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Der israelische Friedensaktivist Yonatan Zeigen, Jerusalem, November 2024. Foto: ActiveStills / Oren Ziv

„Rache ist keine Strategie“

Der israelische Friedensaktivist Yonatan Zeigen über das Verhältnis zwischen persönlicher Trauer und politischer Verantwortung

Der Krieg zwischen Israel und der Hamas, der am 7. Oktober 2023 begann, geht nun in sein zweites, schreckliches Jahr. In dieser Zeit wurden nicht nur 1.200 Israelis getötet und Hunderte Geiseln von der Hamas genommen, sondern auch über 40.000 Palästinenser*innen bei den israelischen Angriffen seitdem getötet. Weiterhin erleben wir seit einigen Wochen auch eine Eskalation der militärischen Gewalt im Libanon sowie im Norden Israels. Ein Frieden - oder auch nur ein Waffenstillstand, sei er auch nur vorübergehend - scheint heute weiter entfernt zu sein als jemals zuvor seit Beginn der Kämpfe.

Es gehört zu den dunkleren Ironien der Geschichte, dass viele der an diesem Tag getöteten Israelis dem politisch marginalisierten, aber dennoch standhaften Friedenslager Israels angehörten. Eine von ihnen war Vivian Silver, eine kanadisch-israelische Friedens- und Frauenrechtsaktivistin und langjährige Bewohnerin des Kibbuz Be'eri, nur acht Kilometer von der Grenze zu Gaza entfernt. Sie hatte Jahrzehnte damit verbracht, Solidarität und Verständnis zwischen Palästinenser*innen und Israelis aufzubauen, und war ein führendes Mitglied von Menschenrechts- und Friedensorganisationen wie B'Tselem und Women Wage Peace.

Seit ihrem Tod setzt ihr Sohn Yonatan Zeigen ihre Mission fort und reist durch die Region und die Welt, um ihre Friedensbotschaft in konkrete politische Handlungen umzusetzen. In den Tagen vor dem ersten Jahrestag des Krieges sprach er mit Gil Shohat von der Rosa-Luxemburg-Stiftung über das Vermächtnis seiner Mutter, die prekäre Lage der Friedensbewegung in Israel heute und warum er glaubt, dass internationaler Druck für die Beendigung des aktuellen Krieges entscheidend ist. Wir haben das Interview am 26. September 2024 in Tel Aviv geführt.

Gil Shohat: Am 7. Oktober 2023 ist es ein Jahr her, dass Ihre Mutter, Vivian Silver, von der Hamas im Kibbuz Be'eri ermordet wurde. Was bedeutet es für Sie, auf diesen Tag zurückzublicken? Können Sie diesem Tag Raum in ihren Gedanken geben?

Yonatan Zeigen: Ich habe die ganze Zeit über diese doppelte Bedeutung nachgedacht. Einerseits habe ich diese sehr persönliche Erfahrung von Schmerz und Verlust und andererseits den öffentlichen Aspekt, weil sie eine öffentliche Person war und ihr Tod Teil eines öffentlichen, gemeinschaftlichen Kontextes war.

Ich glaube, das letzte Mal, dass ich wirklich ganz im Persönlichen war, war am 7. Oktober selbst, in den ersten Morgenstunden, als ich die Erfahrung mit ihr am Telefon durchging, einfach bei ihr war, bis sie starb, und dann schweigend auf dem Bett lag und versuchte, das Geschehene zu verarbeiten. Dann, sehr schnell, noch am selben Tag - und nachdem ich sicher war, dass sie tot war - wurde gesagt, dass sie eine Geisel sei. Das ging über einen Monat lang so.

Warum oder wie ist das passiert?

Weil niemand eine Leiche gefunden hat. Wir wussten, dass andere Leute getötet worden sind, aber wir hatten keine Informationen über sie. Dann wurde ihr Telefon in Gaza geortet, und so konnte ihr Tod nicht wirklich bestätigt werden. Es gab kein Lebenszeichen aus Gaza und keine Informationen darüber, dass sie nach Gaza gebracht worden war, aber man konnte ihre Leiche nicht finden, und im Haus gab es keine Anzeichen von Gewalt, denn es war völlig niedergebrannt. Daher betrachtete die Regierung sie als Geisel. Nach mehr als einem Monat fanden die Archäologen ihre Überreste in dem Haus.

Nichtsdestotrotz wurde ich ab Sonntag oder Montag Teil dieser Bemühungen um die sogenannte „Geiselfamilie“, und das passte gut zu meinen psychologischen Bewältigungsmechanismen, denn ich neige dazu, Probleme zu depersonalisieren und zu externalisieren. Ich habe sofort angefangen, auch in diesem Zusammenhang darüber nachzudenken: Das Problem ist nicht vorranging der bestimmte Mann, der meine Mutter töten will, das Problem ist der Krieg. Das Problem ist die Besatzung. Das Problem ist der Konflikt an sich. Die Lösung besteht nicht darin, an sie zu denken, sich nicht mit der Person selbst zu beschäftigen, sondern den Konflikt zu lösen. Das hat meine Art und Weise, mit der Welt im Allgemeinen umzugehen, beeinflusst.

Sie sprechen von diesem strukturellen Element. Haben Sie dennoch externe Unterstützung? Denn ich vermute, dass auch dieser externalisierende Mechanismus seine Grenzen hat, und auch Ihre umfangreiche Advocacy-Arbeit fordert ihren Tribut.

Das Einzige, was ich von der Regierung bekommen konnte, war eine bezahlte psychologische Betreuung, und die habe ich in Anspruch genommen. Ein paar Monate nach dem 7. Oktober habe ich eine Bewältigungstherapie gemacht. Das war die einzige „externe“ Unterstützung, die ich in Anspruch nahm. Ansonsten ist es die Arbeit selbst, die Tatsache, dass ich beschäftigt bin, dass ich das Gefühl habe, dieser Erfahrung einen Sinn zu geben und dass ich mich für etwas engagiere, das mir wichtig ist. Das hält mich bei Verstand, denke ich.

Glauben Sie, dass diese Einstellung unter den Hinterbliebenen, die am 7. Oktober Angehörige verloren haben, verbreitet ist? Meiner Beobachtung nach gibt es Familien, die sich für die Freilassung ihrer Angehörigen einsetzen, aber sobald die Nachricht kommt, dass sie vielleicht nicht mehr leben, kann das zu einem Zusammenbruch oder Motivationsverlust führen. In Ihrem Fall ist das anders. Sie haben die Bestätigung für den Tod Ihrer Mutter relativ schnell erhalten, aber das scheint Ihren Aktivismus nur noch mehr angetrieben zu haben.

Ich glaube, dass Trauer im Allgemeinen die Menschen zu einer Art Bewegung antreibt. Es stimmt, dass es viele Menschen gibt, die zusammen mit ihren Liebsten gestorben sind. Aber wenn ich mir mein Umfeld anschaue, denke ich, dass viele Menschen, die diesen Preis bezahlt haben, aktiv geworden sind, wenn auch jeder in seinem eigenen Sinne. Vielleicht sind das aber auch nur die Menschen, die wir kennen. Schließlich sind die meisten Menschen, die einen geliebten Menschen verloren haben, still, und wir denken nicht darüber nach, weil wir nicht von ihnen hören.

Ich habe mich in der Zeit, als sie angeblich eine Geisel war, zurückgehalten. Ich habe mich zum Beispiel bewusst dafür entschieden, nicht auf Hebräisch zu sprechen, denn ich wusste, wenn ich in den israelischen Medien auf Hebräisch spreche, würde das zu einer politischen Auseinandersetzung führen. Ich wollte nicht die Geschichte sein - ich wollte die Geschichte von Vivian als Geisel erzählen, um alle Geiseln zurückzubekommen. Es war eine kollektive Anstrengung.

achdem sie identifiziert worden war, fühlte ich mich verpflichtet, eine Art Rolle zu übernehmen, denn leider wurde mir diese Plattform gegeben - Trauer bedeutet etwas in Israel, wissen Sie. Ich fühlte mich verpflichtet, mich weiterhin zu Wort zu melden, aber im Sinne der Arbeit an Veränderungen. Die Familien der Geiseln wollten nie radikale Erklärungen abgeben, aber der einzige Weg, die Geiseln zurückzubekommen, ist die Beendigung des Krieges. In diesem Monat war ich also hin- und hergerissen, weil ich zu Demonstrationen ging und sie riefen: „Kein Waffenstillstand ohne alle Geiseln!“, und ich drehte durch. „Was? Was soll das heißen? Es ist genau andersherum. Wir müssen 'Waffenstillstand jetzt!' schreien, um die Geiseln zu bekommen. Wir können keine Deals ablehnen, weil wir Angst haben, dass unsere Liebsten nicht dabei sind.“

Die Leute sagten: „Nein, es ist, weil deine Mutter alt ist.“ Ich sagte: „Ich bin bereit, ein Abkommen für 80+ zu unterschreiben.“ Meine Mutter war 74. „Ich bin bereit, ein Abkommen für 75+ zu unterschreiben, weil ich weiß, dass sie schneller zurückkommen wird, wenn es losgeht, als wenn wir es hinauszögern und weiter angreifen.“ Aber der Punkt ist, dass ich meine Ansichten nicht geändert habe. Ich hatte dieselben Ansichten, als ich aufwuchs, ich hatte sie mein ganzes Leben lang, ich war nur nicht involviert. In den letzten zehn Jahren habe ich mich nicht engagiert. Daher war der 7. Oktober für mich ein entscheidender Punkt, der mir das Gefühl gab, dass ich mich engagieren muss und dass ich mich einbringen muss.

Würden Sie sagen, dass zumindest einige Israelis das Privileg hatten, aufgrund der strukturellen Asymmetrie nicht in den Konflikt involviert zu sein, und dass diese Erfahrung Sie und viele andere vielleicht daran erinnert hat, dass es keine andere Wahl gibt, als sich zu engagieren, wenn man will, dass sich etwas ändert?

Ja, natürlich. In diesem Sinne hat die Hamas Erfolg gehabt, aber gleichzeitig auch versagt. Ich wusste immer, dass Israelis nur Gewalt verstehen: Wenn sie nicht gewalttätig sind, interessiert uns das nicht. Die Besatzung hatte sich seit Jahren verschärft, aber die Palästinensische Autonomiebehörde hielt alles in Schach. Das hat sie in Sachen Wohlstand nicht weitergebracht. Wir haben nur während der Operation „Protective Edge“ im Jahr 2014 über die Hamas gesprochen, oder wenn sie Luftballons in die Luft gejagt haben - das war das einzige Mal, dass wir sie wahrgenommen haben. Der 7. Oktober hat sie in diesem Sinne auf die Landkarte gebracht.

Ich wusste immer, dass Israelis nur Gewalt verstehen: Wenn sie nicht gewalttätig sind, interessiert uns das nicht. 

Andererseits erwarteten sie eine Art verhältnismäßige gewaltsame Reaktion. Es hat aber auch das Engagement internationaler Friedensaktivisten gefördert, die auf eine ganzheitlichere Lösung des Konflikts drängen, und ich bin mir nicht sicher, ob die Hamas den Konflikt wirklich im Sinne eines Friedensabkommens lösen will. Das ist jedoch das Ergebnis, das erreicht werden muss. Das ist im ersten Jahr nicht geschehen. Ich hoffe, es wird im nächsten Jahr geschehen. Aber es muss in diese Richtung gehen - entweder das oder unser aller Vernichtung.

Lassen Sie uns über Ihre Mutter Vivian sprechen, die im Kibbuz Be'eri ganz in der Nähe der Grenze zum Gazastreifen lebte. Vivian war eine langjährige Friedensaktivistin - eine öffentliche Person, wie Sie sagten. Sie gehörte dem Vorstand von B'Tselem an, war aber auch an vielen anderen Initiativen zur Förderung des israelisch-palästinensischen Friedens und der Zusammenarbeit beteiligt.

Sie kam 1974 nach Israel. Sie wuchs in Kanada auf, aber ihr war klar, dass ihre Zukunft hier lag, und sie schloss sich einer feministischen Jugendbewegung an. Sie lebten einige Jahre in New York, um sich auf die Ankunft hier vorzubereiten, und kamen dann, um einen neuen Kibbuz zu gründen.

Seit ihrer Kindheit führte sie ein sehr ideologisches Leben. Sie war die Sprecherin ihrer Klasse und war immer aktiv. Sie war sehr engagiert in feministischen Fragen und organisierte und mobilisierte Frauen in der zionistischen Bewegung in Nordamerika. In Israel war sie dann die erste Sekretärin des neuen Kibbuz, eine von nur sieben Frauen in der Geschichte der Kibbuzbewegung. Sie war Vorstandsmitglied des New Israel Fund, aber der Kibbuz war ihr Leben.

Als wir 1990 in den Kibbuz Be'eri zogen, engagierte sie sich stärker für die Frage der Koexistenz und Zusammenarbeit. Die Nähe schafft eine Verantwortung. Zu Beginn der 1990er Jahre war sie Leiterin für Bautätigkeiten in Be'eri und arbeitete mit Palästinenser*innen aus dem Gazastreifen als deren Leitung. Ich habe diese Mitarbeiter in einem sehr familiären Kontext in Erinnerung. Und dann Ende der 1990er wurde sie Geschäftsführerin einer Organisation namens Arab-Jewish Center for Empowerment, Equality, and Cooperation - Negev Institute for Strategies of Peace and Economic Development (AJEEC-NISPED), die Projekte in Gaza durchführte - zivilgesellschaftliche Schulungen, Begegnungsgruppen, Wirtschaftsprojekte und dergleichen.

Sie nahm mich und meinen Bruder in den 2000er Jahren mit nach Gaza, kurz vor der Zweiten Intifada, und es war erstaunlich, denn es fühlte sich ganz natürlich an, Freund*innen und Kolleg*innen meiner Mutter zu besuchen. Wir haben eine Tour gemacht und sind herumgelaufen. Aber ich wusste auch, dass dies eine ganz besondere Erfahrung war. Keiner meiner Mitschüler*innen hätte das tun können, weil es nicht offen war. Vor der ersten Intifada war Gaza die große Stadt, in die der Kibbuz zum Strand, zum Einkaufen und so weiter ging, aber jetzt ist Gaza seit 24 Jahren geschlossen.

Nach dem Ausbruch der zweiten Intifada wurde das wie ein Soundtrack zu unserem Leben - die Schüsse in der Ferne, die Bombardierungen. Wir saßen im Kibbuz auf dem Rasen und beobachteten das Geschehen aus der Ferne, und es war ziemlich surreal, denn man lebt direkt daneben - man hört es, man sieht es - aber es ist nicht real, es ist immer noch weit weg. Es ist nicht wie heute.

Für die Kinder, die nach 2000 geboren wurden, war es eine große Sache. Sie lebten in einem Kriegsgebiet. Aber für uns war es eine andere Erfahrung. Ich erinnere mich, dass ich anfing, Gaza als ein Gefängnis zu betrachten. Ich spürte diese Spannung zwischen dem Leben im Paradies und der Unmöglichkeit, eine Beziehung zu diesem Ort aufzubauen, denn zwischen Himmel und Hölle liegt die Erde, nicht wahr? Die Menschen im Himmel sehen die Menschen in der Hölle nicht. Aber wir sahen die Hölle. Wir haben im Himmel gelebt und wir haben die Hölle gesehen.

Die Menschen im Himmel sehen die Menschen in der Hölle nicht. Aber wir sahen die Hölle. Wir haben im Himmel gelebt und wir haben die Hölle gesehen.

Sie haben sich entschieden, nicht damit weiter zu leben und wegzuziehen.

Nun, das war nicht der Grund dafür. Nach dem Jahr 2000 wurde der Gazastreifen abgeriegelt, und sie hatten Probleme, ihre Projekte dort fortzusetzen. Die Organisation begann, den Schwerpunkt auf die Beduinengemeinschaft zu legen, und ihre Kollegin, eine Beduinin, hatte die Idee, einen neuen Zweig der Organisation zu gründen. Sie wurden Co-CEOs der gesamten Organisation, die sich zu einer der stärksten Koexistenzorganisationen in Israel entwickelte.

Das tat sie bis 2014, aber in all den Jahren war sie auch in anderen Initiativen und Gremien tätig. Sie war sehr engagiert im Friedenslager. Ich erinnere mich, wie ich mit ihr zu Veranstaltungen ging und mit Palästinenser*innen aus Gaza sprach. Als 2007 die Hamas an die Macht kam, war das sehr beängstigend, weil sie dort Kollegen verlor. Freunde von ihr flohen oder wurden getötet, es war schrecklich. Nachdem sie 2014 aus der Organisation ausgeschieden war, engagierte sie sich sofort bei Women Wage Peace und wurde Freiwillige bei The Road to Recovery. Sie saß weiterhin in den Vorständen von Organisationen und ging zu J Street. Das war ihre Welt, ihr Leben.

War etwas so Schreckliches wie der 7. Oktober eine Angst von Ihnen? War es etwas, das irgendwie im Bereich des Vorstellbaren lag?

Nicht so. Ich war mit meiner Familie oft dort zu Besuch, und wir schliefen in ihrem Haus. Ich weiß noch, wie ich meine Kinder ins Bett brachte und dann versuchte, einzuschlafen. Ich habe mir vorgestellt, dass jemand ins Haus kommt. Was würde ich dann tun? Das war immer vorstellbar. Aber ein Einmarsch einer kleinen Armee, und dass die israelische Armee einfach nicht vorhanden ist? Das konnten wir uns nicht vorstellen.

Waren Sie oder wie oft waren Sie seitdem in Be'eri?

Ab und zu gehe ich hin. Es ist ein tragischer Ort. Ich erinnere mich, als ich das erste Mal dort war, war alles noch ganz frisch, und ich dachte über den Satz aus der Bibel nach: „Ich wanderte durch das Tal der Todesschatten.“ Wir gingen auf dem Bürgersteig zwischen zwei Häuserzeilen entlang, die alle verbrannt waren und in denen es Tote gab. Ihr Viertel wurde am schwersten getroffen, ich glaube, 25 Menschen wurden getötet. Wenn man die Zerstörung sieht, wenn man in der Nähe der Hölle lebt, breitet sie sich am Ende aus und sickert in den Himmel.

Sie haben sehr früh nach dem 7. Oktober öffentlich ein Ende des Krieges gefordert. Was hat Sie zu dieser Position veranlasst, die auch heute noch in der Minderheit ist, selbst bei den Familien der Geiseln?

Wissen Sie, manchmal wünschte ich, ich hätte eine Geschichte der Verwandlung. Jemand, mit dem ich kürzlich in New York im Rahmen des Parent's Circle Families Forum (PCFF) zusammen war, hat seine Schwester verloren, als er 13 war. Sie wurde von Soldaten getötet. Sie war zehn Jahre alt. Es hat sieben Jahre gedauert, bis er von Rachegelüsten zum Pazifisten geworden ist. Bei mir war das nicht so. Es war einfach die Art, wie mein Verstand funktioniert. Für mich war klar, dass meine Mutter wegen des Krieges getötet wurde, also brauchen wir das Gegenteil. Ich will nicht, dass Menschen sterben. Ich wollte nicht, dass meine Mutter stirbt. Die natürliche Schlussfolgerung ist also, dass wir darauf hinarbeiten müssen, Kriege nicht zu beginnen, sondern zu beenden.

Für mich war klar, dass meine Mutter wegen des Krieges getötet wurde, also brauchen wir das Gegenteil. Ich will nicht, dass Menschen sterben. Ich wollte nicht, dass meine Mutter stirbt. Die natürliche Schlussfolgerung ist also, dass wir darauf hinarbeiten müssen, Kriege nicht zu beginnen, sondern zu beenden.

Was halten Sie von dem Phänomen der „Ernüchterung“ innerhalb des Friedenslagers - Israelis, die jetzt sagen, dass sie erkennen, dass Frieden unmöglich ist. Ist das etwas, das Sie in Ihrem Umfeld beobachten?

Natürlich bin ich überall, wo ich hingehe, eine Minderheit. Nicht innerhalb des Friedenslagers, aber in der allgemeinen Bevölkerung. Ich akzeptiere das, das ist ganz natürlich. Ich betrachte mich selbst und sage: So hat mein Verstand für andere funktioniert, so funktioniert ihr Verstand.

Daran können sogar Freundschaften zerbrechen.

Ich werfe den Leuten ihre Gedankengänge nicht vor. Ich denke, es ist eine Frage der Einstellung. Es ist ganz natürlich, dass sie denken, wir müssten energisch sein, sogar rachsüchtig. Wenn wir die Möglichkeit zum Frieden hätten, wenn die Führungspersonen uns diese Chance geben würden, und wenn Freund*innen von mir sagen würden: „Nein, ich bin nicht bereit zu akzeptieren, dass wir sie nicht ausrotten müssen“, dann wären wir wohl konfliktbereiter. Aber wissen Sie, das sind meine Freund*innen. Es ist meine Gemeinschaft, ich bin mit ihnen aufgewachsen. Sie wissen, was ich denke, ich weiß, was sie fühlen. Wir richten unsere Beziehungen nicht danach aus.

In Israel gibt es diese Tendenz, politische Diskussionen im Freundes- und Bekanntenkreis zu vermeiden die Politik auszuschließen. Einerseits ist Politik so eine Seifenoper, andererseits will man, zumindest meiner Erfahrung nach, nicht über Politik reden, weil es zu Meinungsverschiedenheiten oder sogar Streit führen könnte. Ist das vielleicht der Modus, in dem Sie arbeiten?

Ich entscheide mich nicht dafür, nicht darüber zu sprechen, ich scheue die Diskussion nicht. Ich habe das Gefühl, dass ich nach dem 7. Oktober und mit meinen Aktivitäten ruhiger geworden bin in meinen Interaktionen. Ich beteilige mich an Diskussionen auf eine andere Art und Weise, weil es für mich nicht mehr theoretisch ist. Es ist keine intellektuelle Übung. Ich bin eher in einer Mission unterwegs.

Ist dies auch ein Weg zur Erneuerung des israelischen Friedenslagers, um politische Mehrheiten zu gewinnen und die politische Stimmung in der israelischen Gesellschaft zu verändern?

Wenn ich mit Menschen spreche, ist es hilfreicher und effektiver, wenn ich ihre Gefühle sozusagen „radikal akzeptiere“ und versuche, gemeinsam mit ihnen herauszufinden, ob das zu einem guten Ergebnis führt, oder ob wir alternative Geschichten erzählen können, anstatt zu versuchen, meine eigene Geschichte jemandem aufzuzwingen.

Ich denke, dass jetzt Moral und interessenbasiertes Denken in Einklang gebracht werden können, denn vor dem 7. Oktober hätte man denken können, dass die Besatzung vielleicht unmoralisch ist, aber eine sicherheitspolitische Notwendigkeit darstellt. Jetzt denke ich, dass es für mich klar ist, aber ich denke, dass es auch für andere klar sein kann, dass wir keine Sicherheit haben können, während die anderen Menschen unterdrückt werden, und dass es keine Mauer gibt, die hoch genug ist, um uns zu schützen. Die einzige Möglichkeit für uns, sicher zu sein, ist ein Abkommen mit den Palästinenser*innen.

Dafür braucht man keine Moral. Man muss nicht in die Richtung „es ist falsch, ein anderes Volk zu unterdrücken“ gehen. Man kann sagen: „Moment, aber was wollt ihr denn? Ihr wollt Sicherheit? Wir können sie nicht mit Gewalt bekommen. Lasst uns nachdenken. Wie können wir Sicherheit erreichen?“ Ich glaube, in diesem Sinne ist meine Fähigkeit, mit anderen zu diskutieren, komplexer und effektiver geworden.

Wie beurteilen Sie die derzeitige Situation des Friedenslagers in Israel? Wie schwierig ist es, Ihre Botschaft zu vermitteln?

Ich denke, am Tag vor dem 7. Oktober waren die Menschen gleichgültig, und das ist gefährlicher, als leidenschaftlich zu sein. Wenn man leidenschaftlich für oder gegen die Besatzung ist, bietet das mehr Gelegenheit zur Diskussion als wenn man gleichgültig ist. 

Ich denke, am Tag vor dem 7. Oktober waren die Menschen gleichgültig, und das ist gefährlicher, als leidenschaftlich zu sein. Wenn man leidenschaftlich für oder gegen die Besatzung ist, bietet das mehr Gelegenheit zur Diskussion als wenn man gleichgültig ist. Ich denke, dass die Situation in Israel jetzt so ist, dass jeder interessiert und leidenschaftlich bei der Sache ist, und jeder hat etwas zu sagen und ist bereit, sich auf eine Diskussion einzulassen. Das ist eine Chance.

Die Peaceniks in Israel sind wieder aktiv geworden und haben ein stärkeres Gefühl für die Dringlichkeit und für die Community. Ich glaube nicht, dass die Zahlen gestiegen sind, wahrscheinlich sind sie gesunken, aber die Energie ist größer und die Möglichkeiten sind größer, weil es jetzt diese offenen Türen in der internationalen Gemeinschaft gibt. Alle wollen neue Ideen hören und einen Weg finden, um auf ein Ende des Konflikts hinzuarbeiten.

Kommt die Botschaft in der Mehrheitsgesellschaft an? Nein, ich glaube nicht. Und sie konkurriert auch mit den Geiseln, dem Krieg im Libanon und der Explosion im Westjordanland. Früher waren wir Peaceniks so etwas wie der Dorftrottel. Jetzt sind wir nicht mehr der Dorftrottel. Vielleicht sind wir eine Gefahr für die Gesellschaft, aber das ist eine bessere Position. In diesem Sinne ist der Diskurs vorhanden.

Ich glaube nicht, dass der Frieden eine Botschaft ist, die von der öffentlichen Meinung in Israel akzeptiert wird oder an der sie interessiert ist, aber ich sehe sie auch nicht als das Hauptzielpublikum an, denn ich weiß, dass es für diese Botschaft bereits eine gläserne Decke gab, was die politische Graswurzelarbeit und die Zivilgesellschaft betrifft. Wir brauchen die politische Sphäre, um neue politische Visionen zu schaffen. Das ist das Publikum. Ich möchte viel Lobbyarbeit leisten und mich in der internationalen Gemeinschaft einsetzen, denn die Besatzung ist ein blinder Fleck in Israel.

Die Jugend in Israel weiß nichts über die Besatzung, und die, die es wissen, sehen keine Verbindung zwischen der Besatzung und der Sicherheit. Sie denken, Sicherheit sei das Problem, und das ist ein blinder Fleck, denn Sicherheit ist ein Symptom - das Problem ist die Besatzung und der Konflikt. Wenn wir aber weiterhin die Sicherheit als das Problem betrachten, dann sind unsere einzigen Mittel zur Lösung des Problems das Militär. Wenn wir sie aber als Symptom und die Besatzung und den Konflikt als Problem sehen, dann kann militärische Gewalt dieses Problem nicht lösen. Wir müssen andere Mittel einsetzen. Damit wir diesen blinden Fleck überwinden können, brauchen wir die internationale Gemeinschaft.

Sie sind viel gereist und haben mit Regierungen in den Vereinigten Staaten, Europa usw. gesprochen. Was sind Ihre Eindrücke? Wie sehen Sie die Rolle Deutschlands?

Ich denke, die internationale Gemeinschaft nimmt eine doppelte, wenn nicht gar heuchlerische Position ein. Sie nimmt eine heuchlerische Position ein, indem sie sagt: „Das ist falsch“, aber ein sehr aktiver Komplize unserer Realität ist, während sie sich gleichzeitig wie ein passiver Zuschauer verhält. Die internationale Gemeinschaft ist nicht unbeteiligt. Sie ist für unseren Konflikt und die Besatzung verantwortlich, weil sie Mittel zur Verfügung gestellt hat, um sie zu unterstützen. Ohne die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft - oder besser gesagt, deren Förderung, wenn nicht gar Ermöglichung - hätte der Krieg nicht so lange fortgesetzt werden können, und jetzt ermöglicht sie ihn. Israel ist ein abhängiger Staat. Wir können das nicht so lange alleine machen.

Wenn ich mit Regierungsvertreter*innen spreche, sagen sie: „Es gibt keinen Konsens in der Gemeinschaft. Es muss von euch kommen. Es muss von innen kommen“, und das frustriert mich. In den Vereinigten Staaten traf ich einen US-Beamten, der sagte: „Wir hoffen dies, wir wünschen jenes, wir wollen dies“. Ich sagte: „Wovon reden Sie? Ihr seid eine Supermacht. Hört auf, uns Geld zu geben!“

In Deutschland traf ich mich mit einem hohen Beamten im Kanzleramt und sagte: „Sie können nicht erwarten, dass wir einen internen Transformationsprozess durchführen, wenn wir kein Signal bekommen, dass wir etwas falsch machen. Wenn wir ein Signal bekommen, wenn wir Anreize bekommen, das Richtige zu tun, und Sanktionen, wenn wir das Falsche tun, dann können wir prüfen, ob wir die Kapazität für einen internen Prozess haben.“

Der Zusammenhang bei deutschen Politiker*innen zwischen der deutschen Schuld und ihrer Unfähigkeit, komplexe Zusammenhänge und Nuancen zu erkennen, macht mich traurig. Ich habe immer wieder gehört: „Deutschland ist Israels Freund“, und ich habe ihnen gesagt: „Was für ein Freund ermöglicht es seinem Freund, ein Junkie zu sein, sich umzubringen, sich selbst zu zerstören? Das ist keine Freundschaft, das ist Co-Abhängigkeit. Wissen Sie, wenn Sie ein Freund Israels sein wollen, müssen Sie Israel helfen, das Richtige zu tun, damit wir gedeihen können, damit wir existieren können. Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden wir nicht mehr existieren. Das ist Freundschaft. Wir können das nicht weitere 60 Jahre durchhalten.“

In Deutschland gibt es ein Sprichwort: „Wer braucht schon Feinde, wenn er solche Freunde hat?“

Deutschland spielt meiner Meinung nach eine sehr wichtige Rolle, obwohl die größten Machtressourcen  bei den USA liegen. Man kann sich nicht ohne sie bewegen, sie bringen die meisten Ressourcen ein. Aber Deutschland hat eine ganz besondere Zugehörigkeit und einen besonderen Einfluss. Es hatte vertrauensvollere Beziehungen zur arabischen Welt als die USA, so dass es eine sehr wichtige Rolle spielen könnte, was es aber nicht tut.

Deutschland spielt meiner Meinung nach eine sehr wichtige Rolle, obwohl die größten Machtressourcen bei den USA liegen. Man kann sich nicht ohne sie bewegen, sie bringen die meisten Ressourcen ein. Aber Deutschland hat eine ganz besondere Zugehörigkeit und einen besonderen Einfluss

Während wir hier sprechen, eskaliert Israel seine Angriffe auf den Libanon, und es sieht wirklich so aus, als ob die Dinge weiter in die falsche Richtung laufen. Was gibt Ihnen in diesen dunklen Zeiten Hoffnung, ich würde sagen Optimismus?

Zunächst einmal betrachte ich mich nicht als Optimisten, sondern als Realisten. Weil die Möglichkeit, Frieden zu schaffen, mir so realistisch erscheint, bin ich hoffnungsvoll. Ein Teil davon ist, dass ich mich an der Arbeit beteilige. So wie die Leute über soziale Medien sagen: „Oh, ich habe keine sozialen Medien, ich lese Haaretz“ - wenn der einzige Filter, den man hat, Haaretz ist, dann denkt man auf eine bestimmte Art über Israel. Ich umgebe mich mit Frieden und arbeite darauf hin, und so scheint es mir sehr möglich zu sein.

In diesem Sinne, wie [der israelische Unternehmer und Friedensaktivist] Maoz Inon immer sagt, ist Hoffnung nichts, was man findet, sondern etwas, das man schafft. Sie ist eine Handlung. Indem ich in der Friedensarbeit aktiv bin, schaffe ich in mir und in meiner Umgebung Hoffnung auf Frieden.

Das ist ein zweischneidiges Schwert. Manchmal macht es mich noch frustrierter, weil es so einfach erscheint und nicht funktioniert. Aber solange ich die Einfachheit sehe, kann ich mir sagen: „Nein, das ist nur ein weiterer Anstoß, nur ein anderer Blickwinkel. Es ist nur eine weitere Tür, an die ich klopfen muss, und sie wird sich öffnen.“ Aber wenn ich nicht an diese Tür klopfe und mich nicht bemühe, mich einzubringen, dann wird es nicht passieren. Das hält mich wach und motiviert mich, mit der Arbeit fortzufahren.

Um noch einmal auf das Vermächtnis Ihrer Mutter zurückzukommen: Was glauben Sie, was ihre Botschaft an Israelis und Palästinenser*innen, aber auch an Sie selbst sein würde?

Ich kann sie sagen hören, dass Rache keine Strategie ist. Ich höre sie über Selbstzerstörung sprechen. Jedes Mal, wenn wir militärische Gewalt anwenden, ist das ein Akt der Selbstzerstörung.

Ich denke, ihre Botschaft ist in mir verkörpert. Ich glaube, Sie hätten nichts von mir gehört, wenn sie noch am Leben wäre, sie wäre da draußen gewesen. Sie wäre sehr aktiv gewesen und hätte versucht, etwas zu bewirken, indem sie gesagt hätte, dass wir nur durch Frieden in Sicherheit leben können. Ich kann sie sagen hören, dass Rache keine Strategie ist. Ich höre sie über Selbstzerstörung sprechen. Jedes Mal, wenn wir militärische Gewalt anwenden, ist das ein Akt der Selbstzerstörung.

Dieses Interview  wurde am 26.09.2024 geführt.

Interviewte

Yonatan Zeigen ist Sozialarbeiter in Tel Aviv. Er war in seinen frühen Zwanzigern ein Friedensaktivist, bevor er sich für einige Jahre aus dem Aktivismus zurückzog. Nachdem er seine Mutter, die bekannte Friedensaktivistin Vivian Silver, bei dem Anschlag vom 7. Oktober verloren hatte, beschloss er, sich fortan dem Frieden und der Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern zu widmen.  

Autor:in

Gil Shohat leitet seit März 2023 das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.