Orthodoxe Frau mit zwei kleinen Mädchen in Bnei Barak
Ohne Stimme keine Stimme
Anfangs trafen sie sich heimlich nachts in Luftschutzbunkern, inzwischen fordern sie das patriarchale Milieu der streng religiösen jüdischen Gemeinschaft offen heraus: Ultraorthodoxe Aktivistinnen der Frauenbewegung Niwcharot (Gewählte Repräsentantinnen) fordern nicht nur gehört zu werden, sondern um öffentliche und Parteiämter kandidieren zu können – was Shas-Partei und Vereinigtes Tora-Judentum bislang ablehnen.
Am Rande der 200.000-Einwohnerstadt Bnei Barak, im Januar 2015. Fünf Frauen in Strumpfhosen und langen Röcken stehen mit Flugblättern in den Händen vor einem Veranstaltungsgebäude, dessen Tore geschlossen sind. Die kleine Gruppe ultraorthodoxer Perückenträgerinnen wirkt angespannt und verlegen[1]; mit einer Videokamera nimmt ein Mann die Protestaktion aus der Ferne auf.
In dem geschlossenen Gebäude findet der Parteitag von Agudat Jisrael statt, einer ultraorthodoxen Partei, die 2015 der Fraktion des Vereinigten Tora-Judentums in der Knesset angehört. Hier werden die Kandidaten für die im März 2015 stattfindenden Knesset-Wahlen festgelegt. In dem Saal befinden sich nur Männer; für Frauen ist nicht einmal ein separater Bereich vorgesehen.[2]
Draußen vor dem Gebäude warten die fünf Frauen darauf, dass sich die Tore öffnen und die Teilnehmer den Saal verlassen. Sie sind angespannt, weil dies im jahrzehntelangen Bestehen der Partei wohl das erste Mal ist, dass Frauen kommen, um etwas zu sagen und zu fordern.
Die Tore öffnen sich, und langsam kommen die Versammlungsteilnehmer heraus. Ultraorthodoxe Bürgermeister, Knesset-Abgeordnete und verschiedene Parteifunktionäre. Sie alle tragen traditionelle chassidische Kleidung.
Da bekommt es eine der Frauen mit den Flugblättern mit der Angst zu tun. Sie verlässt die Gruppe und setzt sich in ihr Auto. Später erklärt sie einem Filmemacher, der die Gruppe begleitet, warum sie den herausströmenden Menschen „nicht entgegentreten“ konnte: „Sie sehen aus wie mein Vater, wie meine Brüder“.
Die Frauen beginnen, ihre Flugblätter an die Männer zu verteilen. Sie enthalten halachische[3] Erörterungen zur politischen Vertretung und Wahl von Frauen in die Knesset. Die meisten Männer machen sich nicht die Mühe, den Text zu lesen; andere stecken das Flugblatt in ihre Manteltasche und gehen weiter; ein Knesset-Abgeordneter rennt buchstäblich in Panik davon; und einige Funktionäre beschimpfen die Frauen.
Ich war eine dieser Frauen, damals im Winter 2015.
Zwei Jahre zuvor hatte ich eine Facebook-Seite mit dem Namen „Ohne Stimme keine Stimme“ eingerichtet. Dort wurde erstmals öffentlich debattiert, dass zwei Regierungsparteien es Frauen nicht erlauben, in ihnen Ämter zu bekleiden oder gar für diese zu kandidieren – die ultraorthodoxe Shas-Partei und das Vereinigte Tora-Judentum. Mit anderen Worten, das Problem der vollständigen Verdrängung ultraorthodoxer Frauen aus dem öffentlichen Raum.
Die ultraorthodoxe Gesellschaft – Soziologie, Kultur und Ideologie
Die ultraorthodoxe Gesellschaft ist divers. Wir neigen dazu, sie als eine schwarze Masse zu sehen, die meistens wütend ist. Aber wenn wir ehrlich sind, gibt es keine ultraorthodoxe Gesellschaft, sondern nur ultraorthodoxe Communities. Unter diesen gibt es Gemeinsamkeiten. Aber mit dem Anwachsen der ultraorthodoxen Gesellschaft nehmen auch diese Gemeinsamkeiten ab.
In ideologischer Hinsicht geht die ultraorthodoxe Gesellschaft von der Grundthese aus, dass sie die echteste Version der jüdischen Religion verkörpert. Das ist nicht völlig ungerechtfertigt, da sich die ultraorthodoxe Gesellschaft zumindest deklarativ dazu verpflichtet hat, die Halacha und die Mitzwas kompromisslos einzuhalten.
Allerdings ist die ultraorthodoxe Strömung ein recht neues Phänomen in der jüdischen Welt. In Israel zeichnet sie sich insbesondere durch eine Sammlung von Reformen aus, die sich seit der Aufklärung und der jüdischen Haskala-Bewegung[4], die die traditionelle jüdische Community und ihre Führung bedrohte, in Europa etabliert haben. Es handelt sich dabei um Reformen zur Stärkung und Festigung der Religion, die durch die Politisierung der Religion unter der Ägide von den staatlichen Institutionen in Israel intensiviert wurden.
Die ultraorthodoxe Ideologie basiert auf mehreren Prinzipien, deren Einhaltung von Gruppe zu Gruppe und von Person zu Person unterschiedlich sein kann. Dies sind die Hauptpunkte:
Unbedingter Gehorsam gegenüber Rabbinern; Abkehr vom westlichen Lebensstil, insbesondere das Vermeiden der Nutzung von Informationstechnologien wie Internet und Smartphones; Einhaltung der Regeln des Anstands (der Keuschheit), was sich in der den ganzen Körper bedeckenden Kleidung bei Männern und Frauen sowie in der Trennung der Geschlechter widerspiegelt.
Die Geschlechtertrennung erfolgt nicht nur in Synagogen, sondern auch in Bildungseinrichtungen und bei diversen Veranstaltungen. Sie kommt im Fehlen von Bildern von Frauen, und oft auch von deren Namen, in ultraorthodoxen Medien zum Ausdruck. Infolgedessen vermeiden ultraorthodoxe Medien es oft, sich mit Fragen, bei „denen Anstand ansteht“, zu beschäftigen, wie Sexualität und sogar medizinische Themen wie Brustkrebs, Schwangerschaft und Geburt.
Ein zentraler Punkt der ultraorthodoxen Ideologie ist die Losung „nur Tora“: Die Männer widmen ihr Leben ausschließlich dem Tora-Studium und somit ist die Bildung komplett nach Geschlechtern getrennt. Und das auch inhaltlich: Die Jungen werden hauptsächlich in religiösen Disziplinen, mit Schwerpunkt auf Talmud, unterrichtet, während säkulare Fächer in ihrem Unterricht nur rudimentär vertreten sind, und das auch nur im Grundschulalter. Danach bis zu ihrer Heirat oder selbst darüber hinaus gehen sie religiösen Studien, mit Schwerpunkt auf Gemara, nach.[5]
Im Gegensatz dazu werden Mädchen in verschiedenen religiösen und säkularen Fächern unterrichtet und mitunter erreichen sie das Abitur; Gemara lernen sie gar nicht.
Ultraorthodoxe Frauen in Israel – Die Situation heute
Infolgedessen sind ultraorthodoxe Frauen besser ausgebildet und qualifiziert für den Arbeitsmarkt als ultraorthodoxe Männer. Wie kommt es dazu in einer konservativen traditionellen Gesellschaft wie der ultraorthodoxen? In einer Gesellschaft, die auf Tora-Studium ausgerichtet ist, sind Frauen von zentraler Bedeutung für den Lebensunterhalt. Sie erlernen verschiedenste Berufe, die es ihnen ermöglichen, nach ihrer Heirat zu arbeiten. In der ultraorthodoxen Gesellschaft wird früh geheiratet, im Alter zwischen 18 und 24 Jahren. Das erste Kind kommt meist ein Jahr nach der Heirat zur Welt.
Dadurch entsteht eine seltsame Situation: Einerseits sind ultraorthodoxe Frauen für die Einkünfte des Haushalts zuständig; mehr noch sie sind es, die die Existenz und das Wohlergehen der auf Tora-Studium ausgerichteten ultraorthodoxen Gesellschaft sicherstellen. Andererseits verschafft ihnen ihre wirtschaftliche Überlegenheit nicht unbedingt Macht und Respekt. Über Respekt gehen die Meinungen auseinander, aber Macht? Es gibt fast gar keine ultraorthodoxen Frauen im öffentlichen Raum, in den Einfluss- und Entscheidungszentren.
Für dieses Paradox gibt es alle möglichen Erklärungen. Eine davon liegt auf der Schnittstelle zwischen Soziologie und Ideologie. In einer Gesellschaft, in der der Wert in Geld bemessen wird, haben diejenigen eine gehobene Stellung, die es besitzen und vermehren. Aber in einer Gesellschaft wie der ultraorthodoxen, in der das Tora-Studium der zentrale Wert ist und Frauen vom Gemara-Studium völlig ausgeschlossen sind, haben die Männer Status und Macht. Der Lebensunterhalt, den Frauen mit ihrer Arbeit verdienen, wird als zweitrangig und funktional betrachtet, um die Welt der Tora zu erhalten.
Aufgrund der Abschottung, der separaten Bildungssysteme und der frühen Heirat in der ultraorthodoxen Gesellschaft ist ein weiterer Aspekt dieses Phänomens, dass ultraorthodoxe Frauen sehr niedrige Löhne verdienen. Mit diesen schaffen sie es zwar, ihre Familie zu erhalten, aber sie gehören immer noch zur Unterschicht in sozioökonomischer Hinsicht als auch in der Wahrnehmung.
Es gilt zu bedenken, dass ultraorthodoxe Frauen von klein auf zu diesen Idealen erzogen werden, und dass viele von ihnen diese Lebensweise mit all ihren Schwierigkeiten und Herausforderungen als die Erfüllung ihrer Träume sehen.
„Gott sei gedankt, dass ich keine Frau bin“ – Die Geschichte der Frauen im Judentum
Die Stellung der Frau im Judentum ist ein komplexes Thema. Insbesondere in den letzten Generationen wurde mit dem Aufkommen des Feminismus unermüdlich viel geschrieben, um jüdischen Frauen zu erklären, dass sie entgegen allem Anschein einen wichtigen und angesehenen Status haben. Es handelt sich dabei in der Regel um retrospektive Apologetik, deren Argumentationslinien erst entwickelt wurden, nachdem die feministische Bewegung begonnen hatte, die Ordnung der Welt zu verändern. Dennoch finden die meisten ultraorthodoxen Frauen und ein Teil der übrigen religiösen jüdischen Frauen solche Erklärungen immer noch plausibel.
Ein kleines Beispiel: Eine Danksagung im Morgengebet der Männer lautet: „[Gott sei] gedankt, dass ich keine Frau bin“. Im Gegensatz dazu beten die Frauen „[Gott sei] gedankt, dass ich nach Seinem Willen geschaffen wurde“ und bringen damit zum Ausdruck, dass sie sich mit dem nicht so großartigen Schicksal, das ihnen zufiel, abfinden.
Das jüdische Schrifttum birgt nichts Gutes für Frauen. Es enthält gar keine von Frauen geschriebene Schriften über die Tora. Darüber hinaus können auch Stellen in den vorhandenen Texten heute schwer erträglich scheinen. Es sollte jedoch bedacht werden, dass die Tora-Literatur über tausende von Jahren hinweg entstandene Schriften umfasst. Sie spiegelt Normen der Antike, des Mittelalters, bis hin zu denen unserer Zeit wider, und enthält alles, im Guten wie im Schlechten. Es gibt sehr klare Halacha-Regelungen, die darauf abzielen, die grundlegenden Rechte der Frauen zu wahren; es gibt Stellen im Schrifttum, die Frauen verherrlichen und erheben; und es gibt Stellen, die aktivistische atheistische Menschen gerne verwenden, um ihre Behauptungen zu belegen.
Die ultraorthodoxe Gesellschaft als eine Gesellschaft von Gelehrten/Lernenden, die sich häufig mit diesen Schriften, ihrer Interpretation und Relevanz beschäftigt, weiß selektiv zu sein, und falls konkreter Bedarf besteht, können heilige Texte unterschiedlich interpretiert werden. So wurden zum Beispiel jüdische Konzeptionen durch ultraorthodoxe Rabbiner umfassend reformiert. Ursprünglich hatte ein jüdischer Mann die Pflicht, seine Frau zu ernähren und zu unterstützen, und musste sogar diese Verpflichtung im Vertrag bei der Hochzeit unterschreiben. Im heutigen ultraorthodoxen Judentum ist die Situation jedoch genau umgekehrt. Die Frau ist diejenige, die für den Lebensunterhalt arbeitet. Diese radikale Reform ist das Produkt der sozialen Notwendigkeit, die in Europa ausgelöschte Welt der Tora-Studien zu erneuern und in Israel wieder auf die Beine zu stellen.
Hinaus in die virtuelle Welt – Ultraorthodoxe Frauen im Netz
Ganz generell lässt sich feststellen, dass die ultraorthodoxe Gesellschaft eine patriarchale ist; das ist die Realität. Wenn man ins Detail geht, lassen sich jedoch die verschiedenen Komplexitäten feststellen. Die ultraorthodoxen Frauen dienen im Allgemeinen zum Erhalt, in dem sie gegen dem Mann ihren Status als („seine Gehilfin“)/“… eine Hilfe …, die ihm entspricht“[6] akzeptieren, das heißt, ihre Funktion im Dienst der Welt der Tora, zu der sie keinen Zutritt haben, als abwesende Präsenz, die hinter den Geschlechtertrennungen stehen und am spirituellen, religiösen und Community-Leben nicht teilhaben, also als Frauen, die die männliche Autorität in religiösen, öffentlichen und politischen Angelegenheiten als absolute akzeptieren. Etwas, dass alle ultraorthodoxen Communities, so unterschiedlich sie auch sein mögen, gemeinsam haben, ist der völlige Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Raum. Es gibt keine ultraorthodoxen Frauen in den Stadträten, in den religiösen Beiräten, in der Knesset; ihre Präsenz in den ultraorthodoxen Medien ist minimal; und natürlich sind sie in allen Bereichen, die mit Tora, Rabbinat und Halacha zu tun haben, nicht vorhanden.
Andererseits sind sie auch diejenigen, die Veränderung bewirken können, da sie eine breitere Allgemeinbildung haben, in fast allen Berufszweigen integriert sind und Kontakte außerhalb der ultraorthodoxen Gesellschaft haben. Obwohl die virtuelle Welt vom harten Kern immer noch vermieden wird, hat die Präsenz von Ultraorthodoxen im Internet in den letzten Jahren stark zugenommen. Es gibt auf ultraorthodoxe Frauen ausgerichtete Diskussionsgruppen, gemischte Gruppen von ultraorthodoxen Frauen und Männern, die sich mit verschiedenen Themen auseinandersetzen, sowie Meinungsmacher:innen, die sich über das Internet etabliert haben. Es scheint jedoch, dass auch in der virtuellen Welt die inhaltliche Unterteilung erhalten bleibt. Die ultraorthodoxen Männer dominieren Twitter, als Journalisten, Medienleute, Politiker, Vertreter von rabbinischen Höfen und Publizisten, während ultraorthodoxe Meinungsmacherinnen auf Instagram dominant sind, als Kosmetikerinnen, Mode-Expertinnen und Köchinnen.
Ohne Stimme keine Stimme – Die ultraorthodoxe Frauenbewegung Niwcharot
In bin in der ultraorthodoxen Gesellschaft aufgewachsen, als Tochter marokkanischer Eltern, die ebenfalls in ultraorthodoxen Bildungseinrichtungen unterrichtet worden waren. Die ultraorthodoxe Gesellschaft war und erscheint mir immer noch als meine natürliche Heimat, meine Familie. Zugleich habe ich als ultraorthodoxe Mizrachi-Frau nicht das Gefühl, dass ich an dieser Lebenswelt wirklich teilhabe.
Schon in meiner Kindheit und Jugend fühlte ich mich nicht wirklich zugehörig. Die Szenen der interethnischen Diskriminierung in den ultraorthodoxen Institutionen waren für mich schwer erträglich und ich habe sogar selbst unter solcher Diskriminierung gelitten. Vielleicht hat mich das dazu gebracht, eine kritische und skeptische Haltung einzunehmen und sie mit zunehmendem Alter und Selbstvertrauen sogar offen zu äußern.
Ich sah mich nicht als Feministin – diese Bezeichnung wurde mir normalerweise als Beschimpfung entgegengeschleudert, wenn ich mich über die Ungerechtigkeit um mich herum beschwerte.
Ich habe mehrere Jahre als Publizistin in der ultraorthodoxen Presse gearbeitet. Ich wurde ausdrücklich gebeten, meinen Vornamen nicht zu schreiben, um geheim zu halten, dass ich eine Frau bin. Eine Frau sollte keine Meinung zum aktuellen Geschehen haben, und wenn sie eine hat, behält sie sie besser für sich.
Im Herbst 2012 fühlte ich, dass es so nicht weitergehen kann. Im Oktober 2012 wurde die 18. Knesset aufgelöst und es wurden vorgezogene Neuwahlen für Januar 2013 festgelegt. Ich schaute um mich und fragte mich, wie ich mit all diesen politischen Umwälzungen um mich herum verbunden bin. Schließlich habe ich etwas über Politik zu sagen; ich schreibe darüber und spreche darüber mit meinen Freund:innen.
Als Publizistin habe ich an vielen politischen Kampagnen teilgenommen. Wie kann es sein, dass ich und andere Frauen wie ich nicht nur keine gewählten Repräsentantinnen haben, sondern auch die gewählten ultraorthodoxen Männer keinerlei Anstrengungen unternehmen, um unsere Stimmen zu mobilisieren, um uns Wahlversprechen zu machen? Sie haben uns in der Tasche. Ich wusste, was nun passieren würde. Während des Wahlkampfs würden die Publizisten der Parteien Aufrufe von wichtigen Rabbinern veröffentlichen, die dazu auffordern, für die eine oder andere ultraorthodoxe Partei zu stimmen, und dafür das Paradies, Lernerfolge und ein gutes Einkommen versprechen. Und wir würden alle gehen und für sie stimmen.
Aus diesen Gedanken ist die Bewegung Niwcharot entsprungen. Es begann als eine Seite, die ich auf Facebook einrichtete, obwohl Ultraorthodoxe zu der Zeit im Internet nur sehr spärlich und dann auch nur verdeckt präsent waren. Dort sprudelten die vielen Fragen, die sich mir stellten, heraus. Ich war jung und verwegen genug, um die Seite „Ohne Stimme keine Stimme“ zu nennen und ultraorthodoxe Frauen explizit dazu aufzufordern, nicht mehr automatisch für Parteien zu stimmen, die sie überhaupt nicht beachten.
So fand ich mich in einer Konfrontation mit der männlichen ultraorthodoxen Führung wieder, die auf die unterschiedlichste Weise auf mich reagierte. Primär wurde ich öffentlich mit dem Vorwurf angegriffen, dass ich „keine wirklich ultraorthodoxe Frau“ sei und daher kein Recht habe, im Namen von ultraorthodoxen Frauen zu sprechen – die überhaupt nicht am öffentlichen Leben teilnehmen wollen.
Hier finden Sie externe Inhalte von YouTube.
Mit dem Anklicken des Videos erklären Sie sich mit den Nutzungsbedingungen von YouTube einverstanden.
Der ultraorthodoxe Feminismus nimmt Gestalt an
Unter ultraorthodoxen Frauen gab es jedoch insgeheim in aller Stille Interesse an diesen Ideen. Wir begannen als eine Gruppe, die sich „involvierte [Frauen]“ nannte und der ultraorthodoxe Frauen verschiedener Sektoren angehörten. Im Rahmen dieser Organisation, die ich zusammen mit der Sozialunternehmerin Racheli Ibenboim gründete, trafen sich 15 ultraorthodoxe Frauen, um über öffentliche politische Themen zu diskutieren. Anfangs trafen wir uns voller Angst heimlich nachts in Luftschutzbunkern in Bnei Brak. Aber schon damals war uns klar, dass der ultraorthodoxe Feminismus Gestalt annimmt.
Bei den Wahlen im Jahr 2015 waren wir schon fünf Frauen: Racheli Ibenboim, Michal Zernowitski, Estee Rieder, Tali Farkash und ich. Und es gab schon eine Kampagne. Wir schrieben, wurden interviewt, traten bei verschiedenen Gelegenheiten auf und die Doku-Serie „Uwda“ (Tatsache) machte eine Sendung über uns, die zur Prime Time im israelischen Fernsehen gesendet wurde. So kam das Thema auf die öffentliche Tagesordnung.
Die ultraorthodoxe politische Führung ist durchgedreht. Ihre Vertreter in den Medien haben uns gnadenlos angegriffen. Wir wurden als Lügnerinnen, Scharlataninnen, nicht Ultraorthodoxe, Fakes bezeichnet. Bekannte ultraorthodoxe Frauen haben sich scharf gegen uns ausgesprochen.
Der Preis war zu hoch, sowohl persönlich als auch gesellschaftlich. Was uns als Gruppe zusammengehalten hat, löste sich auf. Einige Frauen haben, mitunter wütend, die Gruppe verlassen; andere kamen hinzu.
Trotz allem wurde die Organisation Niwcharot im Jahr 2016 als Verein eingetragen und nahm ihre Arbeit auf.
In den ersten zwei Jahren haben Esty Rieder und ich sie gemeinsam geleitet. Wir haben wichtige Dinge zusammen gemacht. Wir haben mit unserer Öffentlichkeitsarbeit eine von der Rechtanwältin Tamar Ben-Porat eingereichte Klage vor dem Obersten Gerichtshof begleitet. Nach einem dreijährigen Gerichtsverfahren wurde der in der Klage erhobenen Forderung, die Partei Agudat Jisrael zu verpflichten, die diskriminierenden Elemente in ihren Statuten zu ändern, stattgegeben.
Wir sind gemeinsam zum VN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW) in Genf gereist. Wir haben dem Ausschuss einen Bericht vorgelegt, in dem wir zum ersten Mal über die Ausgrenzung von ultraorthodoxen Frauen und dem Ausschluss ihrer Mitsprache in Israel unter der Schirmherrschaft des Staats und seiner Institutionen berichteten. Außerdem haben wir eine Lobby für die Mitarbeit von ultraorthodoxen Frauen in der Knesset gegründet und, um einen Kreis von weiblichen potentiellen ultraorthodoxen gesellschaftlichen Führungskräften aufzubauen, eine erste bahnbrechende Trainingsgruppe für politische Bildung von ultraorthodoxen Frauen.
Stolz auf die eigene Identität
Unser Kampf ist schwierig, und nicht nur aus einem Grund. Wir agieren in der ultraorthodoxen Gesellschaft. Trotz der Versuche, uns als nicht ultraorthodoxe Frauen hinzustellen, sind wir, die Mitglieder der Organisation Niwcharot stolz auf unsere ultraorthodoxe Identität und wollen Veränderung von innenheraus bewirken und Normen der Toleranz und des Respekts für Frauen in die ultraorthodoxe Gesellschaft sowohl im privaten also auch im öffentlichen Bereich einführen.
Feministische Kämpfe sind überall schwierig. Die Welt, auch die westliche offene, steht in ihrem Bewusstsein und Verhalten noch immer auf patriarchalen Fundamenten. Von außen betrachtet scheint der Kampf um Gleichberechtigung in der ultraorthodoxen Welt aussichtslos, aber es ist hilfreich, sich vor Augen zu halten, dass in traditionellen konservativen Gesellschaften der feministische Kampf einfach dem ähnelt, der im vorigen Jahrhundert geführt wurde. Ich finde viele Ähnlichkeiten zwischen uns, den ultraorthodoxen Feministinnen, und den arabischen und den muslimischen. Wir alle müssen die Betondecken über uns durchbrechen.
Bin ich optimistisch? Ich glaube ja, auch wenn es schwere Phasen gibt. Ich habe Vertrauen in die ultraorthodoxe Gesellschaft. Ich liebe und schätze ihre Fähigkeit, zumindest in ihren Werten, nicht vor dem kapitalistischen goldenen Kalb zu knien. Ich liebe die in ihr verbreitete Barmherzigkeit, die Einfachheit, die Liebe zur Weisheit und zum Buch, die Verbindung zu den Wurzeln, den sarkastischen Humor, die Kultur und sogar die Werte des Anstands.
Die größte Schwierigkeit in unsere Arbeit ist es zu vermeiden, über das Ziel hinauszuschießen. Wo genau sollten die Grenzen der Veränderung gezogen werden, um die Identität, die uns wichtig ist, nicht zu verlieren? Wie können die Rechte von Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft verbessert werden, für die es sehr wichtig ist, sich und ihre einzigartige Identität vor äußeren Einflüssen zu schützen?
Es ist meines Erachtens an der Zeit, dass die ultraorthodoxe Gesellschaft lernt, sich von dem Trauma der Säkularisierung, die sie in Europa erlebt hat, zu befreien, und dass ihr Führung versteht, dass in einer medialen und vernetzten Welt wie der unseren die ultraorthodoxen jungen Männer und Frauen auf Facebook, Twitter, Instagram, Air BNB und sogar Wikipedia landen.
Und damit muss man leben und sich dem anpassen.
In den letzten Jahren hat sich die Organisation Niwcharot mehr der Basisarbeit zugewendet, dem Training von ultraorthodoxen Frauen für Führungspositionen und Veranstaltungen für Frauen der sich entwickelnden ultraorthodoxen feministischen Bewegung. Dabei geht es hauptsächlich darum, ihnen die Legitimität ihres Rechts, ihre Stimme einzubringen und ihre Meinung zu äußern, zu vermitteln.
Einige der Frauen, die an unseren Programmen teilgenommen haben, gehen entschlossen und hartnäckig ihren Weg in der politischen Welt, wofür sie einen hohen persönlichen Preis zahlen. Andere konzentrieren sich auf soziale Projekte oder sind im Internet aktiv.
Es ist wahrscheinlich noch ein langer Weg, bis es sich für politische Organisationen lohnt, Frauen in ihren Reihen aufzunehmen. Aber je mehr ich mich umschaue, desto mehr merke ich, dass er nicht mehr so lang ist, wie er einst war. Die Präsenz von Frauen hat zugenommen; es gibt ein Bewusstsein für das Thema und einen lebendigen Diskurs, insbesondere vor Wahlen. Zudem sprechen die digitalen Kampagnen der ultraorthodoxen Parteien nun auch Frauen an und zeigen sogar Bilder von Frauen. Ich bin davon überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Decke aufbricht.
Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin
Anmerkungen
[1] Verheiratete ultraorthodoxe Frauen tragen Perücke oder Kopftuch, um ihr Haar zu bedecken, und aus Gründen des Anstands (der „Keuschheit“) Kleidung, die den ganzen Körper bedeckt.
[2] Im öffentlichen Raum in der ultraorthodoxen Gesellschaft gibt es eine Trennung zwischen Männern und Frauen.
[3] Die Halacha ist der rechtliche Teil der überlieferten Texte des Judentums.
[4] Die Haskala („Bildung“) war eine jüdische Bewegung, die im 18en Jahrhundert in Europa entstand. Sie beruhte auf den Ideen der europäischen Aufklärung, und trat demnach mitunter auch für Toleranz, Modernisierung und Integration der Juden in den europäischen Gesellschaften.
[5] Talmud und Gemara sind im Judentum traditionelle Texte, die die mündliche jüdische Überlieferung erläutern und ergänzen.
[6] Genesis, 2, 18: „Dann sprach Gott, der Herr: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht.“
Autor:in
Esty Shushan ist Gründerin und Leiterin der Organisation Niwcharot (Gewählte Repräsentantinnen), einer ultraorthodoxen Frauenbewegung. Sie arbeitet als Künstlerin, Filmemacherin sowie Autorin und Moderatorin des Podcasts „Umgangssprachliches Ultraorthodoxisch“, der sich mit den Berührungsstellen zwischen der ultraorthodoxen Welt und der israelischen Gesellschaft beschäftigt.