Zurück zur kommunistischen Kunst
Aber was wäre, wenn die „Kids“ den Kommunismus tatsächlich wollten? Die Ausstellung The Kids Want Communism, die im September im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien in Berlin zu sehen ist, basiert auf einer Ausstellungsreihe, die im MoBY, dem kommunalen Museum der Stadt Bat Yam, in der Nähe von Tel Aviv, aus Anlass des „99-zigsten Jahrtags der sowjetischen Revolution“ im Laufe des Jahres 2016 gezeigt wurde. Shaul Setter, der Kunstkritiker der israelischen Tageszeitung Haaretz, reflektiert über kommunistische Kunst im Zeitalter des Neoliberalismus.
Und was wäre, wenn die Kinder tatsächlich Kommunismus wollen? Immerhin hat sich 2016 in den USA eine Massenbewegung um den „sozialistischen“ Bernie Sanders formiert, der es fast gelungen ist, ihm zum Sieg über Hillary Clinton im Kampf um die Nominierung zum*zur Demokratischen Präsidentschaftskandidaten*in zu verhelfen, und die jetzt, in der Trump-Ära, weiter an Schwung und Kraft gewinnt. Ähnliches spiegelt sich auch in der großen Anziehungskraft von Jeremy Corbyn, dem britischen Labour-Politiker, wider. Der Wahlerfolg des „zu linken“ Kandidaten, dessen Niederlage die Führung seiner Partei schon erwartet hatte, untergräbt nun das konservative Regime. In beiden Fällen sind „die Kinder“ – junge Menschen, die in den 1990er Jahren, d. h. nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, geboren wurden – die Hauptträger*innen dieses Erwachens, das vielleicht zum Effekt der „Hundert Jahre seit der Bolschewistischen Revolution“ gehört: einerseits der Aufstieg Russlands zu einer mächtigen politischen Kraft, nachdem es sich ganz von seiner kommunistischen Vergangenheit abgewendet hat, und seine Verwandlung in eine imperiale Militärmacht ohne ideologisches Gepäck; und andererseits die Intensivierung und Ausbreitung des Neoliberalismus, der zu einer Reihe von Krisen führt und damit auch Möglichkeiten des Widerstands eröffnet. Die Kinder wollen etwas anderes, das sie nicht kennen, und nachdem einige Jahrzehnte vergangen sind, kann das vielleicht wieder Kommunismus genannt werden.
Die Ausstellung „The Kids Want Communism“ will das gleiche Gespenst heraufbeschwören, das jetzt wieder umgeht, und diesmal nicht nur in Europa. Aber es wäre ein Fehler zu glauben, dass es sich bei dieser Ausstellung um ein nostalgisches Projekt handele, um die Sehnsucht nach Kunst aus einer anderen Zeit, in der diese nicht durch das Großkapital verdorben war, sondern staatlich gefördert wurde oder aus der Nähe zur Partei entstand. Sie nutzt zwar das umfangreiche Kunstarchiv des Sowjetblocks und der „realsozialistischen Länder“, einschließlich Künstlerkollektive, Werkgruppen, Ausstellungen und Werke, Symposien und Zeitschriften, jedoch werden sie mit einem Gegenwartsbezug neuaufbereitet. Es handelt sich dabei nicht um historische Exponate, sondern um Katalysatoren für eine andersartige künstlerische Praxis. Man/frau könnte sagen, dass es sich um eine Ausstellung politischer Kunst handele. Aber „politische Kunst“ war schon lange der Kern der liberalen Kunstpraxis, in deren Rahmen „politisch“ als moralischer Standpunkt verstanden wurde, der ungefährlich, verständlich und insbesondere gänzlich „geplant“ ist, das heißt als Standpunkt, der im Kunstwerk zum Ausdruck gebracht wird. Im Gegensatz dazu geht kommunistische Kunst von der Beziehung zwischen dem künstlerischen Ausdruck und den Formen seiner Produktion, Aufbereitung und Verbreitung aus. Es handelt sich nicht darum, was das Kunstwerk aussagt, sondern darum, wie es wirkt. In den berühmten Worten von Jean-Luc Godard: Nicht Bilder einer Revolution, sondern ein revolutionäres Bild.
Die kommunistische Kunst suchte immer nach der Verbindung zwischen der revolutionären Form und politisch revolutionären Inhalten. Bekanntlich war dies ein Hauptanliegen der sowjetischen Avantgarde in den 1910er und 1920er Jahren: Das Experimentieren mit Formen, wie zum Beispiel die ungegenständliche Kunst des Suprematismus, wurde als politisches Projekt verstanden. Die Befreiung des Kunstwerks von der Notwendigkeit, die Wirklichkeit zu repräsentieren, von der Position des Abbildes der sichtbaren Welt, entspricht der Befreiung des Menschen und der Gesellschaft und ist praktisch ein integraler Bestandteil dieses Bestrebens. Bevor er zum verbindlichen Standard der künstlerischen Praxis im Sowjetstaat wurde, suchte auch der Sozialistische Realismus nach Wegen der Repräsentation des Arbeitskollektivs, die zu dessen Erwachen und Handeln führen können. Keine Hauptrichtung in der Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg – um ein deutsches Beispiel zu nennen: von Alexander Kluge über Harun Farocki bis hin zu Hito Steyerl – gab sich damit zufrieden, einen „Standpunkt“ oder „Argument“ in Bezug auf die politische Welt darzustellen. Stattdessen sahen sie in der Kunst einen Raum, in dem sich die Form der politischen Argumentation verändert, in dem künstlerische Ausdrucksformen gesellschaftliche Bedeutung haben. Deswegen ist kommunistische Kunst nicht eigentlich Kunst der kommunistischen Partei und auch nicht Kunst, die die Werte der Befreiung anstelle der untergegangenen oder verschwundenen kommunistischen Partei verbreitet, sondern der Anspruch auf eine kommunistische Praxis in den Bereichen künstlerischer Darstellung.
Das ist natürlich ein hochgestecktes Ziel für eine Ausstellung, die in einer Welt gezeigt wird, aus der nicht nur die kommunistische Kunst, sondern auch deren ästhetische Grundlage verschwunden sind, in einer Zeit, in der partizipative Kunst so tief gesunken ist, dass wenn ein Kunstwerk schon einmal „Wirkung“ zeigt, seine Wirkmacht die Inhalte des Werks meist nur in ohrenbetäubender Lautstärke zum Ausdruck bringt. Dennoch gelingt es der Ausstellung, Momente des Erlebens and Denkens eines anderen Kunstmodells zu bieten. Dazu gehört ein Exponat von Max Epstein, in dem der Künstler ein Modell einer Datscha gebaut hat, jenem russischen Sommerhaus, das der sowjetische Staat vielen seiner Bürger*innen gewährte, wo sie ihre Sommerferien verbrachten, weit weg von den Orten, an denen sie wohnten und arbeiteten. Epsteins Holzhaus besteht aus Objekten, Geräten und Skulpturen – Bügeleisen, Schreibtisch, Kleiderschrank, Bilderrahmen, Toilette, eine Lenin-Büste, Fotos und Spiegeln – Miniaturen vielfältigem ländlichen Lebens, die sich zwischen Gebrauchsgegenstand und Dekoration bewegen. Jede einzelne ist sowohl ein Objekt als auch ein Zeichen, sowohl eine Sache als auch eine Repräsentation. Das Haus, das Epstein darbietet, ist ein Ort unbegrenzter Zeit, vollkommener Freizeit, ein Raum zum Ausruhen, Handeln und Denken. Und als solcher ein kommunistischer Raum: Der Kommunismus war so eng mit der Theorie des „arbeitenden Menschen“ verbunden, dass seine kreative Seite vergessen wurde. Demnach ermöglicht es die Verringerung der notwendigen Arbeit (in der Fabrik, dem Büro, vor dem Computer), sich der künstlerischen und intellektuellen Kreativität zuzuwenden, die notwendig ist, um gesellschaftliche Veränderung zu verwirklichen. Epstein bietet einen Ort, an dem Freizeit nicht Faulheit und Untätigkeit ist, sondern eine Tätigkeit, die keine mühselige Arbeit ist und die von den üblichen Arbeitspraktiken abweicht: die Reparatur von vorhandenen Materialien, ihre Verarbeitung und Präsentation. Eine Bricolage des gemeinsamen Lebens. Damit bezieht er sich auch auf die künstlerische Tätigkeit, die heute ganz und gar in Kategorien von Arbeit – Produktion, Management, Gewinnmachen, sofortige Investition für weitere Produktion – verstanden wird, und zeigt einen entgegengesetzten Pol für das Verständnis von Kreativität auf. Wie auch bei der „Anlage zum Ruhen“ / „Structure for Rest“ – breite und lange Etagenbetten, die nicht zu Hause im Schlafzimmer stehen, sondern sich ihre eigene Umgebung schaffen – von Ohad Meromi[1] wird hier ein Ort für einen Aufenthalt ohne mühselige Arbeit geschaffen, wo längere Meditation möglich ist.
Ein Sonderteil der Ausstellung wird von der Griechin iLiana Fokianaki kuratiert, als eine Art Umkehr der Documenta in Athen (in einem Gespräch zwischen ihr und Yanis Varoufakis, das vor Kurzem in e-flux veröffentlich wurde,[2] beleuchten die beiden jeden Aspekt dieses faszinierenden, aber gescheiterten Projekts). Einige der daran beteiligten griechischen Künstler*innen experimentieren mit den Möglichkeiten, die sowjetische Avantgarde-Ästhetik wiederzubeleben: Die wunderbaren kleinen Papierarbeiten von Konstantinos Kotsis schaffen Fahnen und Symbole für die „Griechische Republik der Sozialistischen Räte“ im strengen, üppigen und geometrischen Stil der konstruktivistischen Plakate von vor hundert Jahren. Aber heute in einem Zeitalter, in dem die Informatik die geometrische Form – die Linie, den Punkt und den Kreis – in eine Illustration verwandelt hat, die quantitative Daten soweit wie möglich verständlich macht, ist dies ein Versuch, die abstrakte Dimension der Form wiederherzustellen: sie aus der Anbindung an die Fakten, die sie repräsentieren soll, zu befreien und sie als unabhängiges Feld für materielle und geistige Tätigkeit zu behandeln. Dicht neben diesen Werken zeigt die Wandmalerei von Jonathan Gold, dessen Werk in dieser Ausstellung fertig gestellt wurde, wie kein Gemälde sich vom liberalen Strom in der Kunst ganz ablösen kann: einerseits die Verbeugung vor dem Sozialistischen Realismus als engagierte gesellschaftliche Darstellung, ohne in die Opferrolle zu schlüpfen und ohne Sentimentalität, und andererseits das Experimentieren mit der Möglichkeit, dass eine Reihe (von Menschen) zu einer Gruppe wird, ein Experimentieren, das in Bezug auf Farbe und Form bis zur äußersten Abstraktion geht.
Wenn es heute kommunistische Kunst gäbe, müsste sie sich direkt mit der zeitgenössischen liberalen politischen Kunst auseinandersetzen. Die Praktiken der letzteren – Archiv, Gedächtnis, „Rashomon-Effekt”[3], sowie künstlerische Zusammenarbeit und partizipative Kunst – erfolgen unter der Schirmherrschaft des Marktes und aus der Position der Stärke des neoliberalen Ichs. Dies sind mächtige Praktiken, und die Chancen, ihr Funktionieren nachhaltig zu stören, sind gering. Aber dies scheint auch so im Juni 1917 gewesen zu sein.
(Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin)
Shaul Setter ist Hauptkunstkritiker der Tageszeitung Haaretz. Er hat einen Doktortitel in Vergleichender Literaturwissenschaft der University of California, Berkeley. Er schreibt derzeit an einem Buch über (neo-)modernistische, ästhetisch-politische Projekte in Europa und Israel/Palästina.
Dieser Artikel erschien vorab im Neuen Deutschland:
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1062767.morgen-kinder-wirdrs-was-geben.html
Anmerkungen:
[1] http://www.ohadmeromi.com/structure-for-rest/.
[2] https://conversations.e-flux.com/t/we-come-bearing-gifts-iliana-fokianaki-and-yanis-varoufakis-on-documenta-14-athens/6666.
[3] unterschiedliche Wahrnehmung eines konkreten Geschehens, wie in dem Film „Rashomon“ von Akira Kurosawa
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