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Militarisierung, Wehrpflicht und Supermachtpolitik in Israel: ein Überblick

Wenn Menschen aus dem Ausland nach Israel kommen, oder Israelis von längeren Aufenthalten in anderen westlich geprägten Ländern zurückkehren, sind sie in der Regel erstaunt oder geschockt angesichts der hohen Waffenpräsenz im öffentlichen Raum. Halbautomatische Sturmgewehre werden – oftmals in lässiger Manier – von Soldat*innen und Siedler*innen, Wachleuten und Polizeibeamt*innen getragen, während Handfeuerwaffen an den Hüften von Sicherheitskräften und Zivilist*innen prangen.

Die Wahrheit ist jedoch, dass die meisten jüdischen Israelis diese Waffen so gut wie überhaupt nicht sehen, sie nehmen sie einfach nicht wahr. Erst als meine dreijährige Tochter (vor Jahrzehnten) auf ihrer ersten Zugfahrt vor Angst erstarrte, bemerkte ich das Gewehr, das am Knie des Soldaten vor mir lehnte. Es war mir zuvor nicht aufgefallen. Wir sehen die Waffen nicht, weil wir uns schon sehr früh an den Gedanken gewöhnen, dass sie nur unserem Schutz dienen und harmlos seien – für uns. Es gibt tausende solcher Prozesse gesellschaftlicher Anpassung, durch die sich die Mentalität der nicht-orthodoxen jüdischen Bevölkerung in Israel militarisiert.

"Die Wahrheit ist jedoch, dass die meisten jüdischen Israelis diese Waffen so gut wie überhaupt nicht sehen, sie nehmen sie einfach nicht wahr [...] Wir sehen die Waffen nicht, weil wir uns schon sehr früh an den Gedanken gewöhnen, dass sie nur unserem Schutz dienen und harmlos seien – für uns."

Fortwährende Militarisierung

Militarisierung meint einen Prozess, so wie andere Begriffe mit der gleichen Endung, etwa «Legalisierung» oder «Modernisierung». Jeder dieser Ausdrücke beschreibt einen gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und ökonomischen Prozess. Als solcher erfordert er die aktive Beteiligung und Zustimmung der Gruppe oder Gemeinschaft, die ihn durchläuft und in Gang hält, oder zumindest maßgeblicher Teile derselben. Im israelischen Fall verwende ich den Begriff der Militarisierung, um einen fortwährenden Prozess zu fassen, der auf die Zeit der zionistischen Besiedlung des historischen Palästinas vor der Staatsgründung Israels zurückgeht und seitdem ununterbrochen anhält. Im Folgenden werde ich diese Militarisierung skizzieren und mich abschließend einem wichtigen Riss zuwenden, der sich diesbezüglich gegenwärtig auftut. Dabei schließe ich mich Jacklyn Cock an, die 1993 formulierte: «Wir sollten unterscheiden zwischen dem Militär als gesellschaftlicher Institution […], Militarismus als Ideologie (deren Hauptzug darin besteht, organisierte Gewalt als legitimes Mittel der Konfliktlösung zu akzeptieren) und der Militarisierung als sozialem Prozess, der die Mobilisierung von Ressourcen für den Krieg beinhaltet.» Und weiter: «Militarisierung umfasst sowohl die Ausbreitung militaristischer Ideologie als auch einen Zuwachs an Macht und Einfluss seitens des Militärs als gesellschaftlicher Institution.»[1] Verschaffen wir uns nun einige Einblicke in die Art und Weise, in der sich der «Militarismus als Ideologie» gegenwärtig verbreitet.

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Ein bisschen von diesem und ein bisschen von jenem sein. Israeli sein. Maccabee Bier, kleines Land, großartiges Bier (Werbung für die israelische Biermarke «Maccabee»). Das Wort Maccabee (deutsch: Makkabäer) verweist auf ein jüdisches Geschlecht aus dem zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, das einen erfolgreichen Aufstand gegen das Seleukidenreich anführte und den geschändeten Jerusalemer Tempel neu weihte. Im modernem Hebräisch könnten sie als Kriegshelden gedeutet werden.

Hier sehen wir eine Werbung für die israelische Biermarke Maccabee. Beschäftigen wir uns zunächst mit der Botschaft, die die Formulierung «kleines Land» im unteren Teil des Bildtextes vermitteln soll. Seit seiner Gründung hat Israel sich wieder und wieder als kleines Land inszeniert, umzingelt von zahlreichen arabischen Staaten und riesigen (absichtlich formlos dargestellten) Massen von «Araber*innen», die es bedrohen und bekriegen. Tatsächlich haben der grauenhafte Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und Israels Vergeltung, die mit der Bombardierung, Invasion und Aushungerung des Gaza-Streifens genozidale Züge annimmt, das enorme Machtgefälle zwischen den Kampfparteien offenbart, auch wenn die israelische Bevölkerung den Angriff der Hamas nichtsdestotrotz mehrheitlich als direkte, unmittelbare Existenzbedrohung wahrzunehmen scheint. Wenn in der weiter obenstehenden Zeile im Bildtext davon die Rede ist, «ein bisschen von diesem» zu sein, so ist damit ein Soldat im Einsatz gemeint (im Hebräischen liest man von rechts nach links). Und wo der Text davon spricht, «ein bisschen von jenem» zu sein, meint er einen abenteuerlustigen Rucksackreisenden auf seinem «großen Trip», den viele junge Israelis nach ihrem Militärdienst unternehmen. Am besten mit einer bewundernden Freundin im Schlepptau. Militarisierung geht notwendig mit bestimmten Geschlechterrollen und ja, auch mit Sexismus einher. 

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Backen vom Grunde deines Herzens: «Wenn mein Junge mal wieder auf seinen gewöhnlichen Heimurlaub von der Armee kommt, hat er außergewöhnliches Backwerk verdient» (Werbung für Backhefe)  

Dies ist eine weitere sexistische, militarisierte und militarisierende Anzeige. Sie bewirbt nicht nur Backhefe, sondern propagiert auch eine bestimmte gesellschaftliche Stellung junger Männer, wobei sie auch die Soldatenmütter über ihre sozial erwünschte Nebenrolle unterweist.

Es gibt buchstäblich tausende Werbungen sowie andere kulturelle Artefakte und Rituale, die in dieselbe Kerbe schlagen. Sie alle tragen zu einem Prozess bei, der Kenneth Grundy zufolge «eine gesellschaftliche Atmosphäre erzeugt, die den Militärdienst attraktiv, militärische Antworten auf politische Fragen vernünftig und größere militärische Kapazitäten und Ausgaben legitim erscheinen lassen – und die die Bevölkerung generell auf einen Kriegs- und Belagerungszustand vorbereitet.»[2] 

Auf verschiedenen Gebieten werden Maßnahmen unternommen, um den aktiven Konsens für die Militarisierung aufrechtzuerhalten, wobei diese Anstrengungen sich wiederum wechselseitig stützen. Kommerzielle und nichtkommerzielle Bildkultur haben daran, oftmals unbeabsichtigt, ebenso Anteil wie Literatur, Musik, öffentliche Bauten, die Medien sowie vor allem das Bildungswesen. Individuelle Äußerungen spiegeln die vorherrschende Militarisierung wider – und sind insofern deren Symptome oder Resultate – und erneuern und verstärken die Militarisierung ihrerseits. Es handelt sich somit um einen toxischen Kreislauf. 

Die Verteilung öffentlicher Güter

Ein genauerer Blick auf einige praktische Erscheinungsformen der allumfassenden Militarisierung Israels zeigt, dass diese sich auch in der Verteilung öffentlicher Güter manifestiert. Wie im Fall der Erziehung und der kulturellen Praxis ist diese Güterverteilung gleichermaßen Ergebnis und Treiber eines kreis- oder spiralförmigen Prozesses, den sie perpetuiert und weiter anheizt. Sehen wir uns drei dieser öffentlichen Güter kurz näher an.

Da ist zunächst der Grund und Boden. Die AXI Group schrieb 2015: «Die Armee kontrolliert über 50 Prozent des israelischen Territoriums auf die ein oder andere Weise, wobei ein Teil unmittelbar für Militäreinrichtungen verwendet wird, während ein anderer aufgrund von Schießübungen Nutzungseinschränkungen unterliegt.  Nach Angaben des israelischen Rechnungshofes (2010) besitzt die Armee 39 Prozent des Staatsgebietes und schränkt die Nutzung weiterer 40 Prozent der Landesfläche ein, was einer noch höheren Schätzung entspricht.» 

Kurzum, etwa 80 Prozent des Landes unterliegen militärischen Einschränkungen oder werden für militärische Zwecke genutzt, etwa für die Armee, Militärbasen, Lagerhallen, Schießstände, die Rüstungsindustrie oder anderen Sicherheitsorgane.[3] 

Auch ein zweites Allgemeingut, die politische Mitsprache beziehungsweise Macht, ist von extremer Militarisierung betroffen: In allen israelischen Regierungen bekleideten ehemalige Offiziere Ministerämter, mit Ausnahme der ersten, von der die Armee gegründet wurde. Bis ins Jahr 2022 wechselten 14 Generalstabschefs nach ihrem Abschied von der Truppe in die Politik. Zehn israelische Verteidigungsminister hatten vormals hohe Offiziersposten inne, darunter einige im Rang des Generalstabschefs. Nach dem Austreten vom Benny Gantz am 8. Juni 2024, hat das aktuelle Kabinett drei Mitglieder, unter ihnen der Verteidigungsminister, die im früheren Leben hohe Militäroffiziere waren, ein weiterer stand dem israelischen Inlandsgeheimdienst Schin Bet vor, während der Bildungsminister auf eine Laufbahn als Kampfpilot zurückblickt. Diese Überrepräsentation hat eine weitgehend unsichtbare Kehrseite: Gruppen ohne Zugang zu militärischen Führungspositionen oder der Armee generell sind in Bezug auf politische Ämter und die nationale Entscheidungsfindung unterrepräsentiert. Das betrifft unter anderem Frauen, Palästinenser*innen mit israelischer Staatsangehörigkeit und behinderte Menschen. Die politische Teilhabe ist verzerrt – zugunsten der Führungsriege.

Bei dem dritten Allgemeingut handelt es sich um den von der israelischen Regierung verabschiedeten Staatshaushalt. Im Jahr 2022 machte das beschlossene Verteidigungsbudget 12,7 Prozent des nationalen Gesamthaushaltes aus. Im laufenden Jahr 2024 macht das beschlossene Verteidigungsbudget (das durch die andauernden kriegerischen Akte bereits stattlichen Anpassungen unterliegt) 20,1 Prozent des nationalen Gesamthaushaltes aus. Im Vergleich dazu belaufen sich die bereitgestellten Mittel für die Schaffung von Arbeitsplätzen auf 0,7 Prozent, während der Sozialhaushalt mit 2,9 Prozent zu Buche schlägt. Und das jeweils, obwohl beträchtliche Teile der Bevölkerung nach wie vor mit den desaströsen Folgen der Covid-19-Pandemie zu kämpfen haben. Etwa die Hälfte des Verteidigungsbudgets ist in der Regel für den Sold bestimmt. Doch viele Soldat*innen sehen davon wenig. Wehrpflichtige werden aufgrund ihrer schlechten Besoldung während ihrer Dienstzeit meistens von ihren Familien unterstützt, die somit de facto eine weitere, inoffizielle Steuer entrichten. Berufssoldat*innen, die sich nach ihrer Pflichtzeit für eine Karriere in der Armee entscheiden, verdienen im Mittel das Doppelte eines israelischen Durchschnittslohnes. Noch gravierender fällt vermutlich ins Gewicht, dass Berufssoldat*innen im Alter von 45 Jahren in den Ruhestand gehen und bis zu ihrem Lebensende üppige Pensionen beziehen und zwar unabhängig davon, ob sie im zivilen Leben eine zweite Karriere einschlagen.

Angesichts ihrer großen politischen Macht ist es wenig verwunderlich, dass die Führungsriegen der Armee und anderer Sicherheitsorgane gewaltige Teile des Staatshaushaltes verbrauchen und kontrollieren. Dass die meisten Israelis diesen Umstand tendenziell übersehen oder ignorieren, illustriert nur einmal mehr, dass die Militarisierung das individuelle und öffentliche Bewusstsein fest im Griff hat.

Ganz entscheidend ist darüber hinaus, dass der Staatshaushalt den Konflikt politisch verstetigt, worauf der Soziologe Shlomo Swirski hingewiesen hat: Das Budget «zeugt von […] einer ‹Supermacht›-Politik, nicht von einer Situation, in der ‹es keine andere Wahl gibt› […] [sondern vielmehr] von einer politisch-strategischen Entscheidung.»[4] Glasklar wird dies daran, dass die Regierung gegenwärtig unbeschränkte Ausgaben tätigt, um die kriegerischen Handlungen in Gaza fortzusetzen und die Eskalation der Gewalt gen Norden auszuweiten, in den Libanon und nach Syrien.

Der Mythos der allgemeinen Wehrpflicht

Einer der wichtigsten, nicht zur Debatte stehenden Transmissionsriemen der Militarisierung ist die allgemeine Wehrpflicht oder «die Einberufung». In einer tief gespaltenen, konfliktdurchzogenen Gesellschaft wird der Militärdienst weithin als Schlüssel der Zugehörigkeit präsentiert und wahrgenommen. Erinnern wir uns an die Maccabee-Bierwerbung mit dem Slogan «Israeli sein». Das enthält eine Aufforderung: Geh´ zur Armee, geh´ auf den großen Trip, trink´ Maccabee. Und, nicht zuletzt, sei ein Mann. Zugehörigkeit ist in der israelischen Gesellschaft eine zutiefst vergeschlechtlichte Angelegenheit.

Die permanenten kulturellen Militarisierungsbemühungen erhalten in weiten Teilen der israelischen Öffentlichkeit den Schein aufrecht, dass die Mehrheit der Einberufung Folge leistet und alle ihren Beitrag leisten, weil «es keine andere Wahl gibt» – wir müssen, schlicht und ergreifend. Doch in Wahrheit müssen wir nicht. Es gibt Alternativen. Und es gibt zahlreiche weitere Hinweise darauf, dass die gegenwärtige Struktur auf einer Entscheidung beruht und wir uns auch anders entscheiden können. So gab etwa Asher Tishler 2010 während seiner Amtszeit als Dekan der Fakultät für Managementwissenschaften an der Universität Tel Aviv darüber Aufschluss, warum das Gesetz über den allgemeinen Wehrdienst in Kraft bleibt und die Armee so viel unternimmt, um zu demonstrieren, dass sie es auch durchsetzt: «Jedes Jahr zieht die Armee 15.000 junge Männer und Frauen ein, die aufgrund ihrer ungenügenden Ausbildung und Fähigkeiten untauglich sind. Die Kosten dafür belaufen sich jedes Jahr auf eine Milliarde Schekel. […] [Die Armee] muss diese Personen aufgrund der gesetzlichen Wehrpflicht einziehen. […] Die Personalkosten einer Berufsarmee lägen etwa 15 bis 20 Prozent höher.»[5] Das heißt: höher als die Kosten einer Armee von Wehrfpflichtigen. Wenn wir Tishler folgen, so gibt es auf jeden Fall eine Wahl. Doch sie fällt auf die allgemeine Wehrpflicht, die als kosteneffizienter gilt.

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Fakt ist jedoch, dass die allgemeine Wehrpflicht in Israel nicht länger Realität ist. Von der Armee veröffentlichte Daten zeigen, dass die Befolgung der Wehrpflicht seit Jahrzehnten eindeutig rückläufig ist, wenngleich die Werte nur langsam sinken. 2017 folgte nur etwa die Hälfte der nicht-palästinensischen 18-Jährigen – 57,5 Prozent – der Einberufung und leistete den vollen Wehrdienst. Bei der Beantwortung einer von der New-Profile-Bewegung auf Grundlage der Informationsfreiheit eingereichten Anfrage legte der Militärsprecher 2020 offen, dass in der Kohorte von 2018 weniger als 67 Prozent der von Rechts wegen Wehrpflichtigen tatsächlich einberufen wurden. Am Ende haben 57,6 Prozent der männlichen und 42,4 Prozent der weiblichen Wehrpflichtigen tatsächlich ihren Dienst angetreten. Allgemeine Wehrpflicht sieht anders aus. Wird diese Berechnung auf Grundlage der Staatsbürgerschaft angestellt, ohne palästinensische Bürger*innen wie selbstverständlich auszuklammern, so hat deutlich weniger als die Hälfte dieser Kohorte gedient – ihr Anteil liegt bei etwa 40 Prozent der 18-Jährigen Staatsbürger*innen.

Eine genauere Aufschlüsselung der Daten zeigt, dass etwa 29,4 Prozent aller einberufenen Männer freigestellt wurden, ohne irgendeinen Dienst zu leisten. Orthodoxe Jeschiwa-Studenten, die beinahe automatisch ausgenommen werden, stellten lange Zeit eine weitere Gruppe dar, die im Denken vieler jüdischer Israelis keine Rolle spielt. Als das gegenwärtige rechtsextrem-orthodoxe Regierungsbündnis der orthodoxen Community kürzlich jedoch erhebliche Haushaltsmittel zusprach, wurde in weiten Teilen der (überwiegend säkularen) Widerstandsbewegung gegen die antidemokratischen Reformvorhaben der Regierung die Forderung laut, dass auch orthodoxe Männer dienen sollen. Dessen ungeachtet handelte es sich 2018 bei knapp der Hälfte (13,7 Prozent) der sofort vom Wehrdienst befreiten Männer (29,4 Prozent der Einberufenen) nicht um orthodoxe Jeschiwa-Studenten. Nach Berichten des langjährigen Armeebeobachters Yagil Levy wurden Reservisten in den letzten Jahren immer punktueller zum Dienst einberufen, während vollständige Freistellungen vom Militärdienst merklich zugenommen haben. Dadurch schrumpft der Anteil von Wehrdienstleistenden und aktiven Reservisten an der Bevölkerung.[6] 

Sogar vor dem Hintergrund der Kriegshandlungen, die zum Zeitpunkt der Abfassung des vorliegenden Artikels weiter anhalten – oder vielleicht gerade in diesem Kontext – warnte der ehemalige Knesset-Abgeordnete Ofer Shelah im Mai mit Blick auf die Reservisten: «Wir nähern uns der Situation eines grauen [unerklärten] Widerstands. […] Der Krieg wird geführt, als gäbe es keine Engpässe. Egal, ob es um Haushaltsausgaben, Munition oder Truppen geht. Aber […] es gibt Engpässe. Reservisten sind eine begrenzte Ressource.»[7]

Während also an der Oberfläche landläufig die Meinung herrscht, dass «alle dienen» und der Wehrdienst sei «das, was man eben macht», wenn man normal ist und den sozialen Erwartungen entspricht, wächst de facto zunehmend eine gesellschaftliche Bewegung zur Wehrdienstverweigerung heran. Sie ist komplex und setzt sich aus vielen verschiedenen Gruppen mit unterschiedlichen Ansichten und Bedürfnissen zusammen. Ich begreife sie als soziale Bewegung im Sinne des Soziologen Alberto Melucci, der in den 1980er Jahren untergründige, amorphe und schwer zu fassende Bewegungen beobachtete, die sich gelegentlich nicht einmal selbst als Widerstandsbewegung verstanden. Seiner Auffassung nach artikulieren sich solche Bewegungen im Reich alltäglicher kultureller Praktiken, in denen sie neue Deutungsmuster schaffen.

Die israelische Armee ist über diese Bewegung oder dieses gesellschaftliche Phänomen durchaus im Bilde, was teilweise ihren erhöhten Aufwand erklärt, um die Illusion der allgemeinen Wehrpflicht und der Alternativlosigkeit aufrechtzuerhalten. Die Öffentlichkeit im Allgemeinen ist sich dessen in deutlich geringerem Maße bewusst, unter anderem, weil die Streitkräfte sich bemühen, entsprechende Daten zu verschleiern.

Israels durch und durch militarisierte Antwort auf den Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 erfreute sich augenscheinlich der Unterstützung einer überwältigenden Mehrheit der jüdischen Öffentlichkeit, darunter auch weiter Teile der 300.000 Personen starken Reserveeinheiten, die Berichten zufolge der Einberufung nachkamen und ihre Dienstzeiten verlängerten. Darüber hinaus erstreckte sich der Zuspruch anscheinend auf eine erhebliche Anzahl Männer und Frauen, die sich zuvor aktiv und lautstark in den beispiellosen Protesten gegen die Reformvorhaben der rechtsextremen Regierung engagiert hatten, die vor dem 7. Oktober über Monate hinweg Millionen Menschen auf israelische Straßen brachten. Doch die Gegentendenz zu massiver Unterstützung und freiwilligen Verpflichtungen ist nahezu unsichtbar und kaum bekannt. Es gibt keine transparente Datenübersicht über dieses Phänomen. Bis zur Veröffentlichung dieser Zahlen könnten noch Jahre vergehen.

Dennoch hat New Profile – Die Bewegung zur Demilitarisierung der israelischen Gesellschaft einen merklichen Anstieg von Anrufer*innen registriert, die sich bei dem Beratungsnetzwerk der Organisation über ihr Recht auf einen Austritt aus der Armee und die damit verbundenen Abläufe erkundigen. Unter den vielen Tausenden, die sich jedes Jahr dagegen entscheiden einzurücken oder ihren Dienst frühzeitig quittieren, suchen in der Regel etwa 1.400 Personen bei New Profile Rat. Diese Zahl scheint nun zu wachsen. Vielsagend ist dabei, dass die Anrufer*innen aus unterschiedlichen Hintergründen kommen, sich in sehr verschiedenen Umständen befinden und teilweise nicht im engeren Sinne weltanschaulich motiviert sind. Zu ihren Beweggründen können dementsprechend Erschöpfungszustände, Depressionen und Traumata gehören, aber auch das von Anbeginn fehlende oder inzwischen völlig verlorene Vertrauen in das Militär als Ganzes oder die Ziele seiner gegenwärtigen Kriegsführung. Hinzu kommt die kritische Einschätzung der Fehlentscheidungen der Regierung beim Einsatz der Armee, insbesondere hinsichtlich der flächendeckenden Anwendung von Grausamkeit, tödlicher Gewalt und Zerstörung und/oder der schlecht gehandhabten Geiselsituation. Eine Minderheit unverhohlen politisch auftretender Wehrdienstverweigerer*innen erklärt ihren Einspruch öffentlich, oftmals über das Verweiger*innen-Netzwerk Mesarvot, und muss sich auf Haftstrafen gefasst machen.

Die Wege der Militarisierung sind mannigfaltig. Die Mittel sie fortzuführen und zu befeuern sind vielfältig. So blieben etwa die USA auch nach der Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht ein hochgradig militarisiertes Land. Dies wird ersichtlich aus den wiederholten, von breiter öffentlicher Zustimmung getragenen Militäreinsätzen in aller Welt, der mächtigen Rüstungsindustrie oder dem Widerstand gegen Gesetze, die das Tragen von Waffen und die Waffenkriminalität eindämmen sollen. In Anbetracht der tiefgreifenden Militarisierung der Praktiken und des Bewusstseins jüdischer Israelis griffe die Behauptung viel zu kurz, die Wehrdienstverweigerung als Bewegung oder, wenn man diesen Ausdruck bevorzugt, als gesellschaftliches Phänomen garantiere bereits einen progressiven Demilitarisierungsprozess.

Tatsächlich schien die zivilgesellschaftliche Protestbewegung vor dem 7. Oktober 2023 die militarisierte Geisteshaltung vorbehaltlos zu teilen, schließlich erkor sie einige ehemalige Armeeoffiziere und Sicherheitsbeamte zu prominenten Führungspersonen und ignorierte weitgehend (wenn auch nicht vollkommen) die Militärbesatzung palästinensischer Gebiete, die Kernstück und Antrieb der antidemokratischen Entwicklung des Landes ist. In den Monaten seither hat sich der kritische Raum, der sich für die erneute Verhandlung dieser Fragen im prodemokratischen Widerstand ansatzweise aufzutun schien, allem Anschein nach wieder sehr verengt. Derzeit wohnen wir ziemlich uneinheitlichen und wahrscheinlich widersprüchlichen Trends und Entwicklungen bei.

Dennoch bin ich überzeugt, dass es wichtig ist, zu beobachten, wo diese Entwicklungen auseinandergehen oder miteinander in Konflikt treten und zumindest zur Kenntnis zu nehmen, dass die jungen Menschen, die die Bewegung der Kriegsdienstverweigerung ausmachen, sich weigern, den unhinterfragten, militarisierten Glauben mitzutragen, dass «es keine andere Wahl gibt» und alle ihren Beitrag für die Armee leisten müssen. Ich wage nicht, Prognosen darüber abzugeben, wie weitreichend dieser Prozess sein oder in welche Richtungen er sich entfalten wird. Doch ich halte es für bedeutsam, dass dieser seit Jahrzehnten unbeirrbare Widerstand gegenwärtig weiterhin im Gange ist.

Übersetzung aus dem Englischen von Gegensatz Translation Collective.

Anmerkungen

[1] Jacklyn Cock, Women and War in South Africa, Cleveland, The Pilgrim Press, 1993.

[2] Kenneth W. Grundy, Soldiers without Politics. Blacks in the South African Armed Forces, University of California Press, Berkeley / Los Angeles / London, 1983, S. 108  

[3] State Comptroller of Israel, State Comptroller Report 61A, 2010 (Hebräisch), zitiert nach: The AIX Group, «The Economic Costs of the Conflict to Israel: The Burden and Potential Risks», in: Arie Arnon und Saeb Bamya (Hg.): Economics and Politics in the Israeli Palestinian Conflict, Februar 2015, S. 81.  

[4] Shlomo Swirski, Das Staatsbudget – was wird mit unserem Geld gemacht? Mapa Verlag und Adva Center, Tel Aviv, 2004 (Hebräisch).  

[5]  Asher Tishler, «Die Armee sollte um 30 Milliarden Schekel verschlankt werden – bislang ist nichts passiert», TheMarker, 26. Mai 2010 (Hebräisch).  

[6] Yagil Levy, «The War in Gaza Exposes a Disintegrated Israeli Army», Haaretz, 19. März 2024.

[7]  Meirav Arlosoroff, «Der IDF fließt das Geld wie Wasser davon – und das könnte Netanyahus Regierung das Genick brechen», TheMarker, 17. Mai 2024 (Hebräisch).  

Autor:in

Rela Mazali ist eine israelische Friedensaktivistin und Autorin. Seit 1980 ist sie als Antimilitaristin gegen die Militarisierung Israels und die militärische Besetzung Palästinas aktiv. 1998 war sie eine der Mitbegründerinnen der feministischen Bewegung New Profile, die sich gegen die Militarisierung Israels einsetzt und Kriegsdienstverweigerer unterstützt. Im Jahr 2010 gründete sie Gun Free Kitchen Tables (GFKT), ein Abrüstungs- und Waffenkontrollprojekt. Sie arbeitete auch für Physicians for Human Rights-Israel und hatte eine beratende Funktion für das Internationale Rote Kreuz und die Ford Foundation inne.