Alternative text missing

Khan al-Ahmar: Ein Beduinendorf in der Westbank

Die Bewohner*innen von Khan al-Ahmar wurden nach der Staatsgründung Israels aus ihrem angestammten Gebiet im Negev in die damals jordanische Westbank vertrieben. Jetzt droht ihnen die zweite Vertreibung: Ihr Dorf soll zugunsten israelischer Siedler*innen geräumt werden.

Unmittelbar außerhalb der palästinensischen Kleinstadt El-Azariya in der Westbank, neben der Schnellstraße, befinden sich einige zugemüllte Grundstücke. Krumme Überreste von Metallrohren schauen aus Bergen von verbogenem Blech und Glasscherben hervor. Zerrissene Nylontüten fliegen durch die Luft, wenn Autos an ihnen vorbeifahren. Keine 500 Meter weiter, entladen Müllautos ihren giftigen Inhalt auf der Abfalldeponie von Abu-Dis. Die Luft füllt sich mit dem beißenden Gestank des brennenden Mülls. Genau hierhin beabsichtigen die israelischen Militärbehörden Menschen zwangsumzusiedeln, nämlich die 181 beduinisch-palästinensischen Bewohner*innen Khan al-Ahmars, das sich östlich von Jerusalem in der Nähe israelischer Siedlungen befindet.

Nach langen Gerichtsverfahren genehmigte Israels Oberster Gerichtshof 2018 die Zerstörung Khan al-Ahmars und die Zwangsumsiedlung seiner Bewohner*innen, doch die Einwohner*innen des Dorfes geben sich nicht geschlagen: «Würdest du mit deiner Familien in so eine Gegend ziehen, neben einer Müllhalde?», fragt Eid Abu Khamis, der Sprecher der Gemeinde. Die Bewohner*innen Khan al-Ahmars kämpfen beinahe seit einem Jahrzehnt gegen den Plan der israelischen Regierung, das Dorf zu zerstören und seine Bewohner*innen umzusiedeln. Das Schicksal dieses Dorfes ist mittlerweile in den Fokus der internationalen Öffentlichkeit gerückt und steht für eine Politik der israelischen Regierung, die darauf aus ist, Palästinenser*innen in der Westbank in immer dichter bevölkerte Enklaven zu verdrängen. Das geschieht etwa durch die Verhinderung von Bautätigkeiten und den Abriss vorhandener Infrastruktur zugunsten der sich dort völkerrechtswidrig[1] ausbreitenden jüdischen Siedlungen und entsprechender Infrastruktur, die nur von den neuen Siedler*innen genutzt werden darf.

In der Vergangenheit war der Druck US-amerikanischer und europäischer Diplomat*innen maßgeblich, wenn es darum ging, geplante Zerstörungen und Vertreibungen aufzuhalten. Seit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes ist Khan al-Ahmar wieder ins Zentrum unterschiedlichster Protestaktionen, Demonstrationen und Pressekonferenzen gerückt. Auf der Schotterpiste zum Dorf sind ständig israelische sowie internationale Aktivist*innen und Journalist*innen zu finden, die gerade an- oder abreisen.

70 Jahre Schikane

Der Kampf von Khan al-Ahmar ist das jüngste Kapitel in einer 70-jährigen Leidensgeschichte des Beduinenstammes der Jahalin. Auf der anderen Straßenseite jener vermüllten Grundstücke, die für die Umzusiedelnden von Khan al-Ahmar bereitstehen, befindet sich die Kleinstadt Arab Al-Jahalin: eine Ansammlung von nur zum Teil verputzten Gebäuden aus nacktem Beton, die 1.500 Menschen als Zuhause dienen; allesamt Mitglieder des Beduinenstammes der Jahalin, die in den letzten zwei Jahrzehnten aus ihren Dörfern nach und nach dorthin zwangsumgesiedelt wurden.

Vor 1948 lebte der Stamm der Jahalin in der Gegend von Tel Arad im Negev. Nach der Gründung Israels wurde der Negev zum Teil des israelischen Staatsgebiets, und die Stammesmitglieder wurden vom israelischen Militär in die Westbank, die unter jordanischer Herrschaft stand, exiliert. Dort ließen sie sich auf den steinigen Hügeln östlich von Jerusalem auf dem Weg ins Jordantal und zum Toten Meer nieder. Doch im Krieg von 1967 eroberte Israel die Westbank und die Jahalin fanden sich erneut unter israelischer Herrschaft. In ihrer Nähe wurden im Laufe der Jahre einige israelische Siedlungen gebaut, darunter die große Siedlung Ma’ale Adumim. In den 1990er Jahren begann die israelische Regierung in den Jahalin, die hauptsächlich in sehr ärmlichen Dörfern ohne fließend Wasser und Strom lebten, ein Hindernis für den geplanten Siedlungsausbau zu sehen. Anfang 1997 zerstörte Israel drei ihrer Dörfer. Deren Bewohner*innen wurden an den Ort gebracht, der zu Arab Al-Jahalin wurde, wo bis dahin nur 12 Familien des Stammes der Jahalin lebten. Nach ihrer Zwangsumsiedlung bekam dort jede Familie einen Stahlcontainer zur Verfügung gestellt, der eigentlich Transport- und Lagerungszwecken dient, in dem sie aber länger als drei Jahre lebten. Ein Bericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1998 verurteilte «die Art und Weise, in der die israelische Regierung diese Familien in Containern, welche für Lastwagen vorgesehen sind, auf der Müllhalde von Abu-Dis unter unmenschlichen Bedingungen unterbrachte». 1998 wurden dann weitere 35 Familien des Stammes zwangsumgesiedelt. Ein kurzer Dokumentarfilm aus den 1990er Jahren zeigt die Vertreibung von Mitgliedern des Jahalin-Stamms und die Zerstörung ihrer Häuser: Polizeibeamte schleifen Menschen aus ihren Häusern, stoßen und schlagen sie, Bulldozer des Militärs verwandeln die Hütten des Dorfes in einen Berg aus Schutt.

Alternative text missing
Polizeikräfte räumen den Weg für die Bulldozer, 2018, Khan al-Ahmar. Foto: Activestills

Mit der Vertreibung der Jahalin aus ihren Häusern durch die israelischen Behörden werden nicht nur ihre Wohnorte zerstört, sondern darüber hinaus ihre gesamte traditionelle Lebensweise. Menschen, die es gewohnt waren, Landwirtschaft zu betreiben und ihre freilaufenden Ziegen und Schafe in den Hügeln der Judäischen Wüste zu hüten, mussten ihre Tiere plötzlich auf wenigen Quadratmetern halten. Durch den Verlust der Bewegungsfreiheit der Hirten hat die Gemeinschaft ihre Hauptversorgungs- und Einnahmequelle verloren. Nach den Oslo-Abkommen Mitte der 1990er Jahren verdingten sich immer mehr Jahalin in den städtischen Industriebetrieben. Heute arbeiten die meisten der männlichen Stammesmitglieder von Arab Al-Jahalin als Handwerker im nahe gelegenen El-Azariya oder in den israelischen Siedlungen in der Umgebung und bauen dort Häuser für diejenigen Menschen, wegen derer sie aus ihren Häusern vertrieben wurden.

Seit dem Urteil des Obersten Gerichtshofes steht einer Zwangsumsiedlung nichts mehr im Wege. In der ersten Juliwoche 2018 begannen sich Militär und Polizei auf den Abriss von Khan al-Ahmar vorzubereiten. Vermessungstechniker vermaßen die Häuser des Dorfes, zugleich gab es diverse Vorkehrungen, um den Räumungs- und Abrisskräften den freien Zugang zum Dorf und Bewegungsfreiheit in den Straßen zu ermöglichen. Währenddessen kam es zur Festnahme von zehn Demonstrant*innen. Weitere 35 wurden während einer Protestaktion verletzt, als sie versuchten, die Bulldozer aufzuhalten. Nach Beendigung der Demonstration wurden die Arbeiten im Dorf fortgeführt, und es wurde zur geschlossenen Militärzone erklärt – dies galt selbst für ausländische Diplomat*innen, die das Dorf besuchen wollten. Nun, im Herbst 2018, können Bulldozer jeden Moment eintreffen, um das Dorf zu zerstören, das sowohl zum Symbol der Vertreibung von Palästinenser*innen von ihrem Land als auch für den gewaltfreien Protest dagegen geworden ist. Etwa 100 Aktivist*innen haben sich eingefunden, die sich rund um die Uhr vor Ort befinden, damit die Dorfbewohner*innen nicht auf sich allein gestellt sind, wenn die Abrisskommandos anrücken. Die Haltung im Dorf ist eindeutig: Die Bewohner*innen und die sie unterstützenden Aktivist*innen fühlen sich dem Prinzip des zivilen und gewaltfreien Ungehorsams verpflichtet. Der Einsatz von Gewalt soll den Sicherheitskräften vorbehalten sein.

Alternative text missing
Sicht auf Khan al-Ahmar in der Westbank. Foto: Oren Ziv/ActiveStills

Eine Schule aus Autoreifen in der Westbank

Seitdem es sich die israelischen Behörden zum Ziel gesetzt haben, Khan al-Ahmar zu zerstören, hat die örtliche Schule in der Nähe der Verbindungsstraße Jerusalem – Ma´ale Adumim eine besondere Bedeutung erhalten. Sie ist eines der ersten Gebäude, das den Abrissplänen zum Opfer fallen soll. In die Schule, die 2009 von Freiwilligen aus aller Welt und mit europäischer Unterstützung hauptsächlich aus Autoreifen und Lehm errichtet wurde, gehen mehr als 100 Schüler*innen aus den umliegenden Dörfern. Aufgrund der diskriminierenden Planungspolitik der israelischen Behörden fehlt der Schule bis heute eine Baugenehmigung.

Alternative text missing
Die örtliche, aus Autoreifen und Lehm errichtete Schule in Khan al-Ahmar. Foto: ActiveStills

Da Israels Oberster Gerichtshof sich Zeit nahm und im Sommer 2018 die Order für den Gesamtabriss von Khan al-Ahmar noch nicht vorlag, wollten die israelischen Behörden zumindest eine Abrissverfügung für die Schule erwirken, um zu verhindern, dass diese zu Beginn des neuen Schuljahres ihren Betrieb wieder aufnehmen konnte. Von palästinensischer Seite war man bestrebt, das neue Schuljahr früher zu beginnen, in der Annahme, dass es für die israelischen Behörden aus Imagegründen schwieriger sein würde, eine Schule zu zerstören, in der bereits Unterricht stattfindet. Beide Seiten sind sich der großen symbolischen Bedeutung der Schule bewusst, die Khan al-Ahmar zu einem Brennpunkt des medialen, politischen und diplomatischen Interesses gemacht hat. Am 15. Juli 2018, anderthalb Monate vor dem eigentlichen Schulbeginn, schafften es die Dorfbewohner*innen, das Schuljahr mit einer offiziellen Feier zu eröffnen, und hoffen nun, damit die Zerstörung der Schule bis auf Weiteres verhindert zu haben.

Weitreichende politische Konsequenzen

Die Zerstörung von Khan al-Ahmar hätte weitreichende politische Konsequenzen. Khan al-Ahmar befindet sich im sogenannten East-1- oder E1-Gebiet, ein 12 Quadratkilometer großes Areal, das zwischen Jerusalem und der Siedlung Ma´ale Adumim liegt, die mitten in der Westbank liegt, östlich von Jerusalem. Im E1-Gebiet soll nach israelischen Regierungsplänen der Bau von weiteren Wohnsiedlungen und anderen Projekten forciert werden. Das Vorhaben ist bislang an der massiven Ablehnung in der internationalen Öffentlichkeit gescheitert, denn das E1-Gebiet ist für die geografische Kontinuität eines zukünftigen palästinensischen Staates und folglich für die Durchsetzung einer Zweistaatenlösung von entscheidender Bedeutung. Die durchgehende Besiedlung des E1-Gebiets würde Ost-Jerusalem vom Rest der Westbank endgültig abschneiden und den Süden der Westbank vom Norden trennen, sodass die Westbank nicht länger eine zusammenhängende geografische Einheit wäre. Es steht zudem zu befürchten, dass weiteren zwei Dutzend palästinensische Ortschaften im E1-Gebiet E1 ein ähnliches Schicksal wie Khan al-Ahmar droht und der gesamte ländliche Teil der Westbank folgen wird.

Alternative text missing
Khan Al-Ahmar Umgebungskarte (Für eine größere Ansicht der Karte auf das Bild klicken.)

Trotz der Warnungen verschiedener europäischer Regierungen vor den möglichen humanitären und politischen Konsequenzen einer Zerstörung des Dorfes Khan al-Ahmar und der Umsiedlung der Bewohner*innen gehen die meisten Beobachter*innen davon aus, dass sich die israelische Regierung auf Dauer von ihrem Vorhaben nicht abhalten lassen wird – nicht zuletzt auch aufgrund der bedingungslosen Unterstützung, die sie zurzeit vonseiten der USA erhält. Von daher sei die Zerstörung nur eine Frage der Zeit und technischer Abwägungen der Einsatzplanung. Dementsprechend bereitet man sich jetzt schon auf den Tag nach der Räumung vor: Das heißt, man kümmert sich um die psychologische Betreuung der Bewohner*innen, insbesondere der Kinder, bzw. trifft Vorkehrungen für den Wiederaufbau des Dorfes.

Übersetzt von Michal Bondy

Dieser Beitrag basiert auf einer Artikelserie von Oren Ziv, Joshua Leifer und Eyal Hareuveni, die auf der Webseite «Sicha Mekomit» (Lokalgespräch) erschienen ist.

Weiterführende Links

Anmerkungen

[1] Das Völkerrecht verbietet es einer Besatzungsmacht ausdrücklich, eigene Bevölkerung in einem besetzten Gebiet anzusiedeln.

Download PDF

Alternative text missing