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Kampf gegen Corona: Netanjahu rettet sich selbst, nicht die Demokratie

Das Vorgehen von Premierminister Netanjahu in der Corona-Krise hat die demokratischen Prozesse und Institutionen Israels weiter beschädigt. Auch sozial Schwache zahlen einen hohen Preis für den Machterhalt des politischen Überlebenskünstlers.

In Israel herrscht Ausnahmezustand – und das schon seit der Staatsgründung 1948. Auch viele israelische Staatsbürger*innen werden daher überrascht sein, dass der im März verhängte Ausnahmezustand nicht unbedingt mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie zusammenhängt, sondern von der Knesset schon in der Vergangenheit immer wieder verlängert wurde. Dadurch ist die Regierung befugt, Notstandsverordnungen zu erlassen, ohne dass die Zustimmung der Knesset erforderlich ist. Angesichts der Tatsache, dass sich Israel bereits seit April 2019 in einem politischen Chaos befand, war der Ausbruch der Pandemie eine Sternstunde für die Übergangsregierung – einer Regierung, deren Hauptkriterium für die Ernennung ihrer Mitglieder deren absolute Loyalität gegenüber dem seit zehn Jahren amtierenden Premierminister, Benjamin Netanjahu, war.

Der März 2020 war ein Monat großer Turbulenzen in Israel. Innerhalb eines Monats nach dem weltweiten Ausbruch der Pandemie wurden 5.500 mit COVID-19 infizierte Menschen in Israel registriert – eine ernstzunehmende Anzahl, aber deutlich weniger als in vielen anderen Ländern. Im Rahmen der Notstandsverordnungen erließ das israelische Gesundheitsministerium Maßnahmen, die die Ausbreitung des Virus verhindern sollten, einschließlich Quarantäne von Menschen, die mit Covid-19 Infizierten Kontakt hatten oder aus Ländern mit einer hohen Infektionsrate einreisten, sowie ein Verbot von Großveranstaltungen. Im Laufe des Monats wurden die Anordnungen erweitert und am Ende war es verboten, sich mehr als 100 Meter vom eigenen Wohnhaus zu entfernen, und auch dieser Zugang zum öffentlichen Raum war nur für bestimmte Zwecke gestattet.

Darüber hinaus wurde der Umfang des öffentlichen Verkehrs auf ein Viertel reduziert, der Personenzugverkehr eingestellt und die Anzahl der Passagiere in Taxis begrenzt. Arbeitgeber*innen wurden verpflichtet, die Körpertemperatur aller Beschäftigten zu messen und Personen mit Fieber über 38 Grad den Zutritt zum Arbeitsplatz zu verbieten. Mit großer Verzögerung gaben die israelischen Oberrabbiner bekannt, dass auch die Synagogen zu schließen sind. Gleichzeitig wurden Polizist*innen eingesetzt, um die Verordnungen mittels Aufklärung, Verwarnungen und Bußgeldern im öffentlichen Raum durchzusetzen.

In schlechter Verfassung

Insofern scheinen sich die Maßnahmen in Israel kaum von denen in anderen demokratischen Ländern zu unterscheiden, und die meisten Menschen würden wohl kaum ihre Notwendigkeit oder gar Nützlichkeit infrage stellen. Aber die Corona-Pandemie brach über Israel zu einer Zeit herein, als es sich in einer schweren Verfassungskrise befand, in der der nicht gewählte Premierminister fast uneingeschränkt agierte, Minister*innen nach Belieben ernannte und darauf verzichtete, das Kabinett einzuberufen.

Die Notstandsverordnungen stehen somit für eine weitere Farbabstufung in der Grauzone, die es politischen Entscheidungsträgern ermöglicht, Ausnahmeregelungen dafür zu nutzen, um den im letzten Jahrzehnt begonnenen Prozess der Zersetzung der Demokratie, der persönlichen Freiheit und der Gleichheit voranzutreiben und die Kluft zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Israel noch zu vergrößern. Das politische Drama, das sich in Israel seit April 2019 abspielt, erhielt so unerwartet ein passendes griechisches Ende: ein Deus ex Machina in Form des Ausbruchs einer tödlichen Virus-Pandemie.

Wahlen in Notstandszeiten

Am 2. März 2020 fanden in Israel zum dritten Mal kurz hintereinander Wahlen statt, nach denen keine Regierung gebildet werden konnte. Das Wahlergebnis: eine knappe Mehrheit für die Oppositionsparteien, das heißt die Zentrumspartei Blau-Weiß von Benny Gantz, die 2019 als Alternative zu Netanjahu gegründet wurde; die Parteien der zionistischen Linken, die Arbeitspartei und Meretz, die im letzten Jahr mit Zusammenschlüssen und Spaltungen beschäftigt waren, aber nun weitere Wählerstimmen verloren haben; Jisrael Beitenu («Israel ist unser Zuhause»), eine Partei, die von Avigdor Lieberman angeführt wird, dessen Bruch mit Netanjahu (der im Grunde sein natürlicher ideologischer Verbündeter ist) der Auslöser für die parlamentarische Instabilität des letzten Jahres war; sowie die Gemeinsame Liste, die mit 15 Mandaten die drittgrößte Fraktion in der Knesset wurde und damit zu Recht bei der Koalitionsbildung gegen Netanjahu nicht ignoriert werden konnte. So entstand ein parlamentarischer Block, dessen einziger gemeinsamer Nenner der Wunsch war, Netanjahu als Premierminister abzusetzen. Für eine Weile schien dies genug Motivation zu sein, um die ideologischen Differenzen zwischen den am Block beteiligten Parteien zu überbrücken. Aber bald tauchten Meinungsverschiedenheiten innerhalb von Blau-Weiß auf. Einige ihrer Mitglieder weigerten sich, mit den arabischen Parteien in der Gemeinsamen Liste, die sie als «Terrorismus-Unterstützer» bezeichneten, eine Regierung zu bilden, während andere es ablehnten, mit Netanjahu in einer «Regierung der nationalen Einheit» zu sitzen. Der Vorsitzende von Blau-Weiß versuchte, zwischen den beiden Polen zu jonglieren, und entschied sich dann, einer von Netanjahu geführten Regierung beizutreten, was zur Spaltung von Blau-Weiß führte.

Bis heute gibt es keine wirkliche Erklärung für die Entscheidung des Parteichefs von Blau-Weiß, die bei seinen Wähler*innen und den anderen Oppositionsparteien Unverständnis und Verbitterung auslöste. Es war eine empörende Entscheidung eines einzelnen Menschen, der – obwohl ein General und Verfechter politisch rechter Positionen – für einen Moment die Hoffnungen der besiegten israelischen Linken repräsentierte. Gantz‘ umstrittener Schritt zeigt sehr deutlich die tiefen Risse in der israelischen Gesellschaft, den tief sitzenden Rassismus und die unzähligen Mängel im demokratischen System, die sich in den letzten zehn Jahren verschlimmert haben. Zweifellos hat jedoch der weltweite Ausbruch der Corona-Pandemie den Weg dafür geebnet, dass Gantz, nachdem er sich ein Jahr lang hartnäckig geweigert hatte, Netanjahus Regierung beizutreten, kapitulierte.

Abbau der Demokratie

Netanjahu hat schon immer Bedrohungen von außen dazu genutzt, um politischen Druck auf die israelische Öffentlichkeit auszuüben. So wurde auch die Corona-Pandemie zu einem weiteren Instrument in Netanjahus Taktik der existenziellen Panikmache, die ihn an der Macht hält. Sein Hauptargument war, dass er – der Premierminister mit zehn Jahren Erfahrung – in Notstands- und Krisenzeiten (die er stets in regelmäßigen Abständen zum Teil selbst erzeugt) der einzige geeignete Kandidat sei, um die Regierung zu leiten.

Einige Tage vor der Vereidigung der neugewählten Knesset, zu einer Zeit, als die Anzahl der mit COVID-19 Infizierten weiter stieg und die Notstandsmaßnahmen verschärft wurden, beantragten die Oppositionsfraktionen bei dem scheidenden Parlamentsvorsitzenden Juli Edelstein (Likud-Mitglied und Netanjahus Getreuer), eine Debatte über die Wahl eines neuen Parlamentsvorsitzenden anzusetzen. Edelstein weigerte sich unter Verweis auf die Verordnungen zu Bekämpfung der Corona-Pandemie mehr als zwei Wochen lang, die damit betrauten Knesset-Ausschüsse einzuberufen, ehe der Oberste Gerichtshof ihn schließlich zur Einberufung des Plenums zwang.

Zur gleichen Zeit erweiterte Justizminister Amir Ohana, einer von Netanjahus Getreuen, seine Befugnisse. Einige Tage vor der geplanten Eröffnung des Prozesses gegen Netanjahu wegen Korruption erließ der Minister eine Verordnung, mit der er die Gerichte anwies, aufgrund der Corona-Pandemie und des damit einhergehenden Versammlungsverbots, ihre Arbeit auszusetzen. Infolgedessen wurde die Eröffnung des Prozesses gegen Netanjahu verschoben.

Ausweitung des Überwachungsstaats

Auch das Gesundheitsministerium unter der Leitung von Yaakov Litzman, einem weiteren Anhänger Netanjahus, blieb nicht tatenlos und beauftragte den Chef des israelischen Inlandsgemeindiensts, alle ihm zur Verfügung stehenden technischen Mittel einzusetzen, um mit dem Corona-Virus infizierte Menschen zu identifizieren. Netanjahu wandte sich an das zuständige Knesset-Komitee, das solche außergewöhnlichen Maßnahmen zu genehmigen und zu überwachen hat. Dieses weigerte sich, sofort zuzustimmen, und forderte Sicherheitsvorkehrungen, um die Privatsphäre der betroffenen Menschen zu wahren und einen Missbrauch der Daten zu verhindern. Daraufhin unterzeichnete der Premierminister eine Notstandsverordnung, die die Regierung ermächtigt, die Handys der mit dem Virus infizierten Menschen zu überwachen und all ihre Bewegungen nachzuverfolgen.

Diese Verordnung enthüllte ein noch schwerwiegenderes Problem: So wurde aufgedeckt, dass der Inlandsgemeindienst seit Längerem alle Menschen in Israel überwacht und Daten über all ihre Telefonanrufe, gesendeten und empfangenen Nachrichten, die von ihnen besuchte Webseiten und ihre Aufenthaltsorte speichert. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit privaten Mobilfunkunternehmen, die seit 2002 gesetzlich dazu verpflichtet sind, diese Daten an den israelischen Inlandsgemeindienst zu übermitteln. Im März 2020, im Zuge der Corona-Krise, durfte der Inlandsgeheimdienst zum ersten Mal diese Datenbank in großem Umfang für zivile Zwecke und nicht nur im Rahmen der Terrorismusbekämpfung nutzen, was in der Vergangenheit mehrmals vom Obersten Gerichtshof abgelehnt worden war.

Ausnahmen für Ultraorthodoxe

Eine weitere Kritik am Gesundheitsministerium betrifft Mängel bei der Durchsetzung der Notstandsverordnungen innerhalb der religiösen jüdischen Bevölkerung. Bereits vor der Corona-Krise stand Gesundheitsminister Litzman, Knesset-Abgeordneter der jüdisch-orthodoxen Partei Agudat Jisrael, unter dem Vorwurf, er lasse «seinen Leuten» mit der Unterstützung von Netanjahu – dessen Herrschaft von den ultraorthodoxen Wählerstimmen abhängt – eine bevorzugte Behandlung zukommen. Zu Beginn der Pandemie hatte sich Litzman gegen einen Lockdown in den ultraorthodoxen Ortschaften und Stadtteilen ausgesprochen, obwohl diese eine sehr hoher Bevölkerungsdichte aufweisen. Ferner hatte er verfügt, die auferlegten Beschränkungen sollten nicht für Gebete im Minjan (an dem mindestens zehn jüdische Männer teilnehmen müssen) gelten, sodass Synagogen sowie Mikwes (rituelle Bäder) auch nach dem Lockdown weiterhin geöffnet blieben.

Anfang April wurde bekannt, dass die ultraorthodoxe Stadt Bnei Brak, in der durchschnittlich 4,2 Personen in einem Haushalt leben (der höchste Wert unter den großen und mittelgroßen Städten des Landes) und in der es aufgrund der Intervention von Litzman wohl zu einer einwöchigen Verzögerung bei der polizeilichen und behördlichen Durchsetzung der Anweisungen des Gesundheitsministeriums gekommen war, unter einem schweren Ausbruch von COVID-19 leidet. Daraufhin ordnete die Regierung an, die Stadt abzuriegeln und sie zu einer «Ausnahmezone» mit erweiterten Auflagen zu erklären. Ähnlich erging es einer Reihe von ultraorthodoxen Stadtvierteln in Jerusalem, die von einem schweren Ausbruch von COVID-19 betroffen waren. Mit zwei Wochen Verspätung wurden auch gehäufte Infektionen in einigen arabischen Ortschaften im Norden Israels entdeckt. Auch hier galten besonders strenge Ausgangssperren. Dies waren die einzigen Städte oder Ortschaften, die auf dem Höhepunkt der Krisenmonate abgeriegelt wurden.

Krisenwirtschaft

Wie in anderen Ländern hat auch in Israel die Corona-Pandemie eine große Wirtschaftskrise verursacht, deren Auswirkungen noch nicht absehbar sind: Ungefähr einen Monat nach Ausbruch der Pandemie in Israel wurden fast eine Million Arbeitslose registriert, von denen 90 Prozent von ihren Arbeitgeber*innen in unbezahlten Urlaub geschickt worden waren. Innerhalb eines Monats stieg die Arbeitslosenquote von vier auf 25 Prozent. Allerdings unternimmt die israelische Regierung keine besonderen Anstrengungen, um die wirtschaftliche Zukunft der Bevölkerung zu sichern. Während westliche Länder, einschließlich eindeutig konservativ orientierter wie die USA und Großbritannien, wirtschaftliche Rettungspakete in Höhe von bis zu zehn Prozent des Bruttoinlandprodukts aufgelegt haben, halten das israelische Finanzministerium und die führenden Politiker*innen an einer strikten «Haushaltsdisziplin» und der «Aufrechterhaltung eines geringen Defizits» fest, obwohl sofortige Investitionen in alle Bereiche der israelischen Gesellschaft und Wirtschaft dringend erforderlich sind.

Angesichts der Krise präsentierte Netanjahu, der selbst einmal Finanzminister war, einen «Hilfsplan», der die israelische Wirtschaft mit 80 Milliarden Schekel (ca. 20 Milliarden Euro) unterstützen soll. Bei genauerer Betrachtung stellt sich jedoch nicht nur heraus, dass die angegebene Summe irreführend und der wirkliche Betrag viel geringer ist, sondern auch, dass das Programm in erster Linie darauf ausgerichtet ist, neoliberalen Interessen zu dienen: Anstelle eines sozialen Sicherheitsnetzes für Arbeitnehmer*innen und unter Armut leidende Menschen hat die Regierung ein Sicherheitsnetz für Arbeitgeber*innen und Banken eingerichtet. Die Hilfe für Selbstständige besteht hauptsächlich darin, ihnen einen Aufschub bei der Zahlung der Einkommens- und Grundsteuer zu gewähren sowie staatliche Bürgschaften für von Banken zu vergebende Darlehen (die zurückzuzahlen sind) – und dies im Gesamtwert von zirka 30 bis 40 Milliarden Schekel, das heißt fast der Hälfte des Hilfspakets.

Tatsächlich scheint das Hilfsprogramm nur darauf ausgerichtet zu sein sicherzustellen, dass sich die von der Netanjahu vorangetriebene Entwicklung der letzten zehn Jahre fortsetzt. Es geht darum, die Starken weiter zu stärken und die Schwachen weiter zu schwächen. Da es sich bei einem Großteil der Unterstützung um Geschäftskredite handelt, ist unklar, wer diese überhaupt in Anspruch nehmen kann, angesichts der Ungewissheit in Bezug auf die eigene Fähigkeit, diese zurückzuzahlen. Hunderttausende nun erwerbslose Menschen werden auf Arbeitslosenunterstützung angewiesen sein, die im Vergleich zu westlichen Ländern sehr minimal ist. Ein Teil derjenigen, die ihre Arbeit verloren haben, hat überhaupt keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung, weil sie die Bedingungen nicht erfüllen. Arbeitnehmer*innen, die in unbezahlten Urlaub geschickt wurden, wird diese Zeit nicht für ihre Sozialversicherungsansprüche, einschließlich der Rentenversicherung, angerechnet. Und Zehntausende von Freiberufler*innen und Selbstständigen, die die enggefassten Kriterien für staatliche Entschädigung nicht erfüllen, erhalten lediglich eine begrenzte Unterstützung, die weit hinter den entsprechenden staatlichen Hilfen in anderen Industrieländern zurückbleibt.

Soziale (Un-)Gerechtigkeit

Krisen haben die Eigenschaft, die an den Rand der Gesellschaft gedrängten Menschen noch weiter in Richtung Abgrund zu stoßen. Darüber hinaus sind alle sozialen Leistungen, einschließlich der in der Krise bereitgestellten staatlichen Unterstützung, an das Kriterium Staatsbürgerschaft oder einen festen Aufenthaltsstatus geknüpft. Mithin sind die vom System der öffentlichen Unterstützung Ausgeschlossenen in erster Linie «Ausländer*innen», insbesondere Migrant*innen ohne Aufenthaltsgenehmigung, Asylsuchende und palästinensische Arbeiter*innen aus den besetzten Gebieten, die aufgrund von Genehmigungen der israelischen Armee in Israel beschäftigt waren und im Zuge des Lockdowns plötzlich ihren Lebensunterhalt verloren haben.

Die Situation der in Israel lebenden Asylsuchenden, die schon zuvor unter ihrer unsicheren sozialen and ökonomischen Lage und fehlenden Rechten litten, war unter dem Lockdown eine besonders schwierige. Da sie nicht mehr zu Arbeit gehen konnten, blieben viele von ihnen ohne Einkommen und ohne Chance, sich von der Krise zu erholen. Nach Schätzung von zivilgesellschaftlichen Hilfsorganisationen haben 70 Prozent der erwerbstätigen Asylsuchenden bei Ausbruch der Pandemie ihre Arbeit und mithin ihren Lebensunterhalt verloren. Viele Privatpersonen und Organisationen haben sich zusammengetan, um den Familien der Geflüchteten durch Verteilung von Nahrungsmitteln und Medikamenten zu helfen. Es ist jedoch klar, dass dies nur eine vorübergehende und keine nachhaltige Lösung ist.

Eine überraschende Entwicklung, die die Situation von Asylsuchenden in Israel verbessern könnte, war das Urteil des Obersten Gerichtshofs Ende April 2020 zugunsten einer vor drei Jahren von Menschenrechtsorganisationen eingereichten Klage gegen das «Einlagen-Gesetz» – ein empörendes Gesetz, das Asylsuchenden davor abschrecken soll, nach Israel zu kommen. Das Gesetz schrieb Arbeitgeber*innen vor, 20 Prozent des eh sehr niedrigen Nettogehalts von Asylsuchenden vom Lohn abzuziehen und in einen Einlagenfonds einzuzahlen. Die Asylsuchenden sollten dieses Geld erst erhalten, wenn sie Israel wieder verlassen. Dabei handelt es sich um eine besonders zynische Anwendung der Rentenversicherungspflicht in Israel, die Asylsuchende zur Ausreise «ermuntern» soll. Der Oberste Gerichtshof gab der Klage statt und ordnete an, das im Einlagenfonds befindliche Geld sofort an die betroffenen Asylsuchenden auszuzahlen. Fraglos verbessert dieses Urteil die sehr schwierige ökonomische Situation der Asylsuchenden, unter der sie seit Jahren leiden, aber es deckte auch die dem zugrunde liegende bedenkliche Schwachstelle im demokratischen System auf.

Eine weitere Blöße der israelischen Demokratie zeigte sich in Bezug auf die arabische Bevölkerung, die generell von den offiziellen Stellen vernachlässigt wird, aber in der Krise ganz auf sich allein gestellt war. Die mangelnde Zuweisung von finanziellen Mitteln macht es den Kommunalbehörden in arabischen Ortschaften unmöglich, sich auf den Notfall vorzubereiten, öffentliche Räume zu desinfizieren, COVID-19-Infektionen zu diagnostizieren und damit infizierte Menschen zu isolieren oder sich um diese zu kümmern. In vielen arabischen Ortschaften gibt es nur private medizinische Einrichtungen, die nicht über das erforderliche Wissen oder die Mittel verfügen, um Tests auf COVID-19-Infektionen durchzuführten und infizierte Menschen unter sterilen Bedingungen zu transportieren. Ein weiteres Hindernis stand der arabischen Bevölkerung im Weg, als die Pandemie ausbrauch: die Sprachbarriere, die generell arabischsprachige Menschen diskriminiert und ihre Integration in die israelische Gesellschaft erschwert. In der Krise erwies sie sich als kritisch: Die Anweisungen des Gesundheitsministeriums wurden nur mit großer Verspätung ins Arabische übersetzt, was die Möglichkeiten der arabischsprachigen Bevölkerung, sich zu schützen, beeinträchtigte. Generell glauben hier viele, dass die Entscheidungsträger und Verantwortlichen wahrscheinlich ein Fünftel der israelischen Bevölkerung einfach vergessen haben, was sie bereits auch vorher schon immer wieder getan haben.

Am 1. Mai, der besonders von der arabischen Bevölkerung in Israel gefeiert wird, fanden in vielen Ortschaften Demonstrationen statt, um gegen diese Benachteiligung zu protestieren. Außerdem erklärten die arabischen Kommunalbehörden einen Streik, um darauf aufmerksam zu machen, dass sie nur 1,7 Prozent der staatlichen «Corona-Hilfe» für Kommunen erhalten haben. Nach Angaben des Komitees der arabischen Kommunen ist die Arbeitslosigkeit in arabischen Ortschaften von 13 auf 40 Prozent gestiegen, verglichen mit 25 Prozent in der jüdischen Gesellschaft. Auch hier hat die Corona-Krise ein besonders Schlaglicht auf die jahrelange Vernachlässigung der arabischen Bevölkerung durch die israelische Regierung geworfen.

Die Zivilgesellschaft lebt

Obwohl die Polizei gemäß der Notstandsverordnungen und Vorgaben des Gesundheitsministeriums befugt ist, öffentliche Versammlungen aufzulösen und dazu verhältnismäßige Gewalt einzusetzen, ist eines der überraschendsten Phänomene seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie das Wiederaufleben der Zivilgesellschaft in Israel. Trotz (oder eventuell gerade wegen) des Lockdowns und der Notstandsverordnungen fanden seit Beginn der Krise Dutzende Demonstrationen statt.

Es begann mit dem Protest der schwarzen Fahnen. Mit dem Slogan «Rettet die Demokratie» fuhren rund 200 Demonstrant*innen langsam mit ihren Autos zur Knesset in Jerusalem, um gegen die antidemokratischen Maßnahmen, die unter dem Deckmantel der Corona-Pandemie ergriffen wurden, zu protestieren. Nach der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags zwischen Gantz und Netanjahu schlossen sich Hunderte von Menschen diesen Protesten an. Die Demonstrationen fanden auf öffentlichen Plätzen statt, wobei die Demonstrant*innen jeweils zwei Meter voneinander entfernt standen und Masken trugen.

Zu den politischen Protesten gesellten sich Demonstrationen gegen die spärliche sozioökonomische Unterstützung von staatlicher Seite. Zusätzlich zu vielen kleineren, fast täglich stattfindenden Kundgebungen kam es am 2. Mai 2020 zu einer Großdemonstration unter dem Motto «Das Volk gegen die Abgehobenen», an der sich Gewerkschaften, Selbstständige, Unternehmer*innen, Erwerbslose, Betreiber*innen von Kindergärten, Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen, Mieter*innen und in Sozialwohnungen lebende Menschen, Menschen mit Behinderung, Gastronom*innen, Künstler*innen und andere beteiligten. Sie forderten aktive staatliche Unterstützung zur Rettung von Millionen von Israelis, die infolge des von der Regierung zur Eindämmung der Pandemie verhängten Lockdowns schwere wirtschaftliche Not leiden.

Überlebenskünstler Netanjahu

Die Vielzahl von Demonstrationen scheint jedoch auch die Risse in der israelischen Gesellschaft widerzuspiegeln, der es schwerfällt zu entscheiden, welche Ungerechtigkeit zuerst bekämpft werden soll. Wie bei der großen sozialen Bewegung im Jahr 2011, die in Reaktion auf die hohen Immobilienpreise in Israel entstand und sich zu einer Bewegung gegen die allgemeine wirtschaftliche und soziale Situation in Israel ausweitete, scheint der kleinste gemeinsame Nenner der Proteste auch heute wieder die Sorge ums Geld zu sein. Damals wie heute ist Netanjahu Premierminister, und viele der Demonstrant*innen richten ihre Kritik oft mehr indirekt als direkt gegen ihn – wie bei den Protesten im Jahr 2011, als ständig gewarnt wurde: «Ja nicht politisch sein», um die Bewegung nicht zu spalten. Ironischerweise war es eine politische Geste, die die damaligen Proteste befriedete: das Abkommen über die Freilassung des von der Hamas gefangengehaltenen israelischen Soldaten Gilad Shalit nach fünf Jahren endloser Verhandlungen. Der gesellschaftliche Konsens, der auf Shalits Freilassung folgte, bedeutete das Ende der Protestbewegung und half Netanjahu, seine Position als Regierungschef auf weitere neun Jahre zu festigen.

Erfahrene Linke, die dem Entfesselungskünstler Netanjahu beim Entkommen aus unmöglichen Situationen immer wieder zuschauen mussten, vermuteten bereits, dass sich der «Magier» auch dieses Mal wieder von den beschwerlichen Fesseln der Demokratie befreien würde. Nachdem ihm das wieder einmal gelungen ist, stellt sich heute leider nur die Frage, wie schlimm die Fesseln dabei beschädigt werden würden.

Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin

Tali Konas ist Projektmanagerin im Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

Autor:in

Tali Konas ist Content Editorin für die RLS-Website