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Das mobile "Büro" von MK Itamar Ben Gvir im Ost-Jerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah, Februar 2022. Foto: ActiveStills

Amt für jüdische Verteidigung: Wenn der Feind zum Verbrecher wird

Der Erfolg der rechtsradikalen Partei Otzma Jehudit (Jüdische Stärke) bei den Knesset-Wahlen 2022, bei denen sie versprach, «Ordnung zu schaffen» und zu zeigen, «wer Herr im Haus ist», beruht auf dem ideologischen Konzept, Angst vor Kriminalität zu schüren und ein Szenario der Bedrohung der persönlichen Sicherheit heraufzubeschwören. Die ideologischen Wurzeln dieses Konzepts gehen auf die frühen Lehren von Meir Kahane zurück, der sie in den 1960er-Jahre entwickelte, als er die Jewish Defense League (Jüdische Verteidigungsliga, JDL) in den USA anführte. Ähnlich der Verquickung von der Angst vor «schwarzer» Kriminalität und der Wut über eine vermeintlich fehlende «Governance» in den USA vermischt die neo-kahanistische Ideologie heute kriminell mit feindlich, um ein Bewusstsein für eine kollektive Opferrolle zu schaffen. Diese wiederum wird zur Rechtfertigung von Gewalt genutzt.

Der Erfolg der Partei Otzma Jehudit bei den jüngsten Knesset-Wahlen und die erfolgreiche Durchsetzung ihrer Ziele im Rahmen der Regierungskoalition deuten auf einen tiefgreifenden Wandel im Konzept der persönlichen Sicherheit in Israel hin. Im Gebiet zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer waren Fragen der persönlichen und der nationalen Sicherheit schon immer miteinander verflochten. Allerdings zeichnet sich jetzt ein Trend im Diskurs ab, in dem die Rhetorik des Strafrechts den nationalen Konflikt verschleiert. Wer heute den prominenten Redner*innen der Rechten zuhört, wird zu dem Schluss kommen, dass Kriminalität, die unser persönliches Sicherheitsgefühl bedroht, das Hauptproblem der israelischen Gesellschaft in Sicherheitsfragen ist. Dieses Problem wird wiederum als Frage der nationalen Sicherheit dargestellt.

Generell ist es üblich und wissenschaftlich anerkannt, dass in Studien zur israelischen Gesellschaft Fragen von Kriminalität und Gewalt, die von palästinensischen Staatsbürger*innen ausgeht, thematisiert und als Motive für politisches Handeln, wie etwa die Beteiligung an Wahlen, untersucht werden. Das ist aber in Bezug auf jüdische Staatsbürger*innen nicht der Fall. Vielmehr wird in Umfragen, wie sie beispielsweise im Auftrag des Israel Democracy Institute durchgeführt werden, um die für israelische Wähler*innen im Allgemeinen zentralen Themen zu ermitteln, nicht zwischen Angst vor Kriminalität und Angst vor Terrorismus unterschieden, sondern nur nach der «Bedrohung durch Terrorismus in Israel» oder nach «Themen der Außen- und Sicherheitspolitik» gefragt.

Wenn es stimmt, dass die Angst vor Kriminellen und die durch sie verursachten Personen- und Sachschäden zu einem zentralen Thema für jüdische Wähler*innen geworden sind – insbesondere nach den gewalttätigen Vorfällen in den jüdisch-palästinensisch gemischten Städten, zu denen es vor dem Hintergrund der Militär-Operation «Wächter der Mauern» im Mai 2021 gekommen ist – dann stellt dies die Kategorien infrage, anhand derer wir es gewohnt sind, über die politische Landschaft und die Faktoren nachzudenken, die für Staatsbürger*innen relevant sind, wenn sie politische Entscheidungen treffen. Ist dies in der Tat ein zentrales Thema? Angesichts des Erfolgs von Otzma Jehudit gibt es gute Gründe zu dieser Annahme. Dass es Itamar Ben-Gvir, dem Parteivorsitzenden, gelungen ist, mit seinen Positionen in die Mitte des politischen Diskurses in Israel vorzudringen, ist natürlich ein komplexes und vielschichtiges Phänomen, das hier nicht umfassend erörtert werden kann. Trotzdem gehört es zu den zentralen Bestandteilen dessen, wofür Ben-Gvir steht, die Bedrohung des persönlichen Sicherheitsgefühls – nicht nur durch Terroranschläge, sondern auch durch kriminelle Handlungen – ganz oben auf die Tagesordnung zu setzen. Ben-Gvir hat offensichtlich ein Bedürfnis in der jüdischen Gesellschaft erkannt, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, und ist darauf eingegangen.

In einem Interview, das Nevo Cohen, der Strategieberater von Otzma Jehudit, der Zeitung The Marker gegeben hat, betonte er wiederholt: «Itamar war derjenige, der das Fehlen der persönlichen Sicherheit ins Rampenlicht gerückt hat. […] In unserer Kampagne haben wir einen Anstieg der Diebstähle und Gewalttaten um Hunderte Prozent nachgewiesen. […] Was mir und der israelischen Öffentlichkeit wichtig ist, sind Sicherheit und Governance.»[1] Im Gegensatz zu den Meinungsforscher*innen des Israel Democracy Institute bezeichnet Cohen die innere Sicherheit sogar als ein «Hauptthema».

Natürlich sind sich alle am Diskurs Beteiligten des mitschwingenden rassistisch-nationalistischen Untertons bewusst. Während im Israel Democracy Institute «Sicherheit» mit «Ausland» verknüpft wird, verbindet es Otzma Jehudit mit «Governance», indem das Problem der Kriminalität in der palästinensischen Gesellschaft und insbesondere unter den Beduin*innen im Negev als ein Problem «mangelnder Governance» verstanden wird.

Nicht ohne Grund hob Cohen diese Agenda in seinem Interview mit The Marker, einer Zeitung, die sich vor allem an die säkulare Mittelschicht wendet, hervor. Die neuen Wähler*innen der religiös-zionistischen Liste, als dessen Mitglied Otzma Jehudit an den Knesset-Wahlen teilnahm, kamen vor allem aus Städten im Zentrum des Landes, deren Einwohner*innen überwiegend der jüdischen Mittelschicht angehören, und gerade nicht aus Gegenden, in denen die vermeintliche Zunahme der Kriminalität stärker spürbar ist, wie zum Beispiel in den palästinensischen Ortschaften oder im Negev. Diese Rhetorik wurde bewusst gewählt, um sich dem Konsens anzunähern, den eigenen Rassismus abzuschwächen und dadurch Wähler*innen anzulocken, die sich nicht als Teil der extremen Rechten verstehen. Die Angst vor Kriminalität ins Zentrum seines Appells an die jüdische Bourgeoisie zu stellen, war für Ben-Gvir nicht nur bequem, sondern offenbar auch sehr effektiv: Wie gesagt scheinen seine Worte auf offene Ohren gestoßen zu sein.

Auf welchen ideologischen Wurzeln basiert die Vermischung von Sicherheits- und Kriminalitätsdiskurs, und welche gesellschaftlichen Umstände führen dazu, dass die Angst vor Kriminalität zu einem zentralen politischen Thema wird? Meiner Meinung nach ist die Entscheidung, Konzepte aus dem Themenbereich der Kriminalität zu nutzen, nicht nur eine Taktik, die darauf abzielt, beim Mainstream Legitimität zu erlangen. Die tieferen Grundlagen dieser Rhetorik finden sich in den Lehren von Rabbiner Meir Kahane, in dessen politischer Schule Ben-Gvir aufwuchs. Für diese Lehren waren die Anfänge Kahanes politischer Biografie grundlegend, die Zeit, bevor er nach Israel auswanderte und in der er in New York die Jewish Defense League gründete. Ebenso wie die spätere «Kach»-Phase (eine von Kahane geführte extrem rechte Organisationen und ehemalige Partei, die seit 1994 als illegale Terrororganisation gilt) liefert diese frühe Zeit den Schlüssel für das Verständnis von Kahanes Sicherheitskonzept – und damit auch für den heutigen «Neo-Kahanismus».[2]

Das frühe Sicherheitskonzept von Meir Kahane

Itamar Ben-Gvirs Wahlerfolg 2022 und sein steigendes Ansehen haben Meir Kahane in den Mittelpunkt des öffentlichen Diskurses gerückt. Aber nur wenige machen sich die Mühe, Kahanes eigene Schriften zu lesen und zu verstehen, wie heutige Vertreter*innen des Kahanismus, die sich von der Last seines Schattens rhetorisch zu befreien suchen, seinen ideologischen Weg fortsetzen. Die Wurzeln des Kahanismus sind nicht in Hebron zu finden, sondern in Brooklyn. Kahane war US-Amerikaner, er liebte die USA und selbst nach seiner Einwanderung nach Israel – im Alter von 39 Jahren, nach umfangreichen politischen und terroristischen Aktivitäten – wollte er sich nicht von seiner ursprünglichen Staatsbürgerschaft trennen.[3] Kahanes politisches Bewusstsein wurde in den 1960er Jahren in New York geprägt und die Ereignisse dieser Zeit beschäftigten ihn bis zu seinem Lebensende.

Kahanes Bücher sind eine Kombination aus Manifest, Anklageschrift und Autobiografie. Für den gegenwärtigen Kontext ist sein Buch aus dem Jahr 1975 besonders interessant, in dem er die Geschichte der von ihm 1968 in New York gegründeten Jewish Defense League erzählt, die den Ausgangspunkt seiner politischen Karriere darstellt.[4] Ziel der League war es, die Sicherheit US-amerikanischer Juden und Jüdinnen zu bewahren, ihnen mehr Würde zu verschaffen und ihre Identität zu stärken, insbesondere vor dem Hintergrund der Spannungen zwischen der jüdischen und der Schwarzen Communities in New York zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung. Kahane bestritt die Notwendigkeit, zwischen Bedrohungen der persönlichen Sicherheit von Juden und Jüdinnen durch ihre Schwarzen Nachbar*innen in den USA in den 1960er Jahren, durch ihre christlichen Nachbar*innen in Europa während der Pogrome und des Holocausts und durch ihre arabischen Nachbar*innen in Israel/Palästina vor dem Hintergrund des nationalen Konflikts zu unterscheiden. Juden  und Jüdinnen müssten all diese Phänomene – ob Kriminalität, Terrorismus oder Konflikt – als Antisemitismus verstehen. Und die von Kahane angebotene Lösung ist Selbsthilfe. So versucht er, Juden und Jüdinnen von Opfern zu Überlebenden zu machen, das heißt, das Opfersein zu einem Teil der jüdischen Identität zu machen und daraus zugleich einen Imperativ des aktiven Widerstands abzuleiten.

Kahane zeigt drei Wege auf, wie sich Juden und Jüdinnen seiner Meinung nach selbst helfen sollten: Provokation, Rechtsstreit und Gewalt. Der Weg der Gewalt – in der Praxis und in der Rhetorik – beschäftigt ihn besonders, da die Überzeugungslast bei der Rechtfertigung von Gewalttaten im Gegensatz zu den ersten beiden Optionen viel höher ist. Kahane versucht nicht zu behaupten, dass die von ihm empfohlenen Strategien gewaltfrei seien; er fordert vielmehr, die Anwendung von Gewalt zu normalisieren und sich nicht mehr dafür zu entschuldigen. So würden ihn Äußerungen, dass er und seine Freunde gewalttätig seien, ermutigen und in seiner Überzeugung von der Gerechtigkeit seines Weges bestärken, während er Behauptungen, dass er ein Rassist sei, als «skandalös» zurückweist.[5]

Nach seiner Einwanderung nach Israel und der Gründung der Kach-Bewegung verschärfte Kahane seine Rhetorik und sprach von Gewalt als einem göttlichen Gebot. Aber auch in späteren Zeiten achtete er weiterhin darauf, die Anwendung von Gewalt mit dem Recht auf Selbstverteidigung zu rechtfertigen. Er verglich sich mit einem Propheten des Zorns Gottes, der sagt: Wenn ihr nicht auf mich hört, werdet ihr vernichtet. Dieses Verständnis von Selbstverteidigung ermöglichte es Kahane, den Schutz des Einzelnen mit dem Schutz der Gemeinschaft zu verbinden und für sie eine gemeinsame Identität zu kreieren, die auf der Notwendigkeit beruht, die Bedingungen für ihr eigenes Überleben zu schaffen.

Zu den von der Jewish Defense League organisierten Aktivitäten gehörten unter anderem bewaffnete Patrouillen und ein Sommerlager für jüdische Jungen, in dem sie in Kampfkunst, im Umgang mit Waffen und in Jüdischen Studien unterrichtet wurden. Dies war im Sommer 1969 in Norden des Bundesstaates New York; während hippe junge Leute das Musikfestival in Woodstock besuchten, bereiteten sich unweit davon entfernt jüdische Jugendliche darauf vor, gegen ihre Angreifer und gegen die Angreifer ihrer jüdischen Nachbar*innen vorzugehen.

Angst vor Kriminalität und Kritik an mangelnder Governance stehen im Zentrum der ursprünglichen kahanistischen Rhetorik. In der «Story», wie sie Kahane erzählt, wird die Gründung der Jewish Defense League zu einer Notwendigkeit, weil die staatlichen Behörden es versäumen, Juden und Jüdinnen vor Gewalt zu schützen. An Kahanes Ärger darüber, dass der Staat die Minderheitengruppe, der er angehört, nicht schützt, ist nichts Außergewöhnliches, wohl aber an den Schlussfolgerungen, die er aus dieser Unterlassung zog. Die Art und Weise, wie die Jewish Defense League den Zusammenhang zwischen Solidarität und Macht verstand, unterscheidet sie von den meisten Protestbewegungen der damaligen Zeit, wie etwa denen der Schwarzen oder queeren Communities, die aus der Opposition zum Staat und seinen Mechanismen der Machtausübung gegen Angehörige dieser Gruppen hervorgingen. Die Black Panthers protestierten nicht gegen einen Mangel an Governance, sondern gegen ein Übermaß an staatlichen Maßnahmen. Sie verteidigten sich gegen hegemoniale Gewalt, sowohl gegen die, die von der Polizei ausging, als auch gegen die von White-Supremacy-Gruppen wie dem Ku-Klux-Klan. Im Gegensatz dazu behauptete Kahane nicht, dass die Polizei gegen Juden und Jüdinnen arbeite; er argumentierte lediglich, dass die Polizei nicht effizient und engagiert genug sei und dass die Geschichte es Juden und Jüdinnen verbiete, den Schutz ihrer Sicherheit jemand anderem als sich selbst zu überlassen.

Kahane verachtete die Eliten, aber aus den drei Wegen der Selbsthilfe richtete er seine Provokation gegen die heuchlerischen Reichen und die Gewalt gegen andere Minderheitengruppen. Für jeden Schritt vorwärts in Richtung Klassenbewusstsein machte Kahane zwei Schritte zurück in Richtung Stammesbewusstsein. Jetzt, wo seine Nachfolger die Polizei in Israel leiten, bestimmt dieses Bewusstsein das gewalttätige Handeln der Staatsmacht.. Wie wir gleich sehen werden, ist nicht damit zu rechnen, dass die Tatsache, dass sie nun die Zügel in der Hand halten, zu einem Rückgang in der Anwendung von Gewalt führen wird. Die Angst vor Kriminalität, die Notwendigkeit, Bedrohungen zu erkennen, gegen die es sich zu verteidigen gilt, und das Verlangen, Governance zu etablieren, schrauben sich in einer endlosen Spirale wechselseitig hoch.

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Wahlbanner der Partei Israelische Jüdische Kraft (Otzma Yehudit) und ihres Vorsitzenden Itamar Ben Gvir mit der hebräischen Aufschrift "Minister für Verteidigung, Negev und Galiläa, Ben Gvir wird hier für Ordnung sorgen", Beersheba, März 2021. Foto: Hazem Bader/AFP via Getty Images

Angst vor Kriminalität und das persönliche Sicherheitsgefühl

In der Zeit, in der Kahane aktiv war, begann sich die Angst vor Kriminalität als primärer Einflussfaktor auf das Wahlverhalten der US-Amerikaner*innen und auf den Grad des Vertrauens, das sie ihren gewählten Amtsträger*innen entgegenbrachten, zu etablieren. Es besteht jedoch nicht unbedingt ein Zusammenhang zwischen tatsächlicher persönlicher Sicherheit und dem Gefühl der persönlichen Sicherheit. Unabhängig von den Daten glauben US-Amerikaner*innen immer, dass die Kriminalitätsrate ansteigt.[6] Das Gefühl der Sicherheit und die Angst, die entsteht, wenn es fehlt, werden durch das Ausmaß der Kriminalität und viele andere Faktoren, beeinflusst, wie zum Beispiel die Szenarien, die wir uns vorstellen, wenn wir Opfer eines Verbrechens werden, die Art der Straftaten, die uns als konkrete Bedrohung erscheinen, und die Charaktereigenschaften der mutmaßlichen Kriminellen. Die Kluft zwischen dem Ausmaß der Kriminalität (das schwer zu messen ist) und der Wahrnehmung von Kriminalität (die leicht zu manipulieren ist) wird durch geografische und demografische Faktoren beeinflusst. Aus dieser Perspektive betrachtet wird deutlich, dass Ausmaß und Ort der tatsächlichen Bedrohung einerseits und die aus der Angst davor entstandenen politischen Gewinne andererseits nur teilweise zusammenfallen. Mit anderen Worten: Die politischen Folgen der Angst vor Kriminalität zeigen sich nicht notwendigerweise dort, wo die Kriminalität tatsächlich spürbar ist, sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene.

Um diese Kluft zu kaschieren, bedienen sich vor allem rechte Politiker*innen und Kommentator*innen einer Rhetorik, die fehlende Governance, oder, wie es im US-amerikanischen Diskurs heißt: den Mangel an Law and Order (Recht und Gesetz) in den Mittelpunkt stellt. Bei den Gebieten, über die solche Behauptungen erhoben werden, handelt es sich zumeist um innenstädtische Viertel in Großstädten, in denen hauptsächlich ethnische Minderheiten, Schwarze und Hispanoamerikaner*innen leben. Es wird behauptet, dass das Ausmaß der Gewalt in diesen Vierteln so hoch sei, dass die Autorität des Staats zunichtegemacht und die akzeptierte Moral durch kriminelle Gewalt ersetzt werde. Die naheliegende Schlussfolgerung ist, dass geklärt werden muss, «wer Herr im Haus ist» und wem das Gewaltmonopol zusteht. Die Adressat*innen dieser Botschaft und der entsprechenden Politik, die die dafür erforderlichen Ressourcen umlenkt, sind jedoch nicht diejenigen, die in diesen Vierteln oder nicht einmal in diesen Städten leben, sondern vielmehr Menschen, die in Vororten und abgelegenen Gegenden (auf nationaler Ebene) oder in relativ etablierten Vierteln (auf lokaler Ebene) wohnen. Diese Menschen haben nur wenige Berührungspunkte mit den Risikogebieten, aber das Risiko nimmt in ihrem politischen Bewusstsein einen überhöhten Stellenwert ein. Die politische Stimme dieser Gruppe findet nicht nur aufgrund des sozialen Kapitals, über das sie verfügt, Widerhall, sondern auch aufgrund ihres relativen politischen Kapitals und der Art und Weise, wie die Wahlbezirke in den USA zugeschnitten sind. Die politische Erfahrung in den USA zeigt, dass die wirkungsvollsten und konsensfähigsten politischen Botschaften Tough-on-Crime-Botschaften sind, die ein hartes Vorgehen gegen kriminelle Elemente propagieren.[7] Solche Botschaften wirken auch in Bevölkerungsgruppen, die sich als liberal bezeichnen. Trotz der katastrophalen gesellschaftlichen Folgen werden die Mechanismen der Machtausübung, die diese Position rechtfertigt, nicht als etwas gesehen, das dem Bekenntnis zu den Menschenrechten widerspricht.[8]

Die israelische Denkweise im Umgang mit Kriminalität ist stark von den in den USA entwickelten Strukturen beeinflusst. In Fach- und Wissenschaftskreisen ist in den letzten Jahren jedoch auch ein kritischer Ansatz hinzugekommen, dem zufolge in dem US-amerikanischen Beispiel kein Vorbild, sondern zunehmend ein Warnsignal gesehen wird.[9] Nicht so in den rechten politischen Kreisen. Im juristischen Kontext blicken die Wortführer*innen der Rechten vor allem auf die 1980er Jahre – eine Zeit, in der die Law-and-Order-Politik und der Rechtskonservatismus Gestalt annahmen und seitdem den US-amerikanische Diskurs dominieren. Daher ist es nicht überraschend, dass sich die israelische Rechte einen Tough-on-Crime-Ansatz zu eigen gemacht hat, der gut zu einer anderen wichtigen Agenda passt, die man von den USA gelernt hat: Kritik am liberalen Justizsystem, welcher einen weiteren Schauplatz «fehlender Governance» darstellt.

Angst vor Kriminalität ist ein zugkräftiges Thema, weil sie universell zu sein scheint. Die US-amerikanische Erfahrung lehrt weiterhin, dass sich zur Bekämpfung der großen sozialen Probleme immer dann die meisten materiellen und rechtlichen Ressourcen mobilisieren lassen, wenn die Probleme als Fragen der nationalen Sicherheit dargestellt werden. Das gilt sogar für das Problem des Klimawandels.

Ein solches Verständnis des Problems der Kriminalität in städtischen Gebieten trug in den USA zur Militarisierung der Polizei und deren Behandlung bestimmter Stadtviertel als Kriegsgebiete bei. Im israelischen Kontext ist es noch zu früh, um zu sagen, welche Konsequenzen die Befugnisse haben werden, die Ben-Gvir als Minister für «Nationale Sicherheit», wie er sein Amt nannte, erhalten hat; aber es scheint, dass wir auf einem ähnlichen Weg sind. Die zunehmende Angst vor der Erschütterung des persönlichen Sicherheitsgefühls signalisiert, wohin sich Ben-Gvir wenden wird, um seiner Politik öffentliche Legitimität zu verleihen (eine Legitimität, die das liberale Lager dazu aufrufen sollte, kritisch über den automatischen Rückgriff auf staatliche Gewalt als Lösung für zwischenmenschliche Gewalt nachzudenken). Ausgerechnet in einer Zeit, in der die Arbeit der Polizei und der Strafverfolgungsbehörden in den USA beispielloser Kritik ausgesetzt sind – vonseiten der US-amerikanischen Öffentlichkeit, des Forschungskonsenses und der internationalen Gemeinschaft –, lässt sich Otzma Jehudit von eben dieser Politik inspirieren.

Neo-kahanistische Governance

Die konzeptionelle Grundlage für die neo-kahanistische Nutzbarmachung der Angst vor Kriminalität wird angesichts der spezifischen/einzigartigen Synthese deutlich, die Kahane zu Beginn seiner Karriere aus dem konservativen Law-and-Order-Diskurs, dem Diskurs der auf Identität basierenden Ermächtigung und dem von der gesamten US-amerikanischen Gesellschaft getragenen Diskurs der Selbstverteidigung konstruierte. Es mag ihn amüsiert haben, dass man ihn den «jüdischen Panther» nannte, aber gleichzeitig schlug er aus dem Bild des Schwarzen Mannes als Gefahrenquelle viel politisches Kapital und erkannte indirekt sogar an, dass es auf die psychologische Wirkung dieses Bildes und nicht auf die Realität dahinter ankommt: «Die Panthers waren das Symbol des mörderischen und gefährlichen schwarzen Antisemiten, der Juden Angst einjagt. Es ähnelt der Art und Weise, wie polnische Juden die starken, gesund aussehenden Nazis als übermenschliche Wesen betrachteten, die man meiden sollte, da sie nicht bekämpft werden konnten. Wir waren entschlossen, dieser psychologischen Angst ein Ende zu setzen.»[10]

Kahane verglich die Schwarzen nicht nur mit den Nazis, sondern sprach oft über eine umgekehrte Korrelation zwischen jüdischer Macht und einem weiteren Holocaust. Kahane wollte jeden Juden bewaffnen, insbesondere wenn er in der Nähe von ethnischen Minderheiten lebt, und ihm den Umgang mit Waffen beibringen, damit er nicht «wie ein Schaf zur Schlachtbank» ginge. In diesem Sinne schloss er sich anderen Gruppen US-amerikanischer Juden an, die Kahanes «Waffenkultur» mit der Begründung annahmen, dass die massenhafte Verteilung von Waffen die einzige Möglichkeit sei, eine Wiederholung von Auschwitz zu verhindern. Auch in dieser Hinsicht war Kahane, trotz der Verankerung der Bewaffnung, die er in Zeev Jabotinskys Schriften fand, gut in den lokalen historischen Kontext integriert. Erst in den 1960er Jahren begann man, die US-amerikanische «Waffenkultur» auf das Recht des Einzelnen, sich gegen Bedrohung durch andere Bürger zu verteidigen, auszurichten, und die Ausübung dieses Rechts wurde zu einem konstituierenden Element der Identität des US-amerikanischen Bürgers. (Ironischerweise waren die Black Panthers Pioniere in der Interpretation des zweiten Verfassungszusatzes, der dem bzw. der Einzelnen das Recht einräumt, Waffen zu Selbstverteidigungszwecken zu tragen, obwohl sie, wie bereits erwähnt, ihnen Anspruch, Waffen zu tragen, eher mit der Polzeigewalt begründeten.) Kahane befürwortete zu dieser Zeit und aus ähnlichen Gründen die «Waffenkultur» und brachte Kritik zum Ausdruck, wie sie später auch von US-amerikanischen Waffenbefürwortern nach den Anschlägen vom 11. September 2001 vorgebracht wurden:[11] Kahane beklagte sich darüber, dass die Waffen von Juden, die ein Flugzeug für den Fall, dass Terrorist*innen an Bord wären, bewaffnet besteigen wollten, konfisziert wurden.

Obwohl Kahane liberalen Juden vorwarf, dass sie sich an eine fremde Kultur assimilieren würden, machte er sich selbst eine Kultur zu eigen, die süchtig nach zwischenmenschlicher Gewalt ist und in der Abwehr ebenjener Gewalt eine erstklassige Ressource zur politischen Identitätsbildung sieht, nämlich die US-amerikanische Kultur. Der Einsatz von Gewalt, insbesondere von Schusswaffen, würde das Bild «des Juden» – vor allem in seiner Selbstwahrnehmung – verändern, von schwach und unterwürfig zu mutig und stolz. Mitunter stützte sich Kahane auf die jüdische Tradition zur Begründung seiner Ansicht, etwa dass das Konzept der «Liebe zu Israel» den Einsatz von Gewalt rechtfertige, um die «jüdische Freiheit» zu bewahren; ein anderes Male konstatierte er, dass Gewalt dem jüdischen Ethos fremd sei, und forderte nicht ein Festhalten an dieser Tradition, sondern einen Bruch, indem er seinen jüdischen Leser*innen empfahl: «Junge Männer und Frauen, lernt schießen. Nehmt begierig diese Kunst von den Nicht-Juden auf, die sie hervorragend beherrschen.»[12] Gewalt war für Kahane vielleicht nur eine Ausnahme von der Regel, dass Assimilation abzulehnen sei, aber in seiner gesamten Lehre geht es darum, diese Ausnahme zu rechtfertigen.

Der neo-kahanistische Diskurs über Kriminalität stellt eine Kombination aus dem Phänomen der Amerikanisierung der politischen Kultur Israels und der Realität des israelischen Staates dar, der sowohl Israel innerhalb der Grünen Linie als auch die besetzten palästinensischen Gebiete beherrscht. Diese Realität ist das Ergebnis der langjährigen Politik des ultimativen Vertreters der Amerikanisierung in Israel, Benjamin Netanjahu, deren Hauptziel nicht darin besteht, den israelisch-palästinensischen Konflikt zu lösen, sondern ihn zu «managen». Diesbezüglich war die Lapid-Bennett-Regierung Netanjahus größter Sieg, da sie die tatsächliche Akzeptanz dieser Politik im gesamten zionistischen politischen Spektrum zum Ausdruck brachte. Die fehlende Bereitschaft zu ideologischen Kompromissen wird auch von Netanjahus derzeitigen Koalitionspartnern geteilt, die an der Spitze der Strömung stehen, die darauf drängt, eine «Entscheidung» herbeizuführen. Der Umgang mit der Angst vor Terroranschlägen muss sich an dieses politische Klima anpassen, in dem Kompromisse für schlimmer gehalten werden als Stagnation. Es macht keinen Sinn, über Terrorismus zu sprechen, der in einem nationalen Konflikt (und in diesem konkreten Kontext: in der Situation einer Besatzung) auftritt, wenn kein Interesse an einer nachhaltigen politischen Lösung besteht. Daher muss das Opferbewusstsein der kahanistischen Logik zufolge so gestaltet werden, dass der Konflikt zwischen den beiden nationalen Bestrebungen geleugnet und die potenzielle Opferrolle stattdessen als eine existenzielle Situation, in der sich jeder Jude und jede Jüdin befindet, gesehen wird.

Wie Raef Zreik schrieb: «Der nationalistische Diskurs, der derzeit entsteht, ist ein Versuch, mit der Notwendigkeit umzugehen, die beiden im selben territorialen Rahmen vermischten Bevölkerungsgruppen zu trennen. […] Die sich entwickelnde Trennung, die durch das [Nationalstaatsgesetz von 2018] inspiriert wird, ist keine Trennung zwischen ‹hier› und ‹dort›, sondern zwischen ‹uns› und ‹ihnen› – zwischen den Juden und den Palästinensern, unabhängig von ihrem Wohnort.»[13] In dieser Atmosphäre gab die Angst vor «mangelnder Governance» den Anstoß für Forderungen, Gewalt gegen Palästinenser*innen anzuwenden, wo immer sie sich aufhalten, und dies umso mehr nach den Ereignissen im Mai 2021, die dazu führten, dass sich das nationalistische Verständnis der persönlichen Sicherheit in der breiten Öffentlichkeit durchsetzte. Die Militarisierung der Polizei beziehungsweise der Einsatz der Armee anstelle der Polizei in Notfällen erzeugt ein ironisches Spiegelbild zwischen den besetzten Gebieten und den gemischten jüdisch-palästinensischen Städten: In den besetzten Gebieten führt die Armee Polizeieinsätze durch, und in den gemischten Städten muss die Polizei, laut Knesset-Mitglied Bezalel Smotrich, einen «Krieg» gegen «den arabischen Feind» führen. Der Feind wird zum Verbrecher; der Verbrecher wird zum Feind.

Wie die Koalition der US-amerikanischen Rechten sieht die derzeitige rechte Regierungskoalition in Israel eine Synergie zwischen einer starken Polizei, regionalen Milizen und dem persönlichen Tragen von Waffen. Jedes für sich und beides zusammengenommen verstärken dieses Regime und die Vorstellung, dass Angst vor Terroranschlägen nun Angst vor Kriminalität sei. Der Begriff «Terror» passt sich dieser Realität an, wenn er aus Sicht vieler Israelis ein breites Spektrum gewaltfreier Handlungen umfasst – «Agrarterrorismus», «Wirtschaftsterrorismus», «diplomatischer Terrorismus» und dergleichen. Gemeinsam haben all diese, dass sie das Gefühl der ethno-nationalen Stärke in irgendeiner Weise erschüttern. Es ist der Feind und nicht der Frieden, der aus unserem Innern kommt.

 Dies ist die leicht gekürzte Fassung des gleichnamigen Textes, der erstmals Februar 2023  unter: https://hazmanhazeh.org.il/neo-kahanism/ (Magazin HaZman Hazeh) erschienen ist.                                                                                    

Aus dem Hebräischen übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin.

Anmerkungen

[1] Governance, heb. «meshilut», bezieht sich in diesem Zusammenhang insbesondere auf mangelnde staatliche Gegenmaßnahmen, wird also im Sinne von staatlichem Handeln, insbesondere der Exekutive, aber auch der Legislative und der Judikative, gebraucht.

[2] Ich übernehme diesen Begriff von Shaul Magid, der ihn verwendet, um die Analyse der Entwicklung der ursprünglichen Lehre Kahanes, die im Wesentlichen US-amerikanisch war und dann in Israel aufgenommen wurde, zu verfeinern. Magid, Shaul/Kahane, Meir: The Public Life and Political Thought of an American Jewish Radical, Princeton/Oxford 2021.

[3] Kahane, Meir: The Ideology of Kach. The Authentic Jewish Idea, Charleston 2012, S. 6.

[4] Kahane, Meir: The Story of the Jewish Defense League, Radnor 1975.

[5] Kahane: The Ideology of Kach, S. 7; Magid/Kahane: The Public Life and, S. 79. Eine der Forderungen von Otzma Jehudit in den Koalitionsverhandlungen war die Aufhebung von Artikel 7a (2) des Basic Law: The Knesset, der es jeder Person, der zu Rassismus aufhetzt, verbietet, bei Wahlen zu kandidieren. Aufgrund einer früheren Fassung dieser Regelung wurde die Kach-Liste in der Vergangenheit disqualifiziert und die Behauptung, die Regelung sei verfassungswidrig, wurde zurückgewiesen (Elections Appeal 1/88 Neiman v. Chairman of the Central Elections Committee for the 12th Knesset 42(4) PD 177 [1988]). Diese Position steht im Widerspruch zu Kahanes Ausführungen in seinen Schriften. Er war bereit, über die Grenzen der Definition von Rassismus zu diskutieren, aber nicht über dessen grundsätzliche Unzulässigkeit.

[6] Vgl. die Ergebnisse der Gallup-Umfrage unter: https://news.gallup.com/poll/1603/crime.aspx.

[7] Simon, Jonathan: Governing Through Crime: How the War on Crime Transformed American Democracy and Created a Culture of Fear, Oxford 2007.

[8] Murakawa, Naomi: The First Civil Right: How Liberals Built Prison America, Oxford 2014.

[9] Aviram, Hadar: Bad Role Models? American Influence on Israeli Criminal Justice Policy, in: University of Miami International and Comparative Law Review 28(2), 2021, S. 344 ff.

[10] Kahane, The Story of the Jewish Defense League, S. 202.

[11] Barnett, Randy E.: Saved by the Militia: Arming an Army Against Terrorism, reason.com, 9.11.2021, unter: https://reason.com/volokh/2021/09/11/saved-by-the-militia-arming-an-army-against-terrorism/.

[12] Kahane: The Story of the Jewish Defense League, S. 133.

[13] Zreik, Raef, The Israeli right’s new vision of Jewish political supremacy, +972, October 27, 2020.

Autor:in

Dr. Rafi Reznik ist Research Fellow der Polonsky Academy, The Van Leer Jerusalem Institute.