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Protest gegen organisierte Kriminalität und interne Gewalt in den palästinesischen Communities sowie gegen Polizeigewalt in Tamra, Februar 2021. Auf dem Banner: "Ich oder Du". Foto: ActiveStills

Warum die israelische Polizei keine Lösung für die Gewalt in den palästinensischen Communities ist

Eine Reihe schockierender Mordfälle in verschiedenen Städten in den vergangenen Wochen, mit der die Zahl der Todesopfer von solchen Gewalttaten in diesem Jahr auf über 100 angestiegen ist, hat die in palästinensischen Communities Israels grassierende Waffengewalt erneut in den öffentlichen Fokus gerückt. Bedauerlicherweise scheint es in der Debatte, was dagegen zu tun ist, keinerlei Fortschritte zu geben. Fast jede Woche, so scheint es, werden Fotos von neu Getöteten über die sozialen Medien verbreitet. Arabische Politiker*innen organisierten eine folgenlose Protestaktion vor dem Büro des Premierministers. Regierungsvertreter*innen riefen wie üblich dazu auf, den Inlandsgeheimdienst Schin Bet gegen kriminelle lokale Banden einzusetzen. Es ist ein einstudiertes Ritual, dem wir schon jahrelang beiwohnen, während immer mehr Schusswaffen in Umlauf kommen und die Zahl der Todesopfer steigt.

Überall in den arabischen Communities in ganz Israel ist es organisierten Kriminellen in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten gelungen, eine Art Schattenwelt mit einem lukrativen Schwarzmarkt zu errichten, in der Schusswaffen und das chauvinistische Ethos «Macht vor Recht» allgegenwärtig sind. Fehden zwischen arabischen Gangmitgliedern – oder auch anderen im Besitz von Waffen sind – sind inzwischen in tödliche Auseinandersetzungen ausgeartet, in denen jede*r zur Zielscheibe werden kann – angefangen bei den Ehepartner*innen bis hin zu entfernten Verwandten. Mehr als jedes andere Thema ist die persönliche Sicherheit zu einem Hauptanliegen der israelischen Palästinenser*innen geworden. Etliche trauen sich kaum mehr auf die Straße, ihre Familienangehörigen zu besuchen oder ihre Kinder zur Schule zu schicken, weil sie um deren und ihre eigene körperliche Unversehrtheit bangen.

Allerdings ist die Art und Weise, wie selbst in den palästinensischen Communities auf diese Gewalt reagiert wird, hochgradig problematisch. Nach der vorherrschenden Meinung – sowohl im Parlament als auch in der Bevölkerung – besteht die Lösung des Problems im verstärkten Einsatz der israelischen Polizei und anderer Sicherheitskräfte. Viele verweisen auf die erfolgreiche Bekämpfung jüdischer Verbrechersyndikate sowie auf die umfangreichen Mittel, die dem Staat zur «Terrorismusbekämpfung» zur Verfügung stehen, und beklagen, dass die Strafverfolgungsbehörden in den arabischen Ortschaften nicht ausreichend präsent seien. Nur sie seien dazu der Lage, dort wieder für Sicherheit und Ordnung zu sorgen.

Dabei sind die Sicherheitskräfte in den arabischen Communities bereits allgegenwärtig, jedoch nicht mit dem Auftrag, die palästinensische Bevölkerung zu schützen. So ist die israelische Polizei unter anderem dafür da, das öffentliche jüdische Leben sicherzustellen und Störungen von palästinensischer Seite zu verhindern; die Grenzpolizei hat ihren Schwerpunkt auf der Verfolgung von Palästinenser*innen ohne Aufenthaltsgenehmigung in den besetzten Gebieten; und der Schin Bet hat den Auftrag, jegliche Form politischer Aktivität in den palästinensischen Communities zu überwachen und zu unterbinden, egal ob es sich dabei um militante Zellen oder Proteste in einer Schule handelt. Trotz anderslautender Äußerungen vonseiten israelischer Behörden in der vergangenen Woche: Der israelische Staat hat mehr als genug Ressourcen, um die in der palästinensischen Gesellschaft grassierende Gewalt und Kriminalität zu bekämpfen, aber er will es schlicht und einfach nicht.

Mit dem Fokus auf polizeiliche Maßnahmen ist der Öffentlichkeit eine verengte Debatte aufgedrängt worden, die die tatsächlichen Ursachen der derzeitigen Krise ignoriert. Seit der Nakba eignet sich der Staat Israel ununterbrochen palästinensische Gebiete an und unterwirft arabische Ortschaften und deren Bewohner*innen einem Zwangssystem aus diskriminierenden Gesetzen und Raumordnungspolitiken. Dieser Würgeangriff eskaliert die Konflikte in und zwischen den dort lebenden Familien, die ständig um Bauland für ihre Häuser und um ihren Lebensunterhalt kämpfen müssen. Es fehlt an Boden, um Landwirtschaft zu betreiben oder Industriebetriebe anzusiedeln – Land, das der israelische Staat der jüdischen Bevölkerung vorbehält –, was das lokale Wirtschaftswachstum beeinträchtigt. An die Stelle ehemals starker sozialer Beziehungen ist der individuelle Überlebenskampf getreten, ein Prozess, der sich insbesondere durch die gewalttätige Unterdrückung des palästinensischen Nationalbewusstseins durch den israelischen Staat nach der zweiten Intifada beschleunigt hat.

Es ist diese Schwäche der arabischen Communities – mit verursacht von einem Regime, das darauf ausgerichtet ist, den einen das Land zu stehlen, um es den anderen zu geben –, die kriminelle Gruppen begünstigt und es ihnen ermöglicht hat, eine auf Machtmissbrauch und Raub beruhende Wirtschaft und Subkultur aufzubauen. In einer groß angelegten Studie der Baladna Association und der Coventry University, sind Wissenschaftler*innen der Frage nachgegangen, was Palästinenser*innen, insbesondere junge Männer, dazu verleitet, zu den Waffen zu greifen und sich der Kriminalität zu verschreiben. Es sind der damit verbundene soziale Status, finanzielle Anreize und die Aussucht auf leiblichen Schutz in einem Umfeld, das keines dieser Bedürfnisse erfüllen kann. Diese Entwicklungen haben sich unter den Augen der israelischen Behörden vollzogen und nach Auskunft von führenden Sicherheitskräften oft mit deren Beihilfe.

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Palästinenser:innen in Um Al Fahm protestieren im Februar 2021 gegen die Nachlässigkeit der israelischen Polizei bei der Bekämpfung von organisierter Kriminalität und interner Gewalt in den palästinensischen Communities. Foto: ActiveStills

In Reaktion auf diese Desintegrationstendenzen entstanden in vielen arabischen Ortschaften lokale Initiativen, häufig initiiert und angeführt von jugendlichen Aktivist*innen, deren Ziel es ist, Gleichaltrige von der Kriminalität abzubringen und ihre Communities dazu zu bewegen, sich gegen die Macht des organisierten Verbrechens aufzulehnen. Aber was können die Worte eines jungen Mannes ausrichten, wenn ihn sein Gegenüber mit einer Waffe bedroht? Wie können Frauen und queere Aktivist*innen misogyne und patriarchalische Klananführer dazu bringen, auf Gewalt zu verzichten und ihre Gewehre abzugeben? Was könnte einem Bandenmitglied aus ärmlichen Verhältnissen einen Anreiz bieten, auf die Gewinne aus kriminellen Geschäften zu verzichten? Und auf welche Zukunft können Palästinenser*innen überhaupt setzen, wenn der Staat, der über sie herrscht, ihre Hoffnungen und Aspirationen immer wieder zunichtemacht?

Aus diesen Gründen lässt sich die Frage der Gewalt und Kriminalität in den palästinensischen Communities grundsätzlich nicht getrennt von der Realität des Kolonialismus behandeln – auch wenn manche dies gern so hätten. So luden die Organisator*innen einer gegen die Regierung gerichteten Demonstration in der letzten Woche in Tel Aviv die Anwältin und Professorin Rawia Aburabia ein. Sie sollte dort über die eskalierende Gewalt in den arabischen Communities sprechen, ohne jedoch die israelische Besatzungspolitik zu erwähnen. Rawia Aburabia lehnte die Einladung ab und begründete dies folgendermaßen: «Wenn das das Verständnis von Redefreiheit ist, dann weiß ich nicht mehr, was ich dort überhaupt soll und worüber ich sprechen soll. Offensichtlich handelt es sich um eine Protestveranstaltung, die sich lediglich für eine demokratische Gesellschaft für jüdische Menschen einsetzt und die Machtstrukturen des Ethnonationalismus und polizeiliche Kontrollstrategien reproduziert.» Sie fügte hinzu, die Veranstalter*innen stünden «der Unterdrückung der Palästinenser*innen nicht nur gleichgültig gegenüber», sondern hätten sich bewusst dafür entschieden, «sich auf die Seite der Unterdücker und derjenigen zu schlagen, die palästinensische Stimmen zum Schweigen bringen wollen». Alle, die die Meinung vertreten, dass sich die Morde an Palästinenser*innen in Israel von dem System trennen lassen, das in jeglichen anderen Lebensbereichen deren Auslöschung anstrebt, sollten über diese Worte nachdenken.

                                                          Übersetzung: Gegensatz Translation Collective

Autor:in

Amjad Iraqi ist Chefredakteur beim Magazin +972. Er arbeitet außerdem für den Thinktank Al-Shabaka und war zuvor Advocacy-Koordinator bei Adalah, einer Menschenrechtsorganisation, die die Interessen der palästinensischen Minderheit in Israel vertritt. Neben +972 sind seine Artikel unter anderem in der London Review of Books, The Nation, The Guardian und Le Monde Diplomatique erschienen. Er ist israelischer Staatsbürger und lebt in Haifa.