Zerstörung eines Beduinen-Dorfs in der Naqab/Negev-Wüste - eine Chronologie
In Israel gibt es 35 so genannte „nicht anerkannte“ Beduinen-Dörfer mit zehntausenden Einwohner_innen, die von erzwungener Verdrängung gefährdet sind. So auch das Beduinen-Dorf Umm al-Ḥīrān in der Naqab/Negev-Wüste. (letztes Update 25.April 2018)
Von Anfang an berichteten wir über die Geschehnisse im Beduinen-Dorf Umm al-Hiran: Der geplante Abriss, die gewaltvolle Räumung, welche zwei Todesfälle zur Folge hatte, und die darauffolgende mediale Darstellung des Vorfalls als "Terror". Für den Polizeipräsidenten und den Minister für Innere Sicherheit war sofort klar: Beim toten Bewohner handele es sich um einen Terroristen der ISIS. Im Februar 2018 berichtete Israels Qualitätszeitung Haaretz, dass die tödlichen Vorfälle keinesfalls Resultat eines terroristischen Akts waren und fordert den Rücktritt des Ministers.
Lest die Chronologie der Ereignisse, die Israels Linke seit Monaten beschäftigt:
25.April 2018
Die Bewohner*innen von Umm al-Hiran haben eine Vereinbarung mit den israelischen Behörden unterzeichnet bezüglich einer Umsiedlung in das unweit gelegene Beduinendorf Hura, wo sie Grundstücke zum Hausbau erhalten sollen, sowie Entschädigung für die Grundstücke, die sie verlassen. Die Behörden hatten zwar noch im März 2018 für Ende April angekündigt, dass sie die Bevölkerung zwangsräumen würden, aber die jetzige Vereinbarung bietet eine Umsiedlung zum September an. Am 11. April 2018 gab die Regierung Einzelheiten aus der Vereinbarung bekannt. Laut Yair Ma‘ayan, dem Generaldirektor der Behörde für Entwicklung und Besiedlung durch Beduinen im Negev, hat eine Mehrheit der Bewohner*innen die Vereinbarung unterschrieben und diejenigen, die die Vereinbarung bis Ende September nicht unterschrieben haben, werden vonseiten des Staates evakuiert. Seit der Verkündung des Übereinkommens wurde sukzessive ein Abrissplan der Häuser der Bewohner*innen umgesetzt, die unterschrieben hatten und israelische Behörden übten Druck auf die Bewohner*innen aus, die nicht unterschrieben hatten, bis schlussendlich am 24.04.2018 auch die letzte Familie das Abkommen unterzeichnet hatte.
Während Vertreter staatlicher Stellen sich damit brüsten, ein Übereinkommen mit den Bewohner*innen erreicht zu haben und die Vertragsvereinbarungen als großzügiges Entgegenkommen vonseiten des Staates bezeichnen, könnte dies womöglich fernab der Wahrheit liegen. Wie es scheint, decken die angebotenen Vertragsbedingungen und Entschädigungen die Kosten der Umsiedlung nicht ab und der Neubau der Häuser wird wohl kaum zur genannten Frist Ende September 2018 abgeschlossen sein. Die Bewohner*innen von Umm al-Hiran sagen, dass sie vom Staat genötigt wurden, das Angebot anzunehmen. Ein Angebot, das sie in der Vergangenheit konsequent abgelehnt hatten. „Wir haben diese Vereinbarung mit Tränen in den Augen unterschrieben,“ meint einer der Bewohner. Er sagt, dass der Druck, der vom Staat ausgeübt wurde, enorm war und einige Besuche durch Polizeikräfte einschloss. „Wir wurden dazu gezwungen zu unterschreiben. Sie haben uns gesagt: Wenn Ihr nicht unterschreibt, kommen wir und reißen die Häuser ab.“
Ra´ed Abu Alkiyan, Vorsitzender des Bürgerkomitees von Umm al-Hiran und ein Neffe von Yaakub Abu Alkiyan, der während der Vorkommnisse vom 18. Januar 2017 (siehe weiter unten) getötet wurde, sagt: „ Ich wäre glücklich gewesen, in meinem zuhause bleiben zu können, aber diese Vereinbarung bedeutet auch, dass es keine weiteren Verluste mehr geben wird und keine weinenden Mütter, kein Blutvergießen und auch keinen weiteren Schmerz.“
Haia Noach vom Negev-Koexistenz Forum für gesellschaftliche Gleichberechtigung, einer Partnerorganisation der Rosa Luxemburg Stiftung, sagt: „Dies ist nicht der entscheidende Moment, in dem die Bewohner*innen von Umm al-Hiran freiwillig eine Vereinbarung unterschrieben, ihr Dorf zu verlassen, sondern der Moment, in dem Vertreter staatlicher Stellen das Bürgerkomitee übermannt haben, der Moment, zu dem sie die Menschen mit ihrer ganzen Macht erdrückt haben, die nach 15 Jahren Kampf, der sie wirtschaftlich und physisch erschöpft hat und der ihnen einen hohen Preis abgefordert hat: den Tod von Yaakub Abu Alkiyan, den fortgesetzten Wiederaufbau ihrer zerstörten Häuser, die Anwalts- und Gerichtskosten und den seelischen Preis, den sie gezahlt haben. Die Bewohner*innen von Umm al-Hiran haben ihren Kampf weitergeführt, in der Hoffnung, dass ein gewaltloser, demokratischer Kampf eine Lösung herbeiführen wird, die ihnen erlaubt in ihrem zuhause zu bleiben... Der Inhalt dieser Vereinbarung ist, dass der Staat die Absicht hat, die Gemeinschaft der Beduinen ihres Dorfes und ihres Landes zu enteignen, um jüdische Bewohner*innen dort anzusiedeln, vergessend, dass es die Anweisungen der israelischen Behörden waren, die einst die Beduinen dort angesiedelt haben.“ (siehe im Eintrag vom 21. März 2018)
21. März 2018
Die israelischen Behörden haben letzte Woche bekanntgegeben, dass sie im April das gesamte Beduinen-Dorf Umm al-Hiran abreißen werden. Am 21. März 2018 (ironischerweise, am Internationalen Tag für die Beseitigung von rassistischer Diskriminierung, auf Deutsch meist Internationaler Tag/Woche gegen Rassismus genannt) kamen israelische Polizeikräfte nach Umm al-Ḥīrān und brachten an Wohnhäusern und der Moschee des Dorfes Zwangsräumungsbescheide an. In den Bescheiden stand, dass die israelischen Behörden die Gebäude zwischen dem 15. und dem 29. April abreißen werden.
Umm al-Hiran ist eines der 35 Beduinen-Dörfer, die vom israelischen Staat als „nicht anerkannt“ angesehen werden. Die Bewohner*innen des Dorfs wurden von den israelischen Behörden in 1950er Jahren dorthin übersiedelt und leben seitdem dort. Allerdings galt das Dorf die ganzen Jahre hinweg als „nicht anerkannt“ und der Staat hat das Dorf weder mit Infrastrukturen noch anderen Diensten versorgt. Das Dort steht nun unmittelbar vor der Zwangsräumung und -Abriss, weil von staatlicher Seite die Errichtung einer jüdischen Ortschaft, mit dem Namen Chiran, auf Land, das auch das Gebiet des Beduinen-Dorfs miteinschließt, geplant ist.
In Reaktion auf die am 21. März zugestellten Zwangsräumungsbescheide, schickte Adalah – The Legal Center for Arab Minority Rights [das juristische Zentrum für die Rechte der arabischen Minderheit] ein dringendes Schreiben an den israelischen Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit und an die israelische Landbehörde. In dem Schreiben wurde erklärt, dass die 350 Bewohner*innen des Dorfs, darunter viele Frauen und Kinder, durch die Zwangsabrisse obdachlos werden, und gefordert, dass die Zwangsräumung der Bewohner*innen und der Abriss ihrer Häuser aufgeschoben wird. Die Forderung wird damit begründet, dass der Staat entgegen seiner Verpflichtungen und Versprechen, die er dem Obersten Gericht gegeben hat, diese Zwangsräumungsbescheide erlassen und zugestellt hat, bevor eine gerechte Lösung im Einverständnis mit den Bewohner*innen gefunden wurde, und bevor eine adäquate und praktisch verfügbare Lösung ihres Wohnungsproblems sichergestellt wurde. Darüber hinaus hob das Schreiben hervor, dass obwohl der Staat dem Gericht wiederholt versprochen hat, dass die neue Ortschaft Chiran alle Menschen, ungeachtet ihrer religiösen oder ethnischen Herkunft, als Bewohner*innen akzeptieren werde, die Statuten der Chiran Genossenschaft festlegen, dass ausschließlich jüdische orthodoxe Menschen in dem Ort wohnen dürfen. In den Statuten, die Adalah bereits im August 2017 enthüllte, heißt es: „eine Person kann von dem Zulassungskomitee zugelassen und ein Mitglied der Chiran Genossenschaft werden, falls sie die folgenden Kriterien erfüllt: ein jüdischer israelischer Staatsbürger oder [ein jüdischer Mensch mit] permanenter Aufenthaltsgenehmigung in Israel, der gemäß der Torah [=Bibel] und den Geboten im Sinne der orthodox jüdischen Werte lebt…“ (Absatz 5.1)
23. Februar 2017
Heute wurden neue Erkenntnisse zu den Ereignissen in Umm al-Hiran bekannt: Eine Untersuchung des Justizministeriums soll ergeben haben, dass die tödlichen Vorfälle bei der gewaltsamen Räumung am 18. Januar nicht Resultat eines terroristischen Akts waren. Anfänglich hieß es, dass der Anwohner Jakub Abu al-Kijan den Polizeibeamten Erev Levy gezielt überfahren haben soll, woraufhin Levy sofort verstarb. Abu al-Kijan selbst erlag wenig später ebenfalls seinen Verletzungen. Bereits kurz nach der Tat sprachen sowohl Polizeipräsident Roni Alsheich, als auch der Minister für Öffentliche Sicherheit, Gilad Erdan, über Abu al-Kijan als einen „von der ISIS inspirierten Terroristen“.
Wie Haaretz berichtet, kommen aktuelle Nachforschungen zu dem Ergebnis, dass es sich nicht um einen terroristischen Akt handelte. Dazu ließ Erdan nun auf Facebook verlauten, dass in dem Fall eine Entschuldigung an die Familie vonnöten sei. Deutlichere Worte findet Zehava Galon, Parteivorsitzende von Meretz, die die Arbeit des Polizeipräsidenten Alsheich als „kontinuierliches Desaster“ beschreibt. Weiter fordert sie personelle Konsequenzen: „Was aktuell passiert, zeigt deutlich, dass die Polizei eine ernsthafte Grunderneuerung benötigt, vom Polizeipräsidenten bis zum Pressesprecher.“ Haaretz fordert im heutigen Leitartikel der hebräischen Ausgabe, dass auch der zuständige Minster, Erdan, zurücktreten sollte.
16. Februar 2017
Michal Rotem vom Negev Coexistence Forum for Civil Equality schreibt einen ausführlichen Hintergrundartikel auf unserer Webseite:
Die Ereignisse in Umm al-Hiran sind ein eklatantes und tragisches Beispiel für die Situation von 35 Beduinendörfern im Negev, die aus vielen verschiedenen Gründen in Gefahr sind, zwangsweise geräumt zu werden. Auf dem Boden von einigen dieser Dörfer wird die Errichtung von jüdischen Ortschaften geplant; andere befinden sich auf den geplanten Routen der Autobahn 6, die ganz Israel von Norden nach Süden durchquert, oder anderer Schnellstraßen. Dann gibt es Dörfer, die sich in militärischen Gebieten befinden, in Bezug auf andere verlangt der Staat, dass sie geräumt werden, obwohl es keinerlei Pläne für diese Gebiete gibt. Gegenwärtig setzen die Bewohner*innen von Umm al-Hiran ihren Kampf fort, um ihr Dorf vor dem Abriss zu retten. Sie haben ein Protestzelt errichtet, das für die Öffentlichkeit bis Ende Februar geöffnet sein wird.
4. Februar 2017
Heute gingen Tausende im Zentrum Tel Avivs unter dem Motto „Araber*innen und Jüdinnen zusammen für eine gemeinsame Zukunft“ auf die Straße und demonstrierten gegen die Politik der israelischen Regierung. Anlass war der Abriss von Wohnhäusern in Umm al-Hiran vor etwas mehr als zwei Wochen. Dabei kamen ein Anwohner und ein Polizist ums Leben und etliche andere wurden verletzt. Es war ein bewegender Abend jüdisch-arabischer Solidarität, wie ihn Tel Aviv seit langem nicht mehr erlebt hatte. So gut wie alle Partner der Rosa Luxemburg Stiftung in Israel nahmen daran aktiv teil. Es sprachen unter anderem die Knesset-Mitglieder Ayman Odeh von der Gemeinsamen Liste und Michal Rozin von Meretz. Besonders bewegend war das Plädoyer von Dr. Amal Abu Sa’ad, der Witwe des ums Leben gekommenen Anwohners, die Hoffnung auf eine gemeinsame jüdisch-arabische Zukunft nicht zu verlieren.
18. Januar 2017
In den Morgenstunden trafen hunderte vollbewaffnete Polizeibeamte in Umm al-Hiran ein, um den Abriss vorzubereiten. Dabei wurden ein Anwohner, Yacoub Abu al-Qiyan, und ein Polizist, Erez Levy, getötet und etliche andere verletzt. Zum Tathergang gibt es unterschiedliche Versionen, wie +972 und Adalah berichten: Ob al-Qiyan sein Fahrzeug auf die Polizeibeamten lenkte oder sein Auto erst in dem Moment ausscherte, in dem er angeschossen wurde und er die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor, ist zur Zeit unklar.
Den Berichten zufolge ging die Polizei äußerst brutal vor, sprühte Tränengas und schoss mit Plastikgeschossen; berichtet wurde auch von scharfer Munition. Unter den Verwundeten ist Knesset Mitglied und Vorsitzender der Gemeinsamen Liste Ayman Odeh, der von der Polizei mit Plastikgeschossen in den Kopf und Rücken getroffen wurde. Odeh wurde ins Soroka Krankenhaus in Be’er Sheva eingeliefert und ist im stabilen Zustand.
Aktuell zerstören Bulldozer Häuser in Umm al-Hiran.
BREAKING VIDEO: Israeli bulldozers demolishing homes in Umm al...BREAKING VIDEO: Israeli bulldozers demolishing homes in Umm al-Ḥīrān Bedouin village after police kill resident (Video via All That's Left: Anti-Occupation Collective)
Posted by Adalah - The Legal Center for Arab Minority Rights in Israel on Wednesday, January 18, 2017
Aktuelle englischsprachige Infos gibt es auf der Webseite sowie der Facebook-Seite von Adalah (The Legal Center for Arab Minority Rights in Israel).
22. November 2016
In Israel gibt es 35 so genannte „nicht anerkannte“ Beduinen-Dörfer mit zehntausenden Einwohner_innen, die von erzwungener Verdrängung gefährdet sind. So auch das Beduinen-Dorf Umm al-Hiran in der Naqab/Negev-Wüste in Süden Israels. Dieses ist akut vom Abriss durch die Israel Land Administration betroffen: Die israelische Regierung plant auf den Ruinen eine jüdische Ortschaft mit dem Namen Hiran zu bauen.
Adalah (The Legal Center for Arab Minority Rights in Israel) veröffentlichte folgendes Video, das in der Nacht vom 21. zum 22. November 2016 entstand (deutsche Übersetzung unten).
Deutsche Übersetzung:
Nachts haben die Familien des palästinensischen Beduinen-Dorfes Umm al-Hiran hastig ihre Sachen gepackt, um diese vor der Zerstörung zu retten.
Mehrere Häuser sollen morgen abgerissen werden, da die israelischen Behörden den Plan verfolgen, das Dorf zu zerstören und die Bewohner*innen gewaltsam zu vertreiben.
Die israelische Regierung plant eine jüdische Ortschaft mit dem Namen Chiran auf den Ruinen zu bauen.
Umm al-Hiran ist eines von 35 so genannten „nicht anerkannten“ Beduinen-Dörfer innerhalb Israels. Jedes Dorf ist von Abriss und erzwungener Verdrängung gefährdet.
In den sozialen Netzwerken protestieren Aktivist_innen unter dem Hashtag #Save_UmAlHiran. Auf Grund von Protesten fand vorerst kein Abriss durch die Israel Land Administration statt.
Weiterführende Links:
Konfrontation im Negev – Die israelische Landpolitik gegen die Beduinen