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Die Abgeordnete der Gemeinsamen Arabischen Liste, Aida Touma-Sliman, leitet eine Sitzung im israelischen Parlament am 21. November 2017. Foto: Yonatan Sindel/Flash90

"Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid": Rosa Luxemburg und der Widerstand gegen den Krieg in Gaza

  "Die Katastrophe hat solche Dimensionen angenommen, daß die gewöhnlichen Maßstäbe von menschlicher Schuld und menschlichem Schmerz versagen; elementare Verheerungen haben ja etwas Beruhigendes gerade in ihrer Größe und Blindheit."[1]

Diese Zeilen schrieb Rosa Luxemburg (1871–1919) im August 1915, ein Jahr nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Luxemburg verbüßte mehrere Gefängnisstrafen für ihren Widerstand gegen den Krieg, mit dem sie sich auch in den Reihen ihrer eigenen Partei, der SPD, die sich dem in Deutschland grassierenden Militarismus angeschlossen hatte, in der Minderheit befand. Ihre Ablehnung des Krieges beruhte auf einer fundierten Analyse, die in ihrem Verständnis der Verflechtung von Imperialismus und Kapitalismus wurzelte. Sie war Mitorganisatorin der ersten illegalen Antikriegsversammlung in Deutschland und sprach sich, wann immer sie konnte, gegen Krieg und Militarismus aus. Gleichzeitig wurzelte ihre Ablehnung des Militarismus in einer ethischen Haltung, die sich von ihrem Bekenntnis zur Menschlichkeit ableitete und die sie wiederum zu einer tiefen Sorge um die Welt veranlasste. Ich verwende durchgehend den Begriff «Menschlichkeit» und nicht «Humanismus», um Luxemburgs weitreichendes Verständnis der Beziehung zwischen Mensch und Natur zu verdeutlichen und zu würdigen, mit dem sie ihrer Zeit weit voraus war und tatsächlich einen frühen Rahmen für das heutige ökologische Denken hinterlassen hat. Unsere Menschlichkeit verpflichtet uns, Verantwortung für die Welt als Ganzes mit all ihren menschlichen und nichtmenschlichen Bewohner*innen zu übernehmen.

Das Leben im Krieg wirft Schatten auf die Seele. Unter unseren Füßen wirbelt unaufhörlich ein unheilvoller Strudel, der uns ganz zu verschlingen droht, während wir versuchen, unser Leben weiterzuführen. Der Tod lauert hinter jeder Ecke und will, dass wir ihm ins Auge sehen. Nach dem grausamen Angriff der Hamas auf den Süden Israels, der 1.200 israelischen Zivilist*innen das Leben kostete, hat Israel seinen schrecklichsten Angriff auf den Gazastreifen eingeleitet, in dessen Zuge innerhalb von sechs Monaten mindestens 33.000 Palästinenser*innen getötet wurden, darunter mindestens 14.000 Kinder. Die israelische Regierung scheint die 134 israelischen Geiseln, die von der Hamas im Gazastreifen festgehalten werden, aufgegeben zu haben. Luxemburgs Zeilen klingen in meinem Kopf nach, während ich an meinem Schreibtisch in Tel Aviv sitze, eine Autostunde von Gaza entfernt. Der Krieg wütet weiter, ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Doch mutige Widerstandsaktionen reißen Löcher in die scheinbar undurchdringliche Mauer, die zwischen uns, den israelischen Zivilist*innen, die sich dem widersetzen, was in unserem Namen geschieht, und dem militaristischen Eifer Israels errichtet wurde.

Am 15. November 2023 wurde die Knessetabgeordnete Aida Touma Sliman von den Knessetgremien ausgeschlossen und ihr Gehalt für zwei Wochen einbehalten, nachdem sie einen Tweet über das Al-Shifa-Krankenhaus veröffentlicht hatte, in dem sie die allgegenwärtige Behauptung hinterfragte, die israelische Armee sei «die moralischste Armee der Welt». Als sie vor den Ethikausschuss der Knesset geladen wurde, brachte sie ihre generelle Ablehnung des Krieges zum Ausdruck. Das Ethikkomitee der Knesset begründete den Ausschluss von Touma Sliman damit, dass die Beschuldigung, die Israelische Armee würde Kriegsverbrechen begehen, den Feinden Israels helfen würde. (Als Luxemburg 1914 zum ersten Mal wegen ihrer Antikriegshaltung vor Gericht stand, lautete die offizielle Begründung: Verleumdung der deutschen Armee). Schon zu Beginn des Krieges hatte Touma Sliman für Kontroversen gesorgt, als sie es wagte zu behaupten, dass «auch[2] in Gaza ganze Familien abgeschlachtet werden». Sie warnte vor der Ausbreitung von Hunger und Durst. Sie wagte zu sagen, dass Gewalt nur zu mehr Gewalt führe. Für Menschlichkeit und gegen Gewalt einzutreten beginnt damit, den Menschen zu erkennen, der absichtlich hinter der dicken Mauer des militaristischen Geistes verborgen wird.

Am 25. Februar 2024 verweigerte die 18-jährige Sophia Orr den Dienst in der israelischen Armee und wurde dafür zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.[3] Orrs Worte spiegeln das Grauen des Krieges wider, nicht nur dieses, sondern aller Kriege: «Ich habe mich entschieden, den Dienst zu verweigern, weil es im Krieg keine Gewinner gibt.» … «Ich habe mich immer mehr den Menschen als den Staaten verpflichtet gefühlt.» Dieser Akt des Widerstands gründet sich auf ihre Menschlichkeit und ihr Bekenntnis zu ihren Mitmenschen: «Es gibt ein ernsthaftes Problem der Entmenschlichung. … Wenn man aufhört Palästinenser*innen als Menschen zu sehen, lässt sich auch der Wert ihres Lebens einfacher leugnen und man kann sie ohne Skrupel töten». Orrs Entscheidungen sind durch Menschen und nicht durch Staaten motiviert. Sie setzt sich über das vorgegebene Handlungsschema hinweg, das ihr als einzig mögliche und notwendige Reaktion auf ihren Schmerz aufgezwungen wird, und entscheidet sich, auch wenn das beinahe unmöglich ist, die Menschen, die ihre Feind*innen sein sollen, als Gleiche zu sehen.

  "Es gibt ein ernsthaftes Problem der Entmenschlichung. … Wenn man aufhört Palästinenser*innen als Menschen zu sehen, lässt sich auch der Wert ihres Lebens einfacher leugnen und man kann sie ohne Skrupel töten".  

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Die Familie Abu Anza, die aus Khan Yunis nach Rafah vertrieben wurde, feiert die Hochzeit ihrer Tochter inmitten der Zeltstadt am 23. April 2024. Foto: Abed Rahim Khatib/Flash90

In einem der berühmtesten Briefe Luxemburgs aus dem Jahr 1917, als der Krieg unbegreiflicherweise immer noch tobte, beschreibt sie ihrer Freundin Sophie Liebknecht eine Szene, die ihr das Herz zerreißt. Die Büffel erreichen den Gefängnishof und schleppen blutgetränkte Uniformen von der Front, die Spuren von Tod und Schrecken. Luxemburg muss weinen angesichts der offensichtlichen Schmerzen, unter denen die Büffel aufgrund der enormen Last leiden und der Gewalt, die ihnen von einem Soldaten zugefügt wird, der sie schlägt. «Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid», erklärt der Soldat auf die Frage Luxemburgs, warum es kein Mitleid mit den Tieren gebe.[4]

Es gibt eine Verbindung zwischen der Haltung von Aida Touma Sliman, Sophia Orr und Rosa Luxemburg. Ihr Widerstand entspringt der Fähigkeit, aus ihrer Menschlichkeit heraus zu handeln, die sie dazu motiviert, sich um die Welt zu sorgen, einschließlich derer, die sie als ihre Gegner*innen betrachten sollen. Das Menschsein und die Verwurzelung in der Welt bringen sowohl die Möglichkeit zum Widerstand als auch die moralische Verpflichtung mit sich, sich der Orgie von Militarismus und Gewalt zu widersetzen. Um mit den Worten Luxemburgs zu schließen, die sie 1916 an ihre Freundin Mathilde Wurm richtete: «Mensch sein ist vor allem die Hauptsache. Und das heißt: fest und klar und heiter sein, ja, heiter trotz alledem und alledem, denn das Heulen ist Geschäft der Schwäche. Mensch sein, heißt sein ganzes Leben ‹auf des Schicksals große Waage› freudig hinwerfen, wenn’s sein muß, sich zugleich aber an jedem hellen Tag und jeder schönen Wolke freuen, ach, ich weiß keine Rezepte zu schreiben, wie man Mensch sein soll, ich weiß nur, wie man’s ist, und Du wußtest es auch immer, wenn wir einige Stunden zusammen im Südender Feld spazierengingen und auf dem Getreide roter Abendschein lag. Die Welt ist so schön bei allem Graus und wäre noch schöner, wenn es keine Schwächlinge und Feiglinge auf ihr gäbe.»[5] 

Schließen wir uns dem Aufruf Luxemburgs an, der auch in der Stellungnahme von Touma und Orr anklingt, zeigen wir Zivilcourage und setzen wir uns gemeinsam, gestützt auf unsere gemeinsame Menschlichkeit, gegen Entmenschlichung, Militarismus und Krieg ein.

Übersetzung von Gegensatz Translation Collective

Anmerkungen

 Rosa Luxemburg an Franz Mehring am 31. August 1915, Barnim Street, in: Rosa-Luxemburg-Stiftung, Gesammelte Briefe, Bd. 5, Berlin 1984, S. 72.

 Hiermit bezog sie sich auf den Angriff der Hamas auf den Süden Israels.

 Die Wehrpflicht in Israel gilt sowohl für Frauen als auch für Männer, und der Militarismus ist geschlechterübergreifend.

Rosa Luxemburg an Sophie Liebknecht, in: Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hrsg.): Gesammelte Briefe, Bd. 5, Berlin 1984, S. 346–350.

Rosa Luxemburg an Mathilde Wurm, in: Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hrsg.): Gesammelte Briefe. Band 5, Berlin 1984, S. 151.

Autor:in

Dana Mills ist Autorin von Dance and Politics (MUP, 2016), Rosa Luxemburg (Reaktion, 2020), Dance and Activism (Bloomsbury, 2021) und One Woman's War (Five Leaves, 2024). Sie ist Leiterin der Personalentwicklung bei +972/Local Call und Mitglied des Herausgeberbeirats der Rosa Luxemburg Collected Works. Eine hebräische Ausgabe ihrer Biografie von Rosa Luxemburg erscheint in Kürze im Verlag Gama Press.