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„Es ist überwältigend in Jerusalem zu leben“

Die gebürtige Jerusalemerin und Kriegsdienstverweigerin Sahar Vardi engagiert sich seit ihrer Jugend in Initiativen gegen die Besatzungspolitik der israelischen Regierung. Gemeinsam mit den Bewohner*innen Ost-Jerusalems kämpft sie für eine gerechte Stadt von unten.

Die meisten linken Aktivist*innen, die in Jerusalem aufwuchsen, zogen mit der Zeit nach Tel Aviv oder ins Ausland. Warum hast du dich ausgerechnet dazu entschieden, in der Stadt zu bleiben?

Für mich ist die Entscheidung, in Jerusalem zu leben, eine persönliche Entscheidung. Das ist der Ort, an dem ich aufgewachsen bin und wo ich mich zu Hause fühle. Es ist nicht leicht, es ist sogar überwältigend in Jerusalem zu leben. Dort gibt es so viele Dinge, zum Beispiel die Besatzung – sie ist hier wirklich präsent und spürbar. Dies bedeutet aber auch, dass es viel mehr Interaktion zwischen Palästinenser*innen und Israelis als anderswo gibt. Die Besatzung schafft auch einen fließenden Übergang zwischen den zwei Welten von Ost und West, zwei völlig unterschiedlichen Welten innerhalb derselben Stadt. Aber wenn ich heute die Situation in West-Jerusalem betrachte, ist es auch beängstigend, dort eine Linke zu sein. Deshalb versuchen wir Freiräume zu schaffen und haben kürzlich ein Aktivistenzentrum eingerichtet. Hierfür haben wir natürlich als Erstes eine Brandschutzversicherung erworben: Die Annahme, dass jemand einen Molotow-Cocktail auf das Zentrum werfen könnte, ist nicht unrealistisch. Aber in West-Jerusalem lebe ich tatsächlich in meiner Community, in der ich die auf Angst basierende Mauer des Rassismus durchbrechen will.

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Wie hast du begonnen politisch aktiv zu sein?

Ich glaube, als ich zwölf Jahre alt war, in der Zeit der Zweiten Intifada. Auf der einen Seite explodierten Busse in den Straßen, auf der anderen Seite hörte ich von der Besatzung und wollte mehr darüber erfahren. Mein Vater war damals in einer jüdisch-arabischen Organisation aktiv und so kam ich dazu, Olivenbäume in palästinensischen Gemeinden zu pflanzen, die vom Bau der Mauer betroffen waren. Seitdem fing alles an. Als ich das Alter erreichte, vom Militär rekrutiert zu werden, war mir schon klar, dass ich mich weigern würde, an diesem System teilzunehmen und dafür saß ich auch mehrere Monate im Militärgefängnis.

Gerade als du freigelassen wurdest, fing die große Kampagne gegen Vertreibungen im Ost-Jerusalemer Bezirk Scheich Dscharrah an.

Genau, dort lebten Familien, die zum zweiten Mal ihre Häuser verloren haben. Als Flüchtlinge im Krieg von 1948 erhielten sie damals Häuser von den jordanischen Behörden. In den 2000er Jahren wurden sie jedoch von Siedler*innen wieder evakuiert. Es gab damals eine riesige Kampagne mit Tausenden Teilnehmer*innen aus der israelischen Friedensbewegung. Sie war ein beispielloser Erfolg. Acht Jahre lang gab es keine Evakuierungen von Familien in diesem Bezirk. Von dort aus setzte ich den Aktivismus mit anderen palästinensischen Gemeinden in Ost-Jerusalem fort. Es ging um die Evakuierung von Familien, das Blockieren der Zugangswege in ein Wohngebiet zu verhindern oder ob ein Schulkomitee um Unterstützung bat, damit die Grenzpolizei das Schulgebäude nicht mehr betritt.

In welchen Bereichen bist du sonst aktiv?

In den letzten Jahren beschäftigte ich mich mit der Frage der Militarisierung der israelischen Gesellschaft. Einerseits unterstützte ich Jugendliche im Rekrutierungsalter, die sich entschieden haben, keinen Militärdienst zu leisten. Andererseits geht es in meiner Arbeit hauptsächlich um die israelische Rüstungsindustrie – Israel ist nämlich heute der sechstgrößte Waffenexporteur der Welt. Darauf sollte man wirklich nicht stolz sein.

Und was hat dies mit der Besatzung zu tun?

Aus meiner Perspektive halten sich der Militarismus und die Besatzung gegenseitig am Leben. Zum Beispiel ist Israel dank der Besatzung in der Lage Waffen, die im Konflikt erprobt wurden, als solche mit diesem speziellen Mehrwert zu exportieren. An diesem Beispiel sehen wir natürlich das klare wirtschaftliche Interesse an der Fortsetzung der Besatzung.

Ist es nicht frustrierend, gegen dieses allmächtige System vorzugehen?

Meiner Meinung nach muss jeder aktive Mensch zu einem bestimmten Maß Optimist sein. Teil unserer Aktivitäten ist, den Glauben zu stärken, dass das, was wir tun, etwas verändern kann. Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Besetzung enden wird. Keine Besatzung auf der Welt hielt langfristig und eines Tages wird Israel verstehen müssen, dass es auch das eigene Interesse ist, die Besatzung zu beenden. In der Zwischenzeit denke ich, dass ein großer Teil unserer Arbeit daraus besteht, sicherzustellen, dass die palästinensische Gesellschaft noch lebensfähig bleibt, bis die Besatzung einmal zu Ende geht. Wenn wir ein einziges Haus vor Zerstörung retten oder sicherstellen, dass eine Schule nicht täglich vom Militär angegriffen wird, bringt es nicht unbedingt das Ende der Besatzung näher, es ermöglicht jedoch der palästinensischen Gemeinschaft zu überleben und die Kraft zu haben gegen die Besatzung zu kämpfen.

Und wie möchtest du den Staat Israel in zehn Jahren sehen?

Ich würde eher fragen, wie ich die israelische Gesellschaft in zehn Jahren aussehen lassen möchte. Es ist mir egal, welche Staaten hier sind und wie sie heißen. Mir ist es wichtig, wie die Gesellschaft hier aussieht. Was ich gerne sehen würde, ist eine Gesellschaft, in der alle gleich sind, wenn schon nicht auf der sozialen Ebene, dann zumindest auf der juristischen.

Aber wie siehst du die israelische Gesellschaft realistischerweise in zehn Jahren?

Leider gehe ich davon aus, dass wir in zehn Jahren eine noch gewalttätigere und noch rassistischere Gesellschaft sein werden. Ich schätze, dass ein großer Wendepunkt erst in zwanzig oder dreißig Jahren kommt.

Wie fühlst du dich angesichts der Feierlichkeiten zum 70. israelischen Unabhängigkeitstag?

Meine Verbindung zu dem Ort, an dem ich lebe, kreist nicht um den Staat, die nationalen Symbole, den Unabhängigkeitstag oder die Regierung. Zu all diesen Dingen habe ich eher eine negative Einstellung. Für mich ist die israelische Gesellschaft etwas anderes und in der möchte ich auch Veränderungen sehen und selbst bewirken. Als Tierrechtsaktivistin zum Beispiel bin ich froh, in letzter Zeit eine Welle von Menschen zu beobachten, die vegan werden. Dies ist eine Art Revolution! Es gibt auch viele andere Aspekte, auf die man wirklich stolz sein kann und über die man sagen kann, ich freue mich Teil dieser Gesellschaft zu sein. Hierauf konzentriert sich für mich die Bedeutung eine Aktivistin zu sein – meinen Blick auf die Menschen zu richten, nicht auf die repressiven Institutionen, die zu bekämpfen sind.

Das Interview führte Yossi Bartal

Weiterführende Links:

- DOSSIER: 50 Jahre Besatzung

- 50 Jahre Besatzung – 50 Jahre Widerstand

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Gegen den Strom – was bewegt israelische Aktivistinnen anno 2018?

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