
Israelische Polizeikräfte verhaften Demonstrierende in Jerusalem, bei der ein Ende des Krieges und die Freilassung aller Geiseln gefordert wird, Juli 2024. Foto: Yonatan Sindel/Flash90
"Wir wollen die israelische Öffentlichkeit zum Umdenken bewegen"
Warum Israel die Logik der Gewalt hinter sich lassen muss. Interview with Assaf David
Im Januar 2025 veröffentlichte das Forum für Regionales Denken in Zusammenarbeit mit dem Van Leer Institute in Jerusalem das Policy-Paper «Der Tag danach ist heute: Friedensschaffende Alternativen für die israelische Politik». Das von mehr als 130 Nahost-Wissenschaftler*innen aus der israelischen akademischen Welt unterzeichnete Papier argumentiert, dass Frieden und historische Versöhnung möglich ist. In den vergangenen 25 Jahren hätten mehrere israelischen Regierungen diesen Weg mit der Begründung abgelehnt, dass es auf palästinensischer Seite «keinen Partner für den Frieden» gebe. Sie bevorzugten militärische Gewalt gegenüber Diplomatie, isolierten das Westjordanland und den Gazastreifen, enteigneten und überzögen die Palästinenser*innen mit Gewalt, und überbetonten den Konflikts mit dem Iran, um die palästinensische Frage in den Hintergrund zu drängen. Doch der «Tag nach dem Krieg» dürfe nicht erst nach der «endgültigen Niederlage» des bewaffneten palästinensischen Kampfes beginnen.
Das Policy Paper zeichnet die Geschichte des Konflikts aus einer regionalen Perspektive nach und fordert Israel und seine Verbündeten auf, die Verantwortung für die langjährige Besatzung und die aktuelle Krise zu übernehmen, ungeachtet der unmittelbaren Verantwortung der Hamas für den Anschlag vom 7. Oktober 2023. Im Interview erklärt der Leiter des Forums, der Nahostwissenschaftler Dr. Assaf David, warum eine partnerschaftliche Beziehung zwischen Juden*Jüdinnen und Palästinenser*innen die einzige Möglichkeit zur Beendigung des Konflikts ist. Die Fragen stellte Yifat Mehl, Projektmanagerin im Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.
Yifat Mehl: Im Policy-Paper «Der Tag danach ist heute» sprechen Sie sich für einen ernsthaften und aufrichtigen Versuch aus, Frieden zu schaffen, und grenzen sich vom Weg der Gewalt und Unterwerfung sowie einem bloßen «Managen» des Konflikts ab. Aber ist es Israel denn nicht gelungen, die Hisbollah und den Iran mit Gewalt zu besiegen?
Assaf David: Im September und Oktober 2024 vollzog sich eine bedeutende strategische Wende. Israel versetzte an seiner Nordfront, der Grenze zum Libanon, zuerst der Hisbollah und danach dem Iran einen strategischen Schlag. Gewalt schien also tatsächlich zu funktionieren – teilweise gegenüber der Hamas, aber in weit größerem Maß gegenüber anderen Akteuren. Die Hisbollah erlitt eine schwere Niederlage, und ihre Fähigkeit, Israel zu bedrohen, wurde erheblich geschwächt. Der Iran wurde ebenfalls schwer getroffen und hat kurze Zeit später mit dem Sturz Baschar al-Assads auch seinen strategisch wichtigen Brückenkopf in Syrien verloren. Innerhalb des Bündnisses von Iran, Hisbollah, Hamas und weiteren Gruppen in Jemen und dem Irak, das man in Israel «Achse der Bosheit» und auf Arabisch die «Jerusalemer Achse» («Mihwar al-Quds») nennt, beginnt sich die Kosten-Nutzen-Rechnung zu ändern.
Die militärische Stärke Israels ist eine Tatsache, und in bestimmten Fällen ist ihr Einsatz gerechtfertigt und wirksam. Wer aus unserem Policy-Paper herausliest, dass Israel sein Militär und seine geheimdienstlichen Fähigkeiten aufgeben solle, hat es nach eigenen Vorstellungen interpretiert. Uns geht es darum, dass Gewalt nicht das einzige Mittel sein kann – aber genau darauf setzt Israel seit vielen Jahren. Israels militärische Stärke ist gewaltig, doch politisches Denken und Handeln bleiben schwach. Die anhaltende Besatzung, Unterdrückung und Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung treiben die Gegner*innen Israels zu immer neuer Gewalt, die, wie wir beobachten mussten, immer weiter eskaliert. Der rücksichtslose Rachekrieg Israels hat nicht nur verheerende Folgen für Gaza und seine Bewohner*innen, sondern er hat auch die israelischen Geiseln und Gefangenen bewusst dem Tod und unermesslichem Leid überlassen.
Über Jahre hat der israelische Staat versäumt, Chancen für eine friedensorientierte Politik zu nutzen. Gleichzeitig sind Gesellschaft und Politik nach rechts gerückt.
Welche Lösung schlägt das Forum für eine gleichberechtigte Partnerschaft zwischen Israel und den Palästinenser*innen vor? Wie lässt sich verhindern, dass Israel eine auf Autonomie und Integration basierende Lösung weiterhin zum Vorwand nimmt, um die Palästinenser*innen auszunutzen und zu unterdrücken?
Ich bin nicht naiv – mir ist die Gefahr bewusst, dass eine solche Partnerschaft einseitige Abhängigkeiten schafft. Genau hier liegt die größte Herausforderung: Wie lassen sich Lösungsschritte gestalten, die nicht als bloßes Konfliktmanagement wahrgenommen werden oder es sogar verstärken, und die zugleich die Realität vor Ort anerkennen? Ich spreche hier nicht nur als jüdisch-israelischer Linker, sondern gebe auch Dinge wieder, die ich aus dem internen palästinensischen Diskurs kenne. Die zentrale Herausforderung besteht darin, eine Art der Zusammenarbeit zu vermeiden, die Palästinenser*innen in bloßer Abhängigkeit hält und ihnen die vollen politischen und wirtschaftlichen Rechte verweigert.
Dennoch zeigt die Geschichte – etwa die der Frauenbefreiungsbewegung – dass die Stärkung durch Ressourcen und politische Werkzeuge langfristig zu Gleichberechtigung führen kann. Wir sprechen hier von einer echten Partnerschaft: Palästinenser*innen dürfen weder unter israelischer Herrschaft stehen noch von Israel abgetrennt werden. Ich befürworte die Vision einer integrierten jüdisch-palästinensischen Gesellschaft, keine Trennung. Habe ich eine fertige Lösung? Nicht wirklich. Aber wir müssen anfangen, neue Wege zu erkunden. Die jüdische und die palästinensische Öffentlichkeit müssen lernen, gemeinsam zu leben und zu handeln – durch wirtschaftliche Verbindungen, Bewegungsfreiheit und partnerschaftliche Beziehungen.
Anstatt sich auf eine vollständige Trennung zu konzentrieren, ist es sinnvoller, über eine schrittweise Partnerschaft zwischen Palästinenser*innen und Jüdinnen und Juden durch wirtschaftliche und soziale Integration nachzudenken.
Sie schlagen vor, die staatsbürgerlichen Rechte der Palästinenser*innen bereits vor einem politischen Abkommen anzuerkennen. Was ist damit gemeint?
Ich bin sehr skeptisch, ob unter den aktuellen Bedingungen ein souveräner palästinensischer Staat entstehen kann. Es gibt keinen realistischen Vorschlag, und auch die regionale und internationale Unterstützung für eine solche Einigung ist schwach. Israel kann nicht darauf vertrauen, dass die palästinensische Politik die Hamas überwinden wird, noch gibt es Garantien, dass Angriffe wie am 7. Oktober 2023 künftig verhindert werden. Ein palästinensischer Staat würde in diesem Kontext de facto entmilitarisiert sein, während Israel die militärische Kontrolle über seine Grenzen behält. Ob es mir gefällt oder nicht, das ist das realistische Szenario.
Statt von einem unabhängigen palästinensischen Staat zu sprechen, geht es also um palästinensische Autonomie unter israelischer Verantwortung. Anstatt sich auf eine vollständige Trennung zu konzentrieren, ist es sinnvoller, über eine schrittweise Partnerschaft zwischen Palästinenser*innen und Jüdinnen und Juden durch wirtschaftliche und soziale Integration nachzudenken. Warum sollten nicht mehr Palästinenser*innen an israelischen Universitäten studieren? Warum keine Ausbildungsprogramme für Palästinenser*innen in Israel? Gleichzeitig müssen die Einschränkungen für Bewegungsfreiheit und Beschäftigung im Westjordanland fallen. Solche Schritte könnten langfristig tiefgreifende Veränderungen bewirken.
Die zionistische Linke macht aus meiner Sicht einen Fehler, wenn sie starr an der Idee eines von Israel getrennten palästinensischen Staats festhält. Realistisch betrachtet bestünde das Risiko, dass ein solcher Staat zu einem zweiten Gaza wird – isoliert, arm und in ständiger Belagerung. Statt auf eine derzeit unmögliche Trennung zu drängen, sollte Israel Verantwortung für das Wohlergehen der Palästinenser*innen übernehmen. Langfristig könnte das zu einer Konföderation oder sogar zu einem gemeinsamen Staat führen.
Wie wurde das Policy-Paper in der israelischen Öffentlichkeit aufgenommen?
Zwei überraschende Dinge sind geschehen: Im professionellen – meist konservativen – Milieu der Nahoststudien und im akademischen Bereich Israels generell wurde das Dokument sehr positiv aufgenommen. Viele, auch renommierte Wissenschaftler*innen fühlten, dass die Publikation ihnen eine Stimme gibt, anders als die gängigen Analysen über den «Tag danach», die meist das herrschende Konfliktmanagement fortschreiben. Auch aus dem Mainstream der zionistischen Linken kam Unterstützung, was unserer Veröffentlichung eine größere Anerkennung verschafft hat. Selbst scharfe Kritiker*innen in den sozialen Netzwerken erkannten zum Teil an, dass das Papier einen ernsthaften innerisraelischen Dialog anstoßen will.
Allerdings haben uns die heftigen Angriffe mancher, nicht besonders ernstzunehmender Influencer*innen überrascht. Sie versuchten, uns als «Verräter» darzustellen, mit haltlosen Vorwürfen wie «Das Forum für Regionales Denken rechtfertigt die Hamas» oder «Das Forum ignoriert die Bedrohung durch den Iran». Die Bemerkungen bewegten sich größtenteils auf Kommentarspalten-Niveau, waren aber dennoch beunruhigend, weil sie die aktuelle Stimmung in Israel widerspiegeln. In einigen Fällen schien es, dass diese Kommentare sogar Gewalt gegen uns gutheißen. Plötzlich wurden unsere Sozial-Media-Aktivitäten überwacht, Screenshots aus dem Kontext gerissen und Dinge bewusst verzerrt dargestellt. Menschen, die unser Forum nur durch die Kommentare dieser Influencer*innen wahrnehmen, könnten den falschen Eindruck bekommen, wir würden die Hamas unterstützen.
Israel muss zuerst den extremistischen Kräften in den eigenen Reihen Einhalt gebieten. Solange das nicht passiert, wird es eine starke palästinensische Hamas geben.
Dennoch zeigen solche feindseligen Reaktionen, dass unser Papier als Teil eines legitimen und wichtigen innerisraelischen Dialog wahrgenommen wird – nicht als Text von außenstehenden «Israel-Hassern». Wir führen eine echte Auseinandersetzung, die innerhalb Israels geführt werden muss und auch geführt wird, selbst in konservativen Institutionen wie der Israelischen Vereinigung für Nahost- und Islamstudien (The Middle East & Islamic Studies Association). Das ist ein bedeutender Erfolg.
Ein Kritikpunkt war, dass das Dokument nicht «die israelische Sprache spreche» (d.h. nicht ausreichend sicherheitsorientiert sei, Anm.d.Red.). Wir erklärten diesen Kritiker*innen, dass ein so verfasstes Dokument in liberal-progressiven Kreisen im Westen schnell als pro-israelisch oder gar zionistisch verstanden würde. Das könnte dem Ruf des Forums für Regionales Denken schaden. Offenbar verstehen manche nicht, wie Israel heute in westlichen akademischen und zivilgesellschaftlichen Kreisen wahrgenommen wird und dass unsere Analyse dort als eine Form des «Whitewashing» des israelischen Vorgehens aufgefasst werden könnte.
Unser Ziel ist es, ein Gleichgewicht zu finden: einerseits die israelische Öffentlichkeit anzusprechen und zum Handeln zu motivieren, andererseits die komplexe Realität zu analysieren. Manche werfen uns vor, nicht pro-palästinensisch genug zu sein, doch unsere Publikation richtet sich in erster Linie an die israelische Öffentlichkeit, nicht an die internationale.
Was unterscheidet Ihren Ansatz von anderen Analysen?
Die Bedeutung des Papiers liegt meines Erachtens in der präzisen Unterscheidung zwischen einer linken, kritischen Politik und einer klassischen linkszionistischen Position, wie sie in vielen anderen Policy-Papers vertreten wird. Unsere Publikation liefert eine klare und nüchterne Analyse, die über die Frage hinausgeht, welche Politik möglich oder ratsam ist. Sie berührt einen tieferen Kern des Problems. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina und die Gründe palästinensischer Gewalt können nämlich nicht verstanden werden, ohne die grundlegende Dynamik zu anzuerkennen: Besiedlung versus Widerstand.
Außerdem betont unser Policy-Paper, dass Israel – zumindest parallel zu allen anderen Maßnahmen – zuerst den extremistischen Kräften in den eigenen Reihen Einhalt gebieten muss. Solange das nicht passiert, wird es eine starke palästinensische Hamas geben. Wer nicht versteht, dass die Realität hier auf der Dynamik von Besiedlung und Widerstand beruht, wird die Hamas niemals überwinden. Niemals. Es ist unvorstellbar, dass die Hamas durch die Zauberlösung eines «palästinensischen Staats mit regionaler Zustimmung» ausgelöscht werden kann. Solange Israel nicht bereit ist, sich entschlossen gegen extremistische Kräften auf der jüdischen Seite zu stellen, wird die Hamas weiterbestehen.
In den 1990er Jahren, in der Zeit von Ministerpräsident Jitzchak Rabin, gab es einen Moment, in dem die zionistische Linke bereit war, ernsthaft auf eine palästinensische Unabhängigkeit hinzuarbeiten – sei es durch einen souveränen Staat, eine Autonomie oder eine andere Lösung. Doch wer hat den Friedensprozess gestoppt? Die Gegner*innen auf der jüdischen Seite. Sie griffen zur Gewalt, bis hin zum Mord am Ministerpräsidenten. Die zionistische Linke war nicht bereit, den Extremist*innen auf jüdischer Seite Einhalt zu gebieten und konnte deshalb keine politischen Fortschritte erzielen.
Ironischerweise erwartete Israel von der Palästinensischen Autonomiebehörde, dass sie die Hamas mit Gewalt unterdrückt, während Israel selbst nicht bereit war, dasselbe mit den eigenen religiös-nationalistischen Extremist*innen zu tun, die ebenfalls Gewalt als politisches Mittel nutzen. Es gab Gelegenheiten dafür, doch sie wurden nicht genutzt.
Ihr Policy-Paper enthält Grundsätze für eine nachhaltige Lösung des Konflikts – Ideen, die in Israel nicht populär sind. An wen richtet es sich und welches Ziel verfolgt das Forum damit?
Es richtet sich klar an die israelische Öffentlichkeit. Deshalb haben wir eine Sprache verwendet, die nicht über sie spricht, sondern zu ihr. Zwischen einer ersten und der endgültigen Fassung haben wir den Text gemeinsam mit uns beratenden Wissenschaftler*innen stark überarbeitet. Israel steckt in einer dramatischen Krise, die eine innerisraelische Diskussion erfordert, nicht nur Gespräche mit externen Akteur*innen. Über Jahre hat der israelische Staat versäumt, Chancen für eine friedensorientierte Politik zu nutzen. Gleichzeitig sind Gesellschaft und Politik nach rechts gerückt. Wir wollen die israelische Öffentlichkeit zum Umdenken bewegen – gerade jetzt, in Zeiten gesellschaftlicher Spaltung.
Was wurde an der ersten Fassung verändert?
Zunächst lag der Fokus auf der israelischen Verantwortung für die Eskalation. Rückmeldungen von Wissenschaftler*innen führten dazu, dass wir die destabilisierende und zerstörerische Rolle islamistischer Akteure stärker berücksichtigen. Die endgültige Fassung geht stärker auf die regionale Destabilisierung durch die sogenannte «Jerusalemer Achse» ein. Uns war wichtig, zwischen den verschiedenen Akteuren zu unterscheiden, etwa zwischen Katar und Iran oder zwischen Gruppen, die Gewalt einsetzen, und solchen, die seit Jahrzehnten davon absehen.
Steht das Forum für Regionales Denken weiterhin hinter der Publikation?
Absolut. Ein 15-köpfiges Team hat daran gearbeitet, und obwohl nicht immer Einigkeit herrschte hat niemand seine Unterschrift zurückgezogen. Von den mehr als 130 Wissenschaftler*innen, die es unterzeichnet haben, hat nur eine Person ihre Unterstützung zurückgezogen. Das Dokument versucht nicht, eine bestimmte Seite zufriedenzustellen, sondern bietet eine präzise Analyse der Realität und mögliche Handlungsperspektiven. Es spiegelt unterschiedliche Positionen innerhalb eines kritischen Analyseansatzes wider. Wir sind überzeugt, dass diese Perspektive – auch wenn sie komplex ist – essenziell für das Verständnis der Realität und die Entwicklung einer verantwortungsvollen Politik in der Zukunft ist.
Dieses Interview wurde am 31.03.2025 geführt.
Interviewte
Assaf David ist Mitbegründer des Forums für Regionales Denken, akademischer Direktor des Forums und Herausgeber der Website. Er leitet das Forschungscluster „Israel im Nahen Osten“ am Van Leer Institut in Jerusalem und ist Lehrbeauftragter am Fachbereich für Politikwissenschaft an der Hebräischen Universität in Jerusalem. In seiner Forschung beschäftigt Dr. David sich mit der Beziehung von Militär und Gesellschaft im Nahen Osten, dem arabischen öffentlichen Diskurs, der Rolle Israels in der Region sowie der israelischen Nahostwissenschaft als akademischen Disziplin.
Autor:in
Yifat Mehl ist Projektmanagerin im Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.