enorm an Bedeutung. Für die jüdische Mehrheitsgesellschaft Israels ist dieses Volk das jüdische Volk. Damit sind alle Ansätze aus den liberalen 1990er-Jahren obsolet geworden, die versuchten, das Staatsvolk durchlässiger zu denken, sprich nicht als gleichbedeutend mit dem jüdischen Volk allein, sondern – auch – als ein israelisches. Dann würden auch die arabisch-palästinensische Minderheit im Land, immerhin 20 Prozent der israelischen Staatsbürger*innen, sowie nichtjüdische Migrant*innen zum Staatsvolk gehören. Im aktuellen israelischen Diskurs ist es jedoch selbstverständlich, Vorteile der jüdischen Mehrheitsgesellschaft gegenüber Nichtjuden und auf deren Kosten zu bewahren und auszubauen. Das gilt für das 2018 beschlossene Nationalstaatsgesetz, das jüdische Gruppeninteressen über das Gleichheitsgebot der Demokratie stellt;[1] und das gilt für die von der Bevölkerungsmehrheit unterstützten Versuche des Staats, alle nichtjüdischen, vor allem aus der Subsahara stammenden Geflüchteten – Kulturministerin Miri Regev nennt diese ein „Krebsgeschwür im Körper der jüdischen Nation“ – des Landes zu verweisen[2] und nichtjüdischen Arbeitsmigrant*innen das dauerhafte Niederlassungsrecht oder die Einbürgerung grundsätzlich zu verwehren.[3]
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Der Rechtspopulist als Nutznießer der Krise
Niemand verstand es besser als Netanjahu, diesen Rückfall in die Stammesidentität für sich auszunutzen und sich als Retter des jüdischen Volks zu gerieren. Sein Aufstieg zur unangefochtenen, ja schier unersetzlichen charismatischen Führungsfigur des Landes ist eng verbunden mit einer „Politik der Feindschaft“, sprich der Instrumentalisierung von realen und imaginierten äußeren und inneren Gegnern Israels. Zu diesen zählten zunächst die Palästinenser*innen und der Iran sowie der Unterzeichner der Oslo-Verträge, Jitzchak Rabin, das Friedenslager insgesamt und „die Linke“ im Allgemeinen. In den vergangenen Jahren gerieten auch nichtjüdische Geflüchtete und Migrant*innen ins Visier Netanjahus, zuletzt in wachsendem Maße Kritiker*innen seiner Politik im westlichen Ausland, denen er Israel-Feindschaft oder gar Antisemitismus vorwirft.
In der so imaginierten Dauerkrise erscheint Netanjahu als edler Ritter. Sind die Stammesinteressen die ausschlaggebende Bezugsgröße der politischen Diskussion, so erscheinen Institutionen wie die Parteien, die Medien oder die Gewaltenteilung als bloße Hindernisse auf dem Weg zur Durchsetzung des Volkswillens. Unter solchen Vorzeichen inszeniert sich Netanjahu – ungeachtet der Tatsache, dass er der am längsten amtierende Premier in der israelischen Geschichte ist – als Kämpfer des Volks gegen die Eliten und das Establishment. Den einst stolzen Likud hat er zu seinem Wahlverein degradiert und ihn von seiner alten Garde, die sich zwar stramm rechts positionierte, zugleich aber den Rechtsstaat achtete, gesäubert. Schließlich untergräbt Netanjahu im Namen des Volks die Arbeit und die Glaubwürdigkeit der Medien und der Institutionen, die für demokratische Kontrolle stehen und Rechtsstaatlichkeit, ordnungsgemäße Verwaltung und den Schutz der Menschenrechte garantieren. Das traf zuletzt sogar die Armee, eine bis dato „heilige“ Institution, weil sie einen Soldaten vor ein Militärgericht stellte, der einen am Boden liegenden, schwer verletzten palästinensischen Attentäter erschossen hatte.
Damit befindet sich Netanjahu in bester schlechter Gesellschaft. Auf riesigen Wahlplakaten posiert er mit Wladimir Putin, Narendra Modi und Donald Trump, und mit Rechtspopulisten geht er Allianzen ein, indem er etwa die antisemitische Kampagne des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán gegen den Investor und Philanthropen George Soros unterstützt. Zwar brüskiert er damit liberale Bündnispartner in der EU oder die Demokratische Partei und erhebliche Teile der traditionell linken bzw. liberalen jüdischen Gemeinden in den USA. Doch im Gegenzug erhält er die politische Unterstützung von jenen Kräften, die in ihm einen vorbildlichen illiberalen Demokraten und Verfechter des Ethnonationalismus sehen, von radikalen Evangelikalen in Baden-Württemberg, von der mitteleuropäischen Visegrád-Gruppe, die jedwede Kritik an der israelischen Besatzungspolitik durch die EU zu verhindern sucht, oder von US-Präsident Trump, dessen Entscheidung, die amerikanische Botschaft nach Jerusalem zu verlegen und die israelische Annexion der Golanhöhen anzuerkennen, Netanjahu innen- wie außenpolitisch erheblich stärkte.
Netanjahus nationalreligiöse Alliierte
Ob Netanjahu bei den kommenden Wahlen Erfolg haben wird, hängt davon ab, ob das rechte Lager auch ohne Liebermans Partei eine Mehrheit erhält. Derzeit liegt es Umfragen zufolge knapp unter der absoluten Mehrheit. Neben dem Likud, der bei geringen Einbußen mit etwa einem Viertel der Stimmen rechnen kann, gehören drei religiöse Parteien zu diesem Lager, darunter die beiden ultraorthodoxen Parteien Schas und Vereintes Thora-Judentum, die früher das Zünglein an der Waage zwischen Likud und der Arbeitspartei darstellten. Diese Funktion nutzten sie, um möglichst viel für ihre oft armen und kinderreichen Klientel herauszuholen, hielten sich ansonsten aber aus der Politik heraus. Heute sind ihre Wähler*innen fest im nationalistischen Lager verankert. Der dritte potenzielle Koalitionspartner ist die Liste Nach Rechts, eine Vereinigung mehrerer rechtsradikaler Parteien, die mit etwa zehn Prozent der Stimmen rechnen kann.
Bemerkenswert hierbei ist die fortschreitende Verzahnung der ultraorthodoxen und der nationalistischen Milieus zu einer sendungsbewussten, mitunter messianischen Gruppe, deren Vertreter*innen Schlüsselpositionen wie die Bildungs- und Justizressorts oder den Vorsitz des Finanzausschusses innehaben und so stetig an Einfluss gewinnen.
Blau-Weiß: die Herausforderin
Aufgeschreckt durch die ständige Hetze gegen den Rechtsstaat und die „Eliten“ sowie durch die wachsende Macht der religiösen Parteien hat sich vor den letzten Wahlen Blau-Weiß (Kachol-Lawan, die Farben der Nationalfahne) konstituiert, eine aus drei neuen Parteien bestehende Liste. Mit vier Generälen, einer Generalin sowie mehreren gewichtigen Vertreter*innen aus Verwaltung und Medien repräsentiert die Liste das israelische Establishment. Ihr gemeinsamer Nenner ist die Gegnerschaft zu Netanjahu und zu den rechtspopulistischen Angriffen auf den Rechtsstaat und seine Institutionen. Die Korruption soll bekämpft, Rechtsstaat und Meinungsfreiheit sollen gestärkt, eine weitere Verzahnung von Staat und Religion soll verhindert werden. In anderen Bereichen unterscheidet sich Blau-Weiß indes nicht wesentlich vom Likud. Auch sie nutzen Netanjahus geflügeltes Wort, Israel müsse „ewig mit dem Schwert leben“, und sprechen nicht von einer Zweistaatenlösung, sondern versprechen, sich nicht aus dem Jordantal und Ostjerusalem zurückzuziehen, was de facto eine Absage an einen lebensfähigen Palästinenserstaat darstellt. Und was den Gazastreifen betrifft, so brüstet sich die Liste damit, noch härter vorgehen zu wollen, als es Netanjahu tut. Auch die gegenwärtige Sozial- und Wirtschaftspolitik wird nicht grundsätzlich infrage gestellt. Den Umfragen nach würde Blau-Weiß erneut etwa ein Viertel der Stimmen auf sich vereinen.
Links der Mitte I: die Arbeitspartei und Gescher
Während bei den anderen Parteien vieles gleich geblieben ist, hat es links von der Mitte große Veränderungen gegeben. Drei Listen stellen sich hier zur Wahl, jeweils anders ausgerichtet als bei den letzten Wahlen.
Die einst so stolze Arbeitspartei, die Israels Politik von der Staatsgründung bis 1977 durchgehend dominierte und auch später gelegentlich den Premier stellte, erhielt bei den letzten Wahlen gerade noch sechs Mandate (also knapp fünf Prozent), ein historisches Tief. Im anschließenden Richtungsstreit setzte sich Amir Peretz gegen zwei Kandidat*innen der jüngeren Generation durch, die bei den sozialen Protesten im Jahr 2011 eine führende Rolle gespielt hatten. Peretz, 1952 in Marokko geboren, war schon von 2005 bis 2007 Parteivorsitzender gewesen. Damals wie heute konnte er überzeugen als der Kandidat, der die Interessen ärmerer Bevölkerungsschichten, allen voran der Mizrachim, glaubhaft vertritt und diese einbinden kann. Für die Arbeitspartei ist dies überlebenswichtig, denn für Jüdinnen und Juden aus islamisch geprägten Ländern, die Mizrachim, die vor allem in den 1950er-Jahren nach Israel eingewandert sind und etwa die Hälfte der jüdischen Bevölkerung im Land ausmachen, ist sie bis heute kaum wählbar. Die Arbeitspartei gilt als die Partei, die zwar Gleichheit predigte, die Mizrachim zugunsten der aus Europa stammenden Aschkenasim aber benachteiligte, mitunter rassistisch behandelte und am sozioökonomischen Aufstieg hinderte.[4] Mit der Wahl des Gewerkschafters und ehemaligen Bürgermeisters der peripheren, armen und in der Regel stramm rechts wählenden Kleinstadt Sderot in direkter Nachbarschaft zum Gazastreifen macht die Arbeitspartei, so der Publizist Meron Rapoport, einen revolutionären, aber überfälligen Schritt.[5] Zu lange habe die Linke insgesamt die jüdischen Peripherien vernachlässigt, wo ein Viertel der Stimmen zu vergeben ist, die linken Parteien aber lediglich drei Prozent der Wählerstimmen erhalten.
Zur Wahl stellt sich die Arbeitspartei zusammen mit der von Mizrachi- und feministischen Aktivist*innen gegründeten Gescher (hebr.: Brücke), die sich vom rechten Lager aufgrund starker Divergenzen im sozioökonomischen Bereich abgespalten hat. Das Wahlprogramm der Liste ist geradezu revolutionär für die Arbeitspartei und zielt auf einen radikalen Richtungswechsel in der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Durch eine höhere staatliche Verschuldung und eine höhere Besteuerung der Wohlhabenden sollen Investitionen in die Infrastruktur getätigt, der Mindestlohns auf 40 NIS (ca. zehn Euro) erhöht, die Invaliden- und Rentenbezüge angehoben und die Bildungseinrichtungen und Gesundheitsdienste wieder völlig aus Steuereinnahmen finanziert werden. In Bezug auf das Verhältnis zur palästinensischen Minderheit in Israel oder auf Friedensfragen bleibt die Liste vage, sieht jedoch einen Investitionsstopp für Siedlungen in der Westbank jenseits der großen Siedlungsblöcke vor.
Ob die Wähler*innen sich von einer so kurz vor den Wahlen erklärten Rückkehr zu den Grundsätzen linker sozialdemokratischer Politik überzeugen lassen, scheint fraglich, zumal die Arbeitspartei seit geraumer Zeit kaum Präsenz zeigt oder an lokalen Kämpfen teilnimmt.
Links der Mitte II: Meretz und das Demokratische Lager
Für einen umgekehrten Kurs hat sich Meretz entschieden, die sich nach wie vor stolz eine linke Partei nennt, die für einen historischen Kompromiss mit den Palästinenser*innen eintritt und für sozialdemokratische bis sozialistische Wirtschaftspositionen sowie eine progressive Geschlechter-, Verkehrs- und Umweltpolitik steht: Meretz hat sich mit dem ehemaligen Premier Ehud Barak zum Demokratischen Lager zusammengeschlossen. Baraks Anliegen ist die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Wie Meretz plädiert er für eine Zweistaatenlösung. Andererseits ist Barak bei der arabisch-palästinensischen Minderheit in Israel umstritten, wenn nicht gar verhasst, weil er im Oktober 2000 als Premierminister die blutige Unterdrückung von Protesten in den arabischen Städten im Norden Israels zu verantworten hatte.
Meretz stärkt durch das Bündnis mit Barak ihren Ruf als Partei des schwindenden europastämmigen Bildungsbürgertums, gefährdet aber gleichzeitig ihren Erfolg bei der palästinensischen Minderheit, der ihr bei den letzten Wahlen ein Viertel ihrer Gesamtstimmen bescherte. Andererseits könnte sie diejenigen Stimmen aus der Arbeitspartei holen, die den neuen Kurs der Partei nicht mittragen wollen, weil diese ihren europäischen und urbanen Subtext abstreift und sich den Peripherien, den Marginalisierten und den Mizrachim öffnet.
Links der Mitte III: die Gemeinsame Liste
Die 2015 gegründete Gemeinsame Liste galt als große Hoffnung der palästinensischen Staatsbürger*innen Israels,[6] die ihr bei den Wahlen 2015 zu 85 Prozent die Stimme gaben und sie mit 13 Abgeordneten zur drittgrößten Fraktion in der Knesset machten. Im Vorfeld der Wahlen im April 2019 zerbrach sie an persönlichen Querelen. Aus einer gemeinsamen Liste wurden zwei völlig willkürlich zusammengesetzte Listen, die zusammen lediglich zehn Mandate erhielten.
Sich dem Willen der Wähler*innen beugend, entstand die Gemeinsame Liste jetzt erneut als Zusammenschluss von vier unterschiedlichen Parteien, die die Interessen der palästinensischen Minderheit in Israel vertreten. Die Liste versammelt sehr unterschiedliche politische Positionen, von sozialistischen über liberale bis zu islamisch-konservativen. In der gesamten arabischen Welt – aber auch in Europa, gar weltweit – wurde die Liste aufmerksam, mitunter begeistert wahrgenommen, schließlich stellte sie 2015 einen Gegenpol zu den mitunter kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen ebendiesen Gruppen in anderen Ländern der Region dar. Unter ihren Kandidat*innen gibt es Muslime, Christen, Drusen, Beduinen sowie einen jüdischen Sozialisten. Vor allem die sozialistische Demokratische Front für Frieden und Gleichheit, Chadasch/al-Dschabha, sorgte innerhalb des Bündnisses dafür, dass die Gemeinsame Liste ein Programm besaß, das nicht nur die Interessen der palästinensischen Minderheit in Israel berücksichtigte, sondern eine progressive Vision – ein Ende der Besatzung, eine Demokratie, die mehr ist als die Willensbekundung der Mehrheit, und mehr soziale Gerechtigkeit – für Israel insgesamt beinhaltete.[7]
Ob die Gemeinsame Liste ihren Erfolg von 2015 am 17. September wiederholen kann, ist fraglich, denn die persönlichen Streitereien des Führungspersonals Anfang des Jahres haben zu einer Politikverdrossenheit vor allem unter jungen Wähler*innen geführt.[8] Die palästinensischen Staatsbürger*innen Israels noch einmal mobilisieren zu können, das hängt auch vom Verhalten der anderen Oppositionsparteien ab. Wenn sich jenseits von Meretz keine Partei findet, die sie – anders als das rechte Lager, das sie für schlicht illegitim hält und aus dem politischen Spiel grundsätzlich ausschließt – als Verbündete wahrnimmt, so wird es zunehmend schwer zu vermitteln sein, warum die palästinensischen Staatsbürger*innen Israels überhaupt an Wahlen teilnehmen sollten.
Vor diesem Hintergrund hat sich der Vorsitzende der Gemeinsamen Liste, Ayman Odeh, bereit erklärt, sich einer Mitte-links-Koalition anzuschließen, wenn Blau-Weiß einigen grundlegenden Forderungen zustimmt, die Israels palästinensischen Bürger*innen und den Friedensprozess betreffen, sodass die arabischen Bürger*innen keine Bürger*innen zweiter Klasse mehr sind. Dieses historische Koalitionsangebot ist umgehend auf Ablehnung gestoßen: Blau-Weiß wies jede Zusammenarbeit mit der Gemeinsamen Liste zurück, der Likud warnte sogar vor der Gefahr einer von Terroristen unterstützten Regierung.
Aussichten
Die Schlüsselfrage dieser Wahlen lautet, ob Benjamin Netanjahu noch auf dem Zenit seiner Macht ist oder ob sie das Ende seiner rechtspopulistischen Ära bringen werden. Am wahrscheinlichsten ist eine erneute Pattsituation, in der beide Lager das andere zu destabilisieren trachten. Netanjahu wird alles in seiner Macht Stehende für die Bildung einer Koalition tun, um aus der vorteilhaften Position eines amtierenden Premiers sich den nahenden Gerichtsverhandlungen zu stellen oder diese zu verhindern. Er wird die instabilen Listen Blau-Weiß und Arbeitspartei-Gescher bzw. einzelne Abgeordnete dieser Listen durch inhaltliche Zugeständnisse oder mittels Posten ködern wollen. Blau-Weiß und Lieberman werden im Gegenzug versuchen, den Likud gegen den bewunderten und gefürchteten, aber kaum geliebten Netanjahu aufzuwiegeln. Schließlich wird auch die Staatsanwaltschaft ein Wörtchen mitreden, und von ihren Entscheidungen, wann und ob Netanjahu vor Gericht gestellt wird, könnte einiges abhängen.
Wie auch immer die Wahl ausgeht, so ist friedenspolitisch kaum mit positiven Veränderungen zu rechnen, denn gut 80 Prozent der Stimmen werden Parteien zukommen, die sich explizit oder implizit und mit unterschiedlicher Rhetorik gegen die Gründung eines lebensfähigen Palästinenserstaats und damit einer Zweistaatenlösung stellen. Je rechter die Mehrheit ausfällt, umso wahrscheinlicher wird eine Politik, die durch weitere Kolonisierungsprozesse, bei denen die Palästinenser*innen zugunsten israelischer Infrastruktur in dicht bevölkerte Enklaven verdrängt werden, eine Friedenslösung auch künftigen Generationen verbaut. Bei sozioökonomischen Fragen ist ebenfalls keine progressive Wende zu erwarten, und es wird darauf ankommen, ob die zart aufkeimenden Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit größeren Zuspruch außerhalb des Parlaments erhalten.
Ausschlaggebend könnte die Wahl jedoch in Sachen Rechtsstaatlichkeit sein. Gewinnt das rechte Lager, so ist mit einem weiteren Abbau der Demokratie zu rechnen sowie mit einer noch stärkeren Verzahnung von religiös-messianischen und ethnonationalistischen Diskursen zu einem toxischen Gemisch, das mit Demokratie kaum vereinbar ist. Verliert das rechte Lager oder benötigt es einen Koalitionspartner aus dem bisherigen Oppositionslager, so könnten diese Prozesse gestoppt oder gar rückgängig gemacht werden. Insgesamt gilt aber auch dann die alte Feststellung, dass ein Land kaum demokratisch verfasst sein kann, wenn es gleichzeitig auf Dauer einem anderen Volk systematisch die Selbstbestimmung verweigert und damit Millionen von Menschen Bürger- und Menschenrechte vorenthält.
Israels linke Parteien finden sich bei diesen Wahlen in einer ungewöhnlichen Konstellation wieder. Keine der drei Listen links von der Mitte ist eine klassisch linke. Vielmehr spricht jede von ihnen eine Teilöffentlichkeit an und ist folglich eine Interessenvertretung. Während die Gemeinsame Liste vor allem den Anspruch erhebt, die palästinensischen Staatsbürger*innen Israels zu repräsentieren, ist das Demokratische Lager klar eine Friedensliste europäischer Konvenienz, deren Sozialprofil – entsprechend ihrer gut situierten, urbanen Wählerschaft – zwischen links und liberal oszilliert. Die Liste Arbeitspartei-Gescher hingegen spricht marginalisierte Gruppen an, vor allem die Mizrachim, hat aber mitnichten ein linkes friedenspolitisches Profil. Damit ist das linke Lager nach Milieus zersplittert. Ob diese Listen – jede für sich oder gemeinsam – dem rechtsnationalistischen Hegemonialdiskurs einen progressiven entgegenstellen können, bleibt eine offene Frage.
Übersicht der wichtigsten Parteien
Likud
Der Likud (hebräisch für: Vereinigung, voller Name: der Likud - eine liberale nationale Bewegung) wurde 1973 als gemeinsame Wahlliste der von Menachem Begin geführten rechtsnationalistischen Cherut-Partei und einer Reihe von rechten und liberalen Bewegungen/Parteien etabliert. Die Wahlliste wurde 1988 zu einer Partei. Der Likud setzte sich an die Spitze des Protests der Mizrachim gegen die Arbeitspartei und gewann so die Wahlen 1977, womit die Vorherrschaft der Arbeitspartei zu Ende ging, und hat seitdem häufig die Regierungskoalitionen geführt. Seit 2009 stellt der Likud mit Benjamin Netanjahu durchgehend den Premierminister. Im Verlauf des letzten Jahrzehnts wurden die liberal-demokratischen Stimmen im Likud völlig marginalisiert, sodass die Partei gegenwärtig nicht nur tradierte rechtsnationalistische Positionen vertritt, sondern auch zunehmend rechtsstaatliche Grundsätze infrage stellt. Da die Partei in den letzten Jahren zunehmend zu einer Wahlliste von Premier Netanjahu geworden ist, hat sie seit 2009 kein neues Parteiprogramm mehr und wirbt lediglich mit den Vorzügen ihres Vorsitzenden und ihrer Führungsriege. Zu den bevorstehenden Wahlen in September wurde die Partei Kulanu, eine etwas moderatere Abspaltung vom Likud, die bei den Wahlen im April 2019 vier Mandate errang, aufgelöst und ging im Likud wieder auf.
Vorsitzender: Benjamin Netanjahu
Schas
Die 1984 gegründete und seit 1988 in der Knesset vertretene jüdisch-orthodoxe Schas (hebräisch: Akronym für Sephardische Thora-Wächter) versteht sich in sozialen und religiösen Fragen als Interessenvertreterin der Mizrachim und als Bewahrerin von deren religiös-kultureller Identität. Sie entwickelte sich relativ schnell zu einer beachtlichen politischen Kraft. 1999 erreichte sie mit 17 Knesset-Sitzen ihr bislang bestes Ergebnis. Ihr Parteiführer Arje Deri wurde 2000 wegen Bestechung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Er galt (und gilt) bei den Anhänger*innen als unschuldig verurteilt beziehungsweise als politisch durch das aschkenasische Establishment verfolgt. Die Trennung von Staat und Religion in familienrechtlichen Angelegenheiten lehnt Schas strikt ab. Nicht zuletzt aus finanzpolitischen Erwägungen - staatliche Finanzierung des ultraorthodoxen Schulwesens und sozialer Einrichtungen - beteiligt sich die Partei mehrfach an Regierungskoalitionen, zuletzt vorzugsweise mit dem Likud. Die Partei stellt grundsätzlich keine Frauen zur Wahl.
Vorsitzender: Arje Deri
Vereintes Thora-Judentum
Eine ultraorthodox-religiöse Allianz von zwei Parteien, Agudat Jisra‘el (hebräisch: Der Verein Israels, die Partei der Chassidim) und Degel HaTora (hebräisch: Fahne der Thora. Diese repräsentiert den nicht-chassidischen Teil des ultraorthodoxen Judentums, steht also in der Tradition der litauischen Mitnagdim). Ihre feste Klientel sind die streng religiösen aschkenasischen aus (Ost- und Mittel-)Europa stammenden Jüdinnen und Juden, konzentriert insbesondere in mehreren Wohnbezirken Jerusalems, in Bnei Brak (Großraum Tel Aviv) und in einigen Siedlungen der Westbank. Sie strebt eine Ausweitung der religiösen Gesetzgebung auf alle Bereiche des täglichen Lebens an, plädiert für die Zurücknahme säkularer Elemente in Staat und Gesellschaft und lehnt westliche Kultureinflüsse bzw. Gesellschaftsmodelle, etwa die Einberufung ultraorthodoxer junger Männer zum Wehrdienst, ab. Nicht zuletzt aus finanzpolitischen Erwägungen - staatliche Finanzierung des ultraorthodoxen Schulwesens und sozialer Einrichtungen - beteiligt sich die Partei mehrfach an Regierungskoalitionen, zuletzt vorzugsweise mit dem Likud, übernehmen jedoch aus religiösen Gründen keine Ministerposten sondern höchstens Vizeministerposten, um sich wenigstens symbolisch von der säkularen Gewaltausübung des Staates zu distanzieren. Die Partei stellt grundsätzlich keine Frauen zur Wahl.
Vorsitzende: Yaakov Litzman (Agudat Israel) und Mosche Gafni (Degel HaTora)
Nach Rechts
Ein vor den Wahlen geschlossenes politisches Bündnis der rechtsnationalistischen, nationalreligiösen und rechtsextremen Parteien in Israel. Sie besteht aus den Parteien Die Neue Rechte, Jüdisches Heim und die Nationale Union - Tkuma (Deutsch: Wiedergeburt). Die Partei steht für einen neoliberalen Wirtschaftskurs, „höchste Transparenz“ bei den Gewerkschaften, für die Annexion großer Teile der Westbank und eine beschränkte Autonomie für die Palästinenser*innen in den dichtgedrängten verbleibenden Enklaven, für die Beschneidung der Befugnisse der Gerichte und für die Stärkung der jüdischen Identität, unter anderem durch die Abschaffung des Bleiberechts für nicht-jüdischen Migrant*innen.
Vorsitzende: Ajelet Shaked (Die Neue Rechte)
Unser Zuhause Israel
Jisra‘el Beitenu ist eine 1999 vom ehemaligen Generalsekretär des Likud und Büroleiter Netanjahus, Avigdor Lieberman gegründete säkular-nationalistische israelische Partei, die sich als Partei der Einwanderer*innen aus der ehemaligen Sowjetunion versteht und vor allem eine harte Linie gegenüber Israels palästinensischer Minderheit fährt. Ihren bisherigen Höhepunkt erreichte sie mit 15 Knesset-Sitzen 2009. Ihr Vorsitzender Liebermann amtierte als Außen- und Verteidigungsminister. Nach den Wahlen im April 2019 weigerte sich Lieberman in eine vom Likud geführte, rechte Koalition einzutreten und forderte stattdessen eine große Koalition ohne die orthodoxen Parteien. Daraufhin konnte Netanjahu keine Koalition formen und es kam zu Neuwahlen.
Vorsitzender: Avigdor Lieberman
Blau-Weiß
Kachol-Lawan (Die Farben der israelischen Fahne), das kurz vor den Wahlen im April 2019 gegründete Bündnis ist eine Zusammenführung dreier Parteien, die jeweils um eine öffentliche Person zentriert sind: der liberalen Jesch Atid des TV-Stars Jair Lapid (2013-14 Finanzminister unter Netanjahu. Während dieser Zeit setzte er trotz seines Versprechens, auf eine sozial gerechtere Gesellschaft hinzuwirken, Kürzungen in diversen Bereichen sowie Steuererhöhungen, die besonders die Mittelschicht und Menschen mit niedrigerem Einkommen betrafen, durch) und zweier Parteineugründungen um die ehemaligen Generalstabschefs der israelischen Armee Benny Gantz (Chosen LeJisra‘el, zu Deutsch: Widerstandskraft für Israel) und Mosche „Bogie“ Jaalon (Telem; Jaalon war bis zu einem Zerwürfnis mit Netanjahu Likud-Mitglied und 2013-16 Verteidigungsminister). Mit in der Führungsspitze ist ein dritter ehemaliger Generalstabschef, Gabi Aschkenasi sowie der bisherige Vorsitzende des Dachverbands der Gewerkschaften Israels Histadrut, Avi Nissenkorn. Sollte es dazu kommen, dass Blau-Weiß den Ministerpräsidenten stellen kann, so soll es zu einer Rotation kommen, nach der Gantz in den ersten zwei Jahren und Lapid in den nächsten zwei Jahren als Premierminister dienen.
Vorsitzende: Benny Gantz (Widerstandskraft für Israel) und Jair Lapid (Jesch Atid)
Die Arbeitspartei und Gescher
Ein Bündnis der Arbeitspartei und von Gescher, das sich vor allem für eine gerechtere Wirtschaftsordnung einsetzt mittels Erhöhung der staatlichen Verschuldung und der Besteuerung der Wohlhabenden zugunsten von Investitionen in die Infrastruktur, Erhöhung des Mindestlohns (auf 40 NIS, in etwa 10 €), der Invaliden- und Rentenbezüge sowie völlig von steuerfinanzierten Bildung und Gesundheitsdiensten. Zu Friedensfragen bleibt sie unbestimmt, sieht jedoch einen Investitionsstopp für Siedlungen in der Westbank jenseits der großen Siedlungsblöcke vor.
Gegründet 1968, steht die Arbeitspartei in der Nachfolge der zionistischen Arbeiterbewegung. Diese gründete in den 1920ern die Histadrut (wörtlich: Organisation; allgemeine hebräische Gewerkschaft), welche die hebräische Siedlungswirtschaft und Infrastruktur dominierte und später die Mapai (hebräisch: Akronym für Partei der Arbeiter in Eretz Israel) zur herrschenden Kraft in der zionistischen Bewegung machte. Mapai und ihre Nachfolgerin, die Arbeitspartei, waren bis 1977 die führende politische Kraft in Israel und stellten durchgehend den/die Premierminister*in. Danach wurde sie zur wichtigsten Oppositionspartei, konnte zudem mehrfach erneut den Ministerpräsidenten stellen, etwa von 1992 bis 1996 unter Jitzchak Rabin und Schimon Peres (Osloer-Abkommen) und von 1999 bis Anfang 2001 unter Ehud Barak. Die Arbeitspartei ist Mitglied der Progressiven Allianz und der Sozialistischen Internationale.
Gescher (Deutsch: Brücke) ist eine Partei, die um Orly Levy-Abekasis, Mizrachi-Aktivistin und Tochter eines ehemaligen Likud-Außenministers, zentriert ist und es bei den letzten Wahlen nicht in die Knesset schaffte. Während die Partei in Friedensfragen keine eindeutige Position hat, steht sie für eine klare sozialdemokratische Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Vorsitzende: Amir Peretz (Arbeitspartei) mit Orly Levy-Abekasis (Gescher)
Das Demokratische Lager
Das Demokratische Lager ist ein Bündnis dreier Parteien, das im Sommer 2019 entstanden ist. Es besteht aus den Parteien Meretz, Demokratisches Israel sowie die Grüne Bewegung.
Meretz (ein aus Parteinamen geformtes Akronym, das das hebräische Wort für Kraft/Energie bildet) ist eine Wahlliste, zu der sich 1992 die Bürgerrechtspartei Ratz, die linkszionistische Mapam und die liberale Schinui zusammenschlossen. Als solche hatten sie bei den Knesset-Wahlen 1992 ihren größten Erfolg (Sie errangen 12 von 120 Mandaten). Bei der Bildung der von Jitzchak Rabin geführten Regierungskoalition spielte sie eine Schlüsselrolle und ermöglichte somit später die Oslo-Abkommen. 1997 lösten sich die beteiligten Parteien auf und Meretz konstituierte sich als Partei. Meretz gilt als Hort des aus Europa stammenden jüdischen Bildungsbürgertums und ist (links)liberal bis sozialistisch geprägt.
Demokratisches Israel wurde 2019 vom ehemaligen Generalstabchef und Premierminister Ehud Barak (ehemals Arbeitspartei) gegründet.
Die Grüne Bewegung ist eine 2008 gegründete Partei, die es noch nie in die Knesset geschafft hat und sich vor allem sozialen und Umweltfragen widmet.
Die Leitlinien des Bündnisses sind eine „politische Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts unter Wahrung der Sicherheitsinteressen Israels“, die Abschaffung des Nationalstaatsgesetzes, eine gerechtere Sozial- und Wirtschaftsordnung sowie die Stärkung von Demokratie und Rechtstaats.
Vorsitzende: Nitzan Horowitz (Meretz) mit Ehud Barak (Demokratisches Israel) und Stav Shaffir (ehemals Arbeitspartei)
Die Gemeinsame Liste
Eine gemeinsame Wahlliste von Chadasch/al-Dschabha, Balad/al-Tadschamu’, der Vereinigten Arabischen Liste (geführt vom südlichen Flügel der Islamischen Bewegung) und Ta’al, die erstmals zu den Knesset-Wahlen 2015 antrat. Die Gemeinsame Liste gewann 13 Mandate und wurde damit drittgrößte Fraktion in der Knesset. Bei den Wahlen im April 2019 löste sie sich auf trat mit zwei Listen von jeweils zwei Parteien an. Vor den kommenden Wahlen konstituierte sich erneut als gemeinsame Liste aller vier Parteien.
Die Gemeinsame Liste repräsentiert die absolute Mehrheit der palästinensischen Minderheit in Israel, ist zugleich Heimat linker, anti- und nicht zionistischer Jüdinnen und Juden, die vor allem an der sozialistischen Chadasch/al-Dschabha angebunden sind. Gleichzeitig ist ihr Programm auf das gesamte israelische Gemeinwesen ausgerichtet, wobei die Forderung nach Beendung der Besatzung aller seit 1967 besetzten Gebiete sowie der Kampf um soziale Gerechtigkeit und Arbeiterrechte die Hauptpfeiler sind. Weitere Informationen hier: Gemeinsam anders – Die Gemeinsame Liste und progressive Politik in Israel.
Die Demokratische Front für Frieden und Gleichheit (Chadasch ist das Akronym des hebräischen Namens; außerdem das hebräische Wort für neu; al-Dschabha bedeutet auf Arabisch die Front) wurde 1977 von der Kommunistischen Partei Israels, der KPI, die nach wie vor dort eine zentrale Rolle spielt, als Bündnis linksgerichteter Kräfte gegründet und beteiligte sich als solches an den Wahlen. Ihr Slogan ist „Frieden und Gleichheit“. Sie steht für einen Rückzug Israels aus allen seit 1967 besetzen Gebieten und für eine Zweistaatenlösung, für die Gleichstellung der Palästinenser*innen in Israel und deren Anerkennung als nationale Minderheit sowie für die Rechte der arbeitenden Bevölkerung. Chadasch/al-Dschabha wird mehrheitlich von palästinensischen Israelis gewählt, doch sie legt großen Wert darauf, ein jüdisch-palästinensisches Bündnis zu sein. Sie war i. d. R. mit drei bis fünf Sitzen (von insgesamt 120) in der Knesset vertreten.
Ta'al (hebräisches Akronym für Arabische Erneuerungsbewegung) wurde von Ahmad Tibi, dem bekanntesten Politiker unter den palästinensischen Staatsbürger*innen Israels und ehemaligen Berater Jassir Arafats, Mitte der 1990ern gegründet.
Die Demokratische Nationale Allianz Balad/al-Tadschamu', 1995 als Abspaltung aus Chadasch/al-Dschabha gegründet, definiert sich als demokratische progressive nationale Partei für die palästinensischen Bürger*innen Israels. Die in sozialen Fragen eher sozialdemokratisch orientierte Partei unterstützt die Zweistaatenlösung, zugleich lehnt sie den ausschließlich jüdischen Charakter Israels ab und möchte Israel in eine Demokratie für alle Bürger*innen, unabhängig von ihrer nationalen und ethnischen Zugehörigkeit, verwandeln. Darüber hinaus setzt sie sich für die nationalen Minderheitsrechte und eine kulturelle Autonomie der palästinensischen Bürger*innen Israels ein.
Die Vereinigte Arabische Liste, eine gemäßigte islamische Partei, wurde 1996 als Zusammenschluss der 1988 gegründeten linken Arabischen Demokratischen Partei und der Islamischen Bewegung Israels gegründet.
Vorsitzender: Ayman Odeh (Chadasch/al-Dschabha)
Tsafrir Cohen leitet das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Anmerkungen
[1] Siehe Tsafrir Cohen: Das umstrittene Nationalstaatsgesetz, 28.8.2018, unter: www.rosalux.org.il/das-umstrittene-nationalstaatsgesetz/.
[2] Siehe Schwerpunkt Geflüchtete in Israel, 18.3.2018, unter: www.rosalux.org.il/schwerpunkt-gefluchtete-israel/.
[3] Siehe Reut Michaeli: Profit auf dem Rücken von Arbeitsmigrant*innen. Die Methode der Ausbeutung, 21.9.2016 unter: www.rosalux.org.il/arbeitsmigrantinnen-in-israel-wer-profitiert-von-der-methode/.
[4] Zu den Mizrachim siehe Zvi Ben-Dor Benite: Zwischen Ost und West. Die Mizrachim, 23.9.2016, unter: www.rosalux.org.il/die-mizrachim/.
[5] Siehe auch Meron Rapoport: Eine neue Rolle der Palästinenser*innen in Israel?, 31.7.2018, unter: www.rosalux.org.il/palastinenserinnen-israel/.
[6] Zur palästinensischen Minderheit in Israel siehe Nabila Espanioly: Eine Minderheit, die nicht mehr schweigt, 22.9.2016, unter: www.rosalux.org.il/die-palastinensischen-staatsburgerinnen-israels/.
[7] Zur Gemeinsamen Liste siehe Hana Amoury/Yossi Bartal/Tsafrir Cohen: Die Gemeinsame Liste und progressive Politik in Israel, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Standpunkte 24/2016, unter: www.rosalux.de/publikation/id/8809/die-gemeinsame-liste-und-progressive-politik-in-israel/.
[8] Siehe Hana Amoury: Zynismus und Gleichgültigkeit. Die palästinensischen Staatbürger*innen Israels vor den Knesset-Wahlen, 28.8.2019, unter www.rosalux.org.il/zynismus-und-gleichgultigkeit-die-palastinensischen-staatburgerinnen-israels-vor-den-knesset-wahlen/.
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Autor:in
Tsafrir Cohen leitete das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv zwischen 2015-2020.