Palästinenser inspizieren die massiven Zerstörungen, die durch israelische Luftangriffe im Gazastreifen verursacht wurden, 11. Oktober 2023. Foto: Mohammed Zaanoun, ActiveStills
Israels Regierung hat nichts zu bieten außer Rache
In meiner Trauer und Verzweiflung halte ich mich an dem Einzigen fest, was mir bleibt: dem unerschütterlichen Glauben, dass diese Hölle kein vorbestimmtes Schicksal ist, weder für uns noch für die anderen.
Es ist noch immer nicht möglich, die Eindrücke dieser furchtbaren Tage zu verarbeiten. An jenem Samstagmorgen riss uns das Heulen der Sirenen aus dem Schlaf. Das Geschehen scheint sich seitdem täglich zu wiederholen. Bei jedem Gedanken an die in den Gazastreifen verschleppten Geiseln krümme ich mich vor Schmerz und Schleier des Grauens legen sich um mich, Schicht für Schicht. Ich sehe und höre Bilder und Berichte zahlloser ungeborgener Toter und von Familien, die stundenlang in ihren eigenen Häusern als menschliche Schutzschilde der Hamas festgehalten werden. All dies brennt sich in mein Gehirn ein und lässt mein Herz erstarren.
Der enorme Schock, der durch den Angriff der Hamas auf die Städte im Süden ausgelöst wurde, äußert sich seitdem in den verschiedensten Gefühlen: in Angst, Hilflosigkeit, Wut und vor allem in der Sorge, dass alles im Chaos versinkt. Die kolossalen Versäumnisse der Regierung Benjamin Netanjahus und des Sicherheitsapparates verdichten sich zu der Vorahnung, dass ein totaler Zusammenbruch droht. Die Geheimdienste, die jeden Aspekt des Lebens der Palästinenser*innen im Gazastreifen und im Westjordanland überwachen, wurden von dem Angriff kalt erwischt; Zivilist*innen waren den Hamas-Kämpfern über Stunden hinweg schutzlos ausgeliefert. Sie wurden in ihren Häusern eingeschlossen und abgeschlachtet, ohne dass die Armee eingriff – während dieselbe Armee mit der Aufgabe betraut war, alle Siedler*innen im Westjordanland rund um die Uhr zu beschützen.
Man ist schockiert über den Mangel an zuverlässigen Informationen während der langen Stunden, in denen Menschen verzweifelt nach Familienmitgliedern und Freund*innen suchten und die sozialen Netzwerke mit Fotos ihrer vermissten Angehörigen überfluteten. Und jetzt erfahren wir außerdem, dass die eilig zusammengestellten und gegen die Hamas entsandten Reservestreitkräfte nicht über genügend Ausrüstung und Lebensmittel verfügen. Sodass die Zivilbevölkerung der Städte und Gemeinden die benötigten Güter für sie bereitstellen muss.
Am Sonntag, den 8. Oktober, hat Netanjahu offiziell den Krieg erklärt, und nun befindet sich ganz Israel im Kriegszustand. Die Raketen, die im Herzen von Tel Aviv eingeschlagen sind, und der Beschuss der Städte im Norden haben zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung das ganze Land in ein Schlachtfeld verwandelt.
Hier in Jerusalem klammerten wir uns an die Hoffnung, dass die Hamas die Stadt aufgrund der Nähe zur Al-Aqsa-Moschee nicht mit Raketen beschießen wird, trotzdem wuchs überall die Angst. Die Schulen und alle Geschäfte sind geschlossen, und nur wenige Menschen sind auf der Straße. Wer nicht unbedingt muss, verlässt sein Haus nicht. Meine Tochter geriet am Samstagabend in Panik, nachdem sie die Ereignisse stundenlang im Fernsehen und in den sozialen Medien verfolgt hatte. Sie hatte Angst, dass bewaffnete Hamas-Kämpfer, die sich zu diesem Zeitpunkt noch auf israelischem Staatsgebiet befanden, bis nach Jerusalem vordringen und uns in unserem Zuhause angreifen könnten. Erst nach einer gründlichen Besichtigung der öffentlichen Schutzräume in unserem Viertel konnte sie sich ein wenig beruhigen und schließlich einschlafen.
Inmitten dieses ganzen Chaos wandte sich Netanjahu am späten Samstagabend mit einer Reihe abgedroschener Phrasen an die Bürger: «Wir werden gewinnen», «Wir werden sie schlagen», «Wir werden den Terrorismus vernichten». Netanjahu ist ein Mann der Phrasen. Er verspricht, dass Israel «mächtige Vergeltung nehmen» und «der Feind einen noch nie dagewesenen Preis zahlen wird», durch «ein Gegenfeuer in beispiellosem Ausmaß».
Diese Sprache ist bewusst gewählt. Denn auch wenn die traumatisierte israelische Öffentlichkeit noch nicht für eine politische und moralische Abrechnung dieser Katastrophe bereit ist, so ist ihr Groll auf Netanjahu bereits jetzt spürbar. Der Ministerpräsident ist in ein Gerichtsverfahren verwickelt und hat in eigenem politischen Interesse Personen die Verantwortung für die Sicherheit des Landes übertragen, die nicht nur ausgesprochene «Falken», sondern auch höchst unprofessionell sind. Zu Recht hält man ihn nun für persönlich verantwortlich. Er versucht einmal mehr, seine politische Haut zu retten, indem er die Knesset dazu drängt, eine nationale Notstandsregierung einzusetzen, ähnlich wie er sie vor drei Jahren mit dem Vorsitzenden der Partei der nationalen Einheit, Benny Gantz, unter dem Vorwand der Bekämpfung des Coronavirus gebildet hatte. Aber auch unabhängig davon unterstützen die jüdischen Oppositionsparteien in der Knesset den todbringenden Angriff der Regierung auf den Gazastreifen voll und ganz. Und damit sind sie nicht allein: Viele Israelis wollen, dass der gesamte Gazastreifen einen noch nie dagewesenen Preis zahlt.
Der allgemeine Wunsch nach Vergeltung ist verständlich und erschreckend zugleich, doch die Bereitschaft, jegliche moralische Grenze zu überschreiten, ist immer wieder beängstigend.
Es ist wichtig, die abscheulichen Verbrechen der Hamas nicht zu verharmlosen oder einfach hinzunehmen. Aber es ist auch wichtig, uns daran zu erinnern, dass wir den Palästinenser*innen seit Jahren ebenfalls schreckliche Dinge antun. Wahlloser Beschuss, auch auf Kinder und ältere Menschen, das Eindringen in ihre Wohnstätten, das Niederbrennen ihrer Häuser, Gefangennahme – nicht nur von Kämpfern, sondern auch von Zivilist*innen, Kindern und älteren Menschen. Ich führe mir immer wieder vor Augen, dass ich ein Stück meiner Menschlichkeit aufgäbe, würde ich diesen Kontext ignorieren. Denn Gewalt, die man nicht in ihrem Kontext betrachtet, wird immer nur mit Rache beantwortet. Doch, ich will keine Rache, von niemandem. Rache ist das Gegenteil von Sicherheit, sie ist das Gegenteil von Frieden, sie ist auch das Gegenteil von Gerechtigkeit. Sie ist nichts anderes als noch mehr Gewalt.
Ich vertrete die Ansicht, dass es Verbrechen aus Überfluss und Verbrechen aus Hunger gibt, und wir haben den Gazastreifen nicht nur an den Rand des Hungertodes, sondern auch an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Immer im Namen der Sicherheit. Wie viel Sicherheit haben wir bekommen? Wohin wird uns eine weitere Rachespirale führen?
An diesem Samstag wurden so schreckliche Verbrechen an Israelis begangen, dass der Verstand sie nicht begreifen kann. In meiner Trauer und Verzweiflung halte ich mich an dem Einzigen fest, was mir bleibt: an meiner Menschlichkeit. Und an dem unbeirrbaren Glauben, dass diese Hölle kein vorbestimmtes Schicksal ist, weder für uns noch für die anderen.
Übersetzung von Gegensatz Translation Collective.
Dieser Artikel ist am 10.10.2023 in englischer Fassung in +972Magazine erschienen.
Autor:in
Orly Noy ist Redakteurin der Nachrichtenseite Local Call, politische Aktivistin und Übersetzerin von Lyrik und Prosa aus dem Farsi.