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Schusswaffen in Israel. Realität, Politik und feministische Kritik

Die wachsende Verfügbarkeit legaler und illegaler Waffen und die fehlende Durchsetzung von Recht und Ordnung in den palästinensischen Gemeinden in Israel führen zu einer enormen Zunahme von organisierter Kriminalität, Schießereien und innerfamiliärer Gewalt.

Es gibt eine große Anzahl von Schusswaffen in allen zivilen Bereichen in Israel und in den von ihm beherrschten Gebieten. Sie befinden sich in den Händen von verschiedenen Organisationen und vielen Privatleuten, meist jüdischen Männern. Kleinwaffen – dazu gehören private Schusswaffen, Schusswaffen der Polizei, des Militärs und anderen Organen –, die leicht von einer Person getragen und bedient werden können, sind weit verbreitet. Weil es fast keine juristischen Einschränkungen gibt, was das Tragen von Schusswaffen in der Öffentlichkeit betrifft, begegnen sie Zivilist*innen überall: in Freizeiteinrichtungen, Einkaufszentren, Universitäten, Kindergärten, Restaurants, Kliniken, Zügen.

Weltweit spielen Schusswaffen eine zentrale Rolle in der alltäglichen Unterdrückung von bestimmten Gruppen und Bevölkerungsteilen sowie in der Beherrschung von Territorien; mit ihrer Hilfe werden tagtäglich Knebelung, Einschüchterung, Vertreibung, Enteignung, Tötung, bis hin zu ethnischer Säuberung und Massenmord durchgesetzt. Inzwischen gibt es nach Berichten der Organisation „Small Arms Survey“ sogar mehr Todesopfer durch Waffengewalt, die nicht im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzungen verübt wird. Zwar führt die Verfügbarkeit von Schusswaffen für sich genommen nicht notwendigerweise zu bewaffneten Gewalttaten, doch sind Schusswaffen für bis zu 60 Prozent der gewaltsamen Todesfälle weltweit verantwortlich.

Militarisierung als ein gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, kultureller und politischer Prozess wird in Israel durch herrschende Institutionen der Mehrheitsgesellschaft vorangetrieben und ermöglicht sowohl die kontinuierliche Kontrolle der palästinensischen Bevölkerung in den seit 1967 besetzten Gebieten als auch die systematische Diskriminierung der Palästinenser*innen, die seit 1948 Staatsbürger*innen Israels sind. Dieser Prozess beinhaltet die Abwertung des „feindlichen Anderen“ ebenso wie die Herabsetzung von Frauen, einschließlich der Frauen der herrschenden – jüdischen – Mehrheitsgesellschaft. In Gesellschaften, die einen Militarisierungsprozess durchlaufen, gilt die Bewahrung der männlichen Vorherrschaft als erforderlich. Sie wird begründet mit der Rolle der Männer als Beschützer des Heims, samt den schutzbedürftigen und verwundbaren Frauen und Kindern. So finden sich auch in Israel Schusswaffen in fast jedem zivilen Bereich. Es gibt mindestens 80.000 autorisierte Schusswaffen und Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende von nicht zugelassenen oder „illegalen“ Schusswaffen, die eine zentrale Rolle bei Verbrechen spielen. Obwohl die große Verbreitung zugelassener Schusswaffen eine Hauptquelle für die stetige Zunahme der nicht zugelassenen ist, wird sie als notwendig und als unproblematisch angesehen.

In dieser Situation bemüht sich die Initiative „Die Pistole auf dem Küchentisch“[1] seit acht Jahren darum, den gesellschaftlichen Raum zu einem zivilen zu machen, die Präsenz von Schusswaffen auf ein Minimum zu reduzieren und den Besitz von Kleinwaffen einer strengen Kontrolle zu unterwerfen. Entgegen der vorherrschenden Wahrnehmung der jüdischen Öffentlichkeit in Israel, Schusswaffen seien „nur für unsere Verteidigung da“, entwickeln und fördern sie eine zivilgesellschaftliche Akzeptanz des immensen Schadens, der mit der weiten Verbreitung von Schusswaffen einhergeht. Der Kampf gegen die Normalisierung der Präsenz „zugelassener“ Schusswaffen im zivilen Raum erfordert Aktionen auf verschiedenen Ebenen: Dazu zählen das Sammeln, Aufzeichnen und Verbreiten von Informationen über Schusswaffenopfer, die Sensibilisierung für die Gefahren, die durch die weite Verbreitung von Schusswaffen verursacht wird, sowie parlamentarische Lobbyarbeit für Gesetzänderungen, die ihre Zahl reduzieren könnte.

Bedrohungen für Frauen – intersektionell betrachtet

Die weite Verbreitung von Kleinwaffen wirkt sich auf unterschiedliche Weise auf Männer, Jungen, Frauen und Mädchen aus. Frauen sind eine kleine Minderheit unter den Waffenbesitzer*innen weltweit. In Israel beispielsweise waren nur knapp 5 Prozent der Personen, die im Jahr 2012 eine Genehmigung zu privatem Schusswaffenbesitz hatten, Frauen. Weltweit machen Frauen aller Altersgruppen etwa 10 Prozent der Opfer aus, die durch Kleinwaffen ums Leben kommen.[2] Zudem gibt es noch ganz spezifische Auswirkungen von Schusswaffen auf Frauen, da die Hauptbedrohung für sie von Familienangehörigen und Ehepartnern ausgeht. Eine in der Familie befindliche Schusswaffe ist für Frauen äußerst bedrohlich, da sie die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau dadurch ermordet wird, um das Dreifache erhöht, nicht zuletzt weil „Schusswaffen die Gefahr eines tödlichen Ausgangs von Gewalttätigkeiten erhöhen“.[3] Auf jede ermordete Frau kommen viele andere Frauen, die in Angst leben. Innerhalb eines Jahrzehnts wurden 4,5 Millionen Frauen in den USA von ihren Ehepartnern mit Schusswaffen bedroht, und auf fast eine Million Frauen wurde geschossen, ohne sie zu töten. Sie haben ihre Verletzungen überlebt oder konnten sich noch rechtzeitig in Deckung bringen.

Nach einem Bericht von „Small Arms Survey“ wurden 69 Prozent der Frauen, die sich in einer gewalttätigen Beziehung befinden, schon einmal mit Schusswaffen bedroht, was 73 Prozent von ihnen daran hinderte, auf Gewalt zu reagieren; 68 Prozent waren deshalb nicht in der Lage, die Beziehung zu beenden.[4] Im Jahr 2015 lebten in Israel 100.000 Frauen in einer Situation häuslicher Gewalt. Aber viele der gerichtlichen Verfügungen zum Schutz vor Gewalt werden der Waffenbehörde gar nicht gemeldet – vor knapp zehn Jahren wurde fast die Hälfte aller gerichtlichen Verfügungen nicht gemeldet.[5] Das heißt, dass Hunderte, wenn nicht Tausende von Männern, gegen die Gerichte Annäherungs- und Aufenthaltsverbote angeordnet hatten, anscheinend weiterhin Schusswaffen besitzen konnten.

Das Risiko für Frauen, die zu Minderheiten oder jüdischen Neueinwanderergruppen gehören, ist größer, nicht weil diese sozialen Gruppen gewalttätiger wären, sondern weil diese Frauen keinen Zugang zu Aufklärungsinformationen oder den entsprechenden sozialen Diensten haben.[6] Zwischen 2002 und 2010 waren 33 Prozent der in der Familie ermordeten Frauen palästinensische Staatsbürgerinnen Israels, das entspricht dem 1,6-fachen ihres Anteils an der Gesamtbevölkerung, und 2017 waren es sogar 40 Prozent.[7] Auch Frauen, die zu Neueinwanderergruppen gehören, sind einem größerem Risiko ausgesetzt: 25 Prozent der Frauen, die im Rahmen häuslicher Gewalt ermordet wurden, waren Einwanderinnen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, was dem 2,5-fachen des Anteils dieser Einwanderergruppe an der Gesamtbevölkerung (ca. 10 %) entspricht; und 11 Prozent der ermordeten Frauen waren äthiopischer Herkunft, das 7-fache des Anteils der äthiopischen Einwander*innen an der Gesamtbevölkerung (ca. 1,5 %). Obwohl das Establishment es für notwendig erklärt hat, kulturelle und sprachliche Barrieren abzubauen, damit der Zugang zu staatlichen Sozialdiensten erleichtert wird, wird in der Praxis in den meisten Beratungsstellen, auf Hotlines, in Frauenhäusern, in Polizeistationen und natürlich auch vor Gericht nur Hebräisch, die Sprache der Mehrheit, gesprochen und die Dienste dieser Einrichtungen sind auf die Mehrheitskultur zugeschnitten.[8]

Ein zentraler Risikofaktor: die selektive Strafverfolgung

Im Diskurs der israelischen Mehrheitsgesellschaft besteht die Tendenz, die Unterdrückung von Frauen, die einer Minderheit angehören, insbesondere in der palästinensischen Gesellschaft, auf ihre angebliche Rückständigkeit oder auf religiösen Extremismus zurückzuführen. Dieser Diskurs wird von staatlichen Stellen – mitunter gezielt – gefördert, obwohl sie gerade diejenigen sind, die konservative und repressive Elemente in der palästinensischen Gesellschaft unterstützen und stärken, etwa die Struktur der patriarchalischen Großfamilie. Sie ist zu einem Eckpfeiler der israelischen Politik gegenüber der palästinensischen Bevölkerung in Israel geworden, indem beispielsweise unter Umgehung der üblichen sozialen Institutionen Scheichs und Honoratioren ermutigt werden, die Rolle von Vermittlern und Mediatoren zu spielen, was ihre Autorität stärkt. Im Gegensatz dazu werden palästinensische Frauen von der Exekutive allein gelassen. So stellte sich etwa heraus, dass 80 Prozent der in Israel ermordeten palästinensischen Frauen vorher Anzeige wegen Gewalt oder Drohungen bei der Polizei erstattet hatten, die ihr Leben trotzdem nicht schützte.[9]

Die Bedrohung durch Schusswaffen wächst noch weiter durch eine Politik, die es unterlässt, bestehendes Recht innerhalb der palästinensische Gemeinden durchzusetzen. Das gilt für die Praxis der Polizei vor Ort ebenso wie für die Gerichte. Ein im April 2018 vom nationalen Ombudsmann veröffentlichter Bericht zeigt, dass Gewaltverbrechen in der arabischen Gesellschaft in Israel enorme Ausmaße angenommen haben und das Leben in einigen dieser Kommunen unerträglich geworden ist, weil dort in beträchtlichem Maße die organisierte Kriminalität herrscht.

Weil bestehende Gesetze jahrzehntelang nicht durchgesetzt wurden, gibt es in palästinensischen Ortschaften in Israel eine Flut von Schusswaffen. Schätzungen zufolge befinden sich derzeit rund 80 Prozent der illegalen Schusswaffen in den Händen von Angehörigen der arabischen Gesellschaft, obwohl diese nur 20 Prozent der israelischen Bevölkerung stellen. Ähnliche Trends einer Politik der selektiven Nichtdurchsetzung oder Durchsetzung von Gesetzen, die politisch motiviert ist, finden sich auch in Bezug auf andere Minderheiten, wenn auch in geringerem Ausmaß. Dass Familienangehörige mit Schusswaffen von Sicherheitsfirmen, die Wachleute mit nach Hause bringen, getötet werden, ist nur deshalb möglich, weil das Waffengesetz nicht durchgesetzt wird, das Wachleuten verbietet, außerhalb ihrer Arbeitszeit und ihres Arbeitsplatzes Schusswaffen mit sich zu führen. Zwischen 2002 und 2013 wurden deshalb durchschnittlich drei Frauen pro Jahr ermordet, wobei Einwanderinnen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion und Äthiopien deutlich überrepräsentiert waren.

Mangel an demokratischer Transparenz

Zu der gegenwärtigen Politik des Umgangs mit Schusswaffen gehört neben der selektiven Durchsetzung von Waffengesetzen auch, dass Informationen und Daten über die Verbreitung von Schusswaffen und über bewaffnete Kriminalität nicht gesammelt und offengelegt werden. In dem von „Small Arms Survey“ für 2013 erstellten Transparenz-Index rangiert Israel auf einem unrühmlichen 32. Platz (von 52).

Umfassende, systematische und frei zugängliche Informationen sind für ein sachgemäßes und demokratisches politisches Agieren unerlässlich. Die fehlende Transparenz in Bezug auf Schusswaffen in Israel macht es unmöglich, die Durchsetzung von Waffengesetzen oder die praktische Umsetzung von Entscheidungen wirklich nachzuverfolgen. Verschiedene Behörden nutzen „aus Sicherheitsgründen“ Strategien der Verschleierung von Informationen, um eine kritische öffentliche Debatte über die übermäßige Präsenz von Militärwaffen im zivilen Raum zu verhindern. Über Jahre hinweg wurde unterschlagen, dass die Selbstmordrate bei Soldat*innen mit der Verfügbarkeit von Schusswaffen korreliert. Das ging sogar noch weiter, nachdem die Vorschriften in der Armee selbst aufgrund dieser Zahlen geändert worden waren.

Obwohl sie keine militärische Institution ist, erhebt und veröffentlicht die Polizei keine Informationen über die Rolle von Schusswaffen bei Straftaten, Körperverletzungen und Tötungsdelikten. Ohne diese Informationen ist kein klares Bild der Verbreitung von Schusswaffen im zivilen Raum zu gewinnen und die Vielzahl der vorhandenen Schusswaffen erscheint weiterhin harmlos.

Männer und Schusswaffen

Weltweit sind es weit überwiegend Männer, die Kleinwaffen verwenden oder missbrauchen. Um das Verlangen nach Schusswaffen zu verstehen, muss man die Prozesse begreifen, die die Konzeptionen der Männlichkeit erzeugen und reproduzieren.[10] Auch in Israel, und insbesondere unter Soldaten, werden Waffen mit Männlichkeit identifiziert. Nach israelischem Recht gilt ein „vernünftiger Mensch“ als ein „gemäßigter, reflektierter, intelligenter und rationaler Mensch. Natürlich ist er auch derjenige, der am Ende seines Arbeitstags seine Waffe mit nach Hause nimmt.“[11] Dass Männer gewohnt sind, eine Schusswaffe stets bei sich zu haben, wird sowohl vor Gericht als auch in der Mehrheitsgesellschaft in Israel als selbstverständlich angesehen.

Männer und insbesondere junge Männer bilden nicht nur die Mehrheit derjenigen, die schießen, sondern stellen auch die meisten Opfer, die durch Kleinwaffen verwundet oder getötet werden. Weltweit werden jedes Jahr zwischen 70.000 und 100.000 Männer im Alter von 15 bis 29 Jahren getötet, die Opfer in Kriegsgebieten nicht mitgerechnet. Das sind viermal so viele Männer wie in anderen Altersgruppen.[12] Nach Angaben des Gesundheitsministeriums waren in Israel zwischen 2010 und 2015 mehr als 60 Prozent der in Krankenhäuser eingelieferten Menschen, die durch Gewalttaten verletzt worden waren, junge Männer und Jugendliche im Alter von 15 bis 35 Jahren. Dies bezieht sich auf alle Arten von Gewalt, nicht nur auf mit Schusswaffen verübte. Aber die Daten für 2015 zeigen einen starken Anstieg des Anteils derjenigen, die durch Schusswaffen schwer oder lebensgefährlich verletzt wurden.

Bei Männern, die zu einer Minderheit gehören, ist das Risiko noch höher. Der Anteil der palästinensischen Staatsbürger Israels etwa, die Opfer von Schusswaffengebrauch werden, ist deutlich höher als ihr Anteil in der Gesamtbevölkerung, wobei die Mehrheit der Opfer junge Männer sind.[13]

Die Privatisierung der öffentlichen Sicherheit

In den letzten drei Jahren, unter der rechtesten Regierung in der Geschichte Israels, hat das Ministerium für Innere Sicherheit, das für die Ausgestaltung der Waffenpolitik verantwortlich ist, eine aggressive Politik der Verbreitung von Kleinwaffen verfolgt. Nach dem Anschwellen des palästinensischen Widerstands Ende 2015, im Zuge dessen es zu gewalttätigen Angriffen auf israelische Zivilist*innen kam, behauptete Minister Gilad Erdan wiederholt, es sei notwendig, die Zahl der Zivilist*innen, die mit Schusswaffen umgehen können, zu vervielfachen, denn das sei „ein Multiplikator im Kampf gegen den Terrorismus“. In diesem Sinne wurden mehrere Schritte unternommen, um Waffenbesitz zu erleichtern. Im Jahr 2016 wurden innerhalb von nur sechs Monaten 105.000 neue Waffenscheine ausgestellt. Im selben Jahr wurde auch die gesetzliche Regelung, die Angehörigen von Sicherheitsdiensten das Tragen von Schusswaffen außerhalb des Arbeitsbereichs verboten hat, „geändert“, genauer gesagt: aufgehoben. In der Folge sind mit solchen Waffen unseres Wissens nach mindestens zwei weitere Menschen getötet worden, möglicherweise auch drei, was noch nicht geklärt ist.

In der durch Messerangriffe einzelner Palästinenser*innen aufgeheizten Stimmung wurde es schließlich implizit (wenn auch nicht explizit) erlaubt, erkannte oder mutmaßliche Angreifer*innen zu erschießen. Mit anderen Worten: In diesen Jahren wurden extralegale Hinrichtungen legitim. Nach Medienberichten kamen von Oktober bis Dezember 2015 bei 166 Vorfällen, bei denen Schusswaffen als Gegenwehr zum Einsatz kamen, 118 (mutmaßliche) Angreifer*innen ums Leben (was einer Häufigkeitsrate von 1,4 entspricht, das heißt fast bei jedem Vorfall). Im Vergleich dazu wurden neun Tote bei 31 Vorfällen mit Schusswaffengebrauch in den letzten Monaten des Jahres 2013 gemeldet (was einer Häufigkeitsrate von 3,4 entspricht). In sehr wenigen Fällen wurden die Schützen überhaupt angeklagt; kam es zu Verurteilungen, fielen diese sehr gering aus. Diese Entwicklung war eine Art anhaltende „Generalprobe“ für den massiven Einsatz von Schusswaffen gegen Palästinenser*innen, die ab März 2018 an der Grenze des Gazastreifens für ein Recht auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge aus dem Krieg von 1948 ins heutige Israel demonstrierten. Sie half, die israelische Öffentlichkeit und auch die Weltöffentlichkeit darauf vorzubereiten bzw. daran zu gewöhnen, dass Scharfschützen von der israelischen Seite aus auf palästinensische Demonstrant*innen schießen, wodurch über 200 Menschen getötet und viele tausend verletzt wurden.

An der Grenze zum Gazastreifen gingen die Todesschüsse und die Körperverletzungen auf das Konto der Armee. Im Unterschied dazu hat das Ministerium für Innere Sicherheit in Gebieten, in denen mehrheitlich jüdische israelische Staatsbürger*innen leben, in den letzten Jahren eine Politik verfolgt, die die Regierung von ihrer grundlegenden Verantwortung für die Sicherheit ihrer Bürger*innen befreit: Den Einzelnen (und gemeint ist hier in erster Linie ein jüdischer Mann, der Wehrdienst geleistet hat) zu ermutigen, sich zu bewaffnen und sich selbst und sein Zuhause zu verteidigen, kommt einem Eingeständnis der Regierung gleich, dass sie keine Lösungen hat und „innere Sicherheit“ nicht gewährleisten kann. Sie entledigt sich der Verantwortung für die öffentliche Sicherheit und privatisiert diese, indem sie sie männlichen jüdischen Israelis überträgt.

Waffen, Recht und Gesetz in Israel

Die israelischen Gesetze, die den Besitz und Gebrauch von Waffen regeln, haben seit ihrer Verabschiedung eine Reihe bedeutender Änderungen erfahren. Die Schusswaffenpolitik variierte je nach politischer Situation und Regierung. In Israel sind die relevanten Regelungen in verschiedenen Gesetzen festgehalten, was es schwierig macht, die Verbreitung von und den Umgang mit Schusswaffen effektiv zu regulieren und zu überwachen. Dieses Problem ist dem Parlament durchaus bewusst. In den letzten zehn Jahren wurden mehrere Gesetzesvorschläge erarbeitet, um alle Bestimmungen in Bezug auf Waffen in Israel, einschließlich der Waffen der Sicherheitskräfte, in einem Gesetz zusammenzufassen. Bislang ist keiner von ihnen verabschiedet worden.

Ende 2017 wurde ein neues Rechtsgutachten zur Diskussion gestellt, das sich auf alle Kleinwaffen bezieht – auf private Schusswaffen, Waffen von Sicherheitsfirmen und von Sicherheitskräften, Waffen, die in der Landwirtschaft und im Sport eingesetzt werden. Als Reaktion auf das Gutachten präsentierte die Initiative „Die Pistole auf dem Küchentisch“ eine detaillierte Stellungnahme. Darin wies sie sowohl auf die im Gutachten als auch in den bestehenden Gesetzen vorhandenen Probleme und Lücken hin. Dazu gehört unter anderem Kritik an einer sehr freizügigen Politik, die das Waffenarsenal anwachsen lässt und an dem Ausschluss potenzieller Opfer aus dem Genehmigungs- und Gesetzgebungsverfahren.

In der Stellungnahme wurde weiterhin hervorgehoben, dass das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit im zivilen Bereich nicht gewährleistet werden kann, solange die Durchsetzungs- und Kontrollmechanismen für Schusswaffen unzulänglich sind. Selbst nach Angaben hochrangiger Beamter im Ministerium für Innere Sicherheit ist die Zahl der Inspektor*innen viel zu gering im Verhältnis zur Menge der Schusswaffen, die sie zu kontrollieren haben – ein Problem, das in der Gesetzesvorlage außer Acht gelassen wird. Im Jahr 2014 waren die Inspektor*innen für jeweils rund 50.000 private Waffenscheine zuständig. Praktisch gab es insgesamt nur sechs Inspektor*innen, denen die Kontrolle sämtlicher Schusswaffen oblag.

In Israel gibt es keine Verordnungen oder Gesetze, um den tatsächlichen Gebrauch und die Aufbewahrung von Schusswaffen im privaten Bereich zu kontrollieren. Der Staat hat keine Mechanismen entwickelt, um die physische und psychische Verfassung der Privatpersonen mit Waffenschein regelmäßig zu überprüfen. Das gilt ebenso für ihre Fähigkeiten im Umgang mit Waffen und für deren Aufbewahrungsmöglichkeiten. Schlimmer noch, es gibt Anweisungen der Staatsanwaltschaft, mit Inhaber*innen von Waffenscheinen, die eine in ihrem Besitz befindliche Waffe fahrlässig verloren haben, nachsichtig zu sein und sie milder zu bestrafen, obwohl es sich bei dieser Fahrlässigkeit um eine Straftat handelt. So kann unter bestimmten Umständen ein alternatives Verfahren (die Verhängung eines Bußgelds, die Hinterlegung der Waffe oder gemeinnützige Arbeit) ohne strafrechtliche Verurteilung als ausreichend erachtet werden.

In den Gesetzesvorlagen, wie auch im bestehenden Recht, kommen die Opfer nicht vor. In Israel gibt es für die vorhandene Menge an Waffen keine angemessene Gesetzgebung, die zudem nicht konsequent durchgesetzt wird. So ist die Öffentlichkeit, die alltäglich mit diesen Waffen in Berührung kommt, nicht geschützt. Schutz der Öffentlichkeit bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur die Verhinderung von Tötungsdelikten, sondern auch die Gewährleistung eines Rechts auf Leben ohne Bedrohung oder Angst vor körperlichen und seelischen Verletzungen.

Das Gesetz und illegale Waffen

Nach verschiedenen Schätzungen sind bis zu 400.000 illegale Schusswaffen im Besitz von Zivilist*innen. Ein Teil dieser Waffen dient der organisierten Kriminalität, und diejenigen, die durch ihren Einsatz zu Schaden kommen, sind meist junge palästinensische Staatsbürger Israels. In Ermangelung offizieller Statistiken wird die Anzahl der durch illegale Waffen jedes Jahr getöteten Menschen auf mindestens 80 Personen geschätzt, darunter Frauen, Jugendliche, Kinder und unbeteiligte Passant*innen. Die illegalen Waffen stammen aus dem Arsenal der legalen Waffen, die angeblich unter Aufsicht der verantwortlichen staatlichen Behörden, insbesondere der Armee, stehen, wie aus den Bemerkungen des Ministers für Innere Sicherheit hervorgeht, der erklärte, dass 90 Prozent der illegalen Waffen im Norden Israels aus Armeebeständen stammen.

Die meisten Fälle von tödlichem Schusswaffengebrauch in der palästinensischen Gesellschaft in Israel werden nicht von der Polizei geklärt und die Mörder werden nicht vor Gericht gestellt. In den wenigen Fällen, in denen Verdächtige angeklagt werden, kommt es oft vor, dass das Gericht auf Fehler in den polizeilichen Ermittlungen und mangelndes Fachwissen bei der Erhebung von Beweismitteln stößt, sodass das vorgelegte Material den für eine Verurteilung erforderlichen rechtlichen Standards nicht entspricht. Mit anderen Worten, auch wenn der Mörder vor Gericht gestellt wird, wird er nicht notwendigerweise bestraft und manchmal sogar wegen fehlerhafter Ermittlungen freigesprochen. Das ist ein Teufelskreis: Der Mörder kehrt als Sieger in die Gesellschaft zurück – eine einschüchternde Botschaft an all die Menschen in seiner Umgebung, die illegale Waffen ablehnen. Mit der Zeit verinnerlichen sie die Erfahrung, dass sie kein Gehör finden und machtlos sind, als Überlebensstrategie – aus Angst, dass sie von außer Kontrolle geratenen kriminellen Organisationen angegriffen werden und zu Schaden kommen könnten, falls sie sich widersetzen.

Infolgedessen steigt die Zahl der Morde mit illegalen Waffen in israelischen Städten, in denen Palästinenser*innen leben, wie zum Beispiel in Lod, Jaffa und Umm al-Fahm. Wie ernst die Lage ist, zeigt sich daran, dass die Morde zumeist am helllichten Tag in aller Öffentlichkeit begangen werden, vor den Augen von Hunderten von Menschen, die Zeugen des Mordes werden, und der Mörder ist in der Umgebung bekannt und trägt in der Regel keine Maske. Dennoch wird nicht ein Einziger der Anwesenden das Risiko eingehen und gegen den Mörder vor Gericht als Zeuge aussagen, da dies sein Leben, sein Geschäft und seine Familie in Gefahr bringen würde. Und es würde ihn der Verfolgung durch die kriminelle Organisation aussetzen, die den Mord unterstützt, da die Polizei – wieder einmal – in ihrem Zeugenschutz nachlässig wäre.

Diese langjährige fehlende Durchsetzung von bestehenden Gesetzen in der palästinensischen Gesellschaft in Israel hat kriminelle Organisationen, die für die meisten Schießereien und Morde mit illegalen Waffen verantwortlich sind, gestärkt und sie sogar zu neuer Blüte gebracht. Im Laufe der Zeit ist das Phänomen immer schlimmer geworden und greift weiter um sich.

In Bezug auf illegale Waffen besteht die große Herausforderung für die Zivilgesellschaft darin, die Strafverfolgungsbehörden – nicht zuletzt die Polizei – dazu zu bringen, kriminelle Organisationen zu entwaffnen, deren Schusswaffen zivile Räume beherrschen und vor allem palästinensischen Staatsbürger*innen Israels schaden. Ein solch geändertes Vorgehen wird nicht möglich sein, ohne die Anzahl der legalen Waffen im öffentlichen Raum zu reduzieren und die Kontrolle dieser Waffen zu verstärken – was zugleich auch die Situation von Frauen und anderen benachteiligten Bevölkerungsgruppen verbessern würde. Zu unserem Bedauern geht die Politik der Regierung in den letzten Jahren in die entgegengesetzte Richtung.

Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin

Meisa Irshaid ist eine auf Zivil- und Verwaltungsrecht spezialisierte Rechtsanwältin und politisch aktiv im Genderbereich. Seit 2016 berät sie die Initiative „Die Pistole auf dem Küchentisch“. Dabei vertritt sie Opfer von Schusswaffengewalt und ihren Angehörigen und leitet die Bemühungen um öffentliche Aufklärung zum Thema.

Rela Mazali ist Publizistin, unabhängige Wissenschaftlerin und feministische Friedensaktivistin. Sie war eine der 1.000 Frauen, die von der „FriedensFrauen weltweit“ für den Friedensnobelpreis 2005 nominiert wurde. Sie war Jurymitglied im „World Tribunal on Iraq“ (2005). Mazalis “Maps of Women’s Goings & Stayings” (2001) wurde als eines der besten “Narrative in Zeit und Raum über Frauen, von Frauen, für Frauen” rezensiert. Mazali ist Mitbegründerin der Initiative „Die Pistole auf dem Küchentisch“, die auf ihren Studien zur Verbreitung von Schusswaffen bei privaten Sicherheitsfirmen basieren.

Weiterführende Links

Anmerkungen

[1] Diese Initiative wird durch das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt.

[2] Bevan, J./Florquin, N.: Few Options but the Gun: Angry Young Men, Kap. 12, in: Small Arms Survey 2006, unter: www.smallarmssurvey.org/fileadmin/docs/A-Yearbook/2006/en/Small-Arms-Survey-2006-Chapter-12-EN.pdf; Cukier, W./Cairns, J.: Gender, attitudes and the regulation of small arms: Implications for action, in: Farr, V./Myrttinen, H./Schnabel, A. (Hrsg.): Sexed pistols: The gendered impacts of small arms and light weapons, Tokio 2009, S. 21.

[3] Cukier/Cairns: Gender, S. 22.

[4] Too Close to Home. Guns and Intimate Partner Violence, in: Small Arms Survey 2013, S. 39, unter: www.smallarmssurvey.org/fileadmin/docs/A-Yearbook/2013/en/Small-Arms-Survey-2013-Chapter-2-EN.pdf.

[5] Sachs, D./Saar, P./Aharoni, Q.: Mute testimony: Women in the Israeli-Palestinian conflict, Isha l’Isha Feminist Center, 2005, S. 20, unter: http://isha.org.il/wp-content/uploads/2014/08/edut-ilemet.pdf.

[6] Mazali, R.: The Gun on the Kitchen Table: The Sexist Sub-Text of Private Policing in Israel, in: Farr u.a. (Hrsg.): Sexed pistols, S. 273.

[7] Report by Knesset Member Hanin Zoabi: Crime in Arab Society: Shortcomings in Police Treatment, submitted to the State Comptroller, 8.1.2017, S. 17.

[8] Mazali: The Gun on the Kitchen Table, S. 272–273.

[9] Zoabi: Crime in Arab society, S. 7.

[10] Cukier/Cairns: Gender, S. 29.

[11] Kamir, A.: Reasonableness Killed the Woman, in: PLILIM 6/1997, S. 137 (in Hebrew).

[12] Bevan/Florquin: Few Options but the Gun.

[13] Zoabi: Crime in Arab society, S. 7.

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Autor:innen

Rela Mazali ist eine israelische Friedensaktivistin und Autorin. Seit 1980 ist sie als Antimilitaristin gegen die Militarisierung Israels und die militärische Besetzung Palästinas aktiv. 1998 war sie eine der Mitbegründerinnen der feministischen Bewegung New Profile, die sich gegen die Militarisierung Israels einsetzt und Kriegsdienstverweigerer unterstützt. Im Jahr 2010 gründete sie Gun Free Kitchen Tables (GFKT), ein Abrüstungs- und Waffenkontrollprojekt. Sie arbeitete auch für Physicians for Human Rights-Israel und hatte eine beratende Funktion für das Internationale Rote Kreuz und die Ford Foundation inne.